Tichys Einblick
Demokratie zum Abgewöhnen

Wie man demokratische Konkurrenz mittels Monster-Bürokratie verhindert

Wolfgang Schlage schildert den Bürokratieberg, der vor der Anmeldung einer Partei zur Aufstellung der Kandidaten für die Bundestagswahl steht. Kein Wunder, dass er den Eindruck kriegen muss, das ist ein Abschreckungspaket. Zur Demokratie trägt es jedenfalls nichts bei, im Gegenteil.

© Getty Images

Aus Entsetzen über die politische Richtung unseres Landes engagiere ich mich seit einiger Zeit parteipolitisch. Ohne es aktiv anzustreben (niemand anders wollte es machen), bin ich als Folge einer der Landesvorsitzenden der LKR geworden. Nun habe ich die Aufgabe, die Aufstellung der Kandidaten für die Bundestagswahl zu organisieren.

Gesetzgeber und Partei verlangen, dass dies „demokratisch“ geschehe und haben eine Fülle von Vorschriften und Formularen erstellt, die das garantieren sollen. Das sieht dann so aus:

Formulare der Partei

Vom Bundesvorstand der LKR erhielt ich folgende Handreichungen:

  1. Information über die einzuhaltenden Fristen (eine Seite),
  2. eine formal korrekte Einladungsvorlage für die Landesliste (eine Seite),
  3. eine formal korrekte Einladungsvorlage für eine Wahlkreisaufstellung (eine Seite),
  4. ein Musterprotokoll für die Aufstellungsversammlung der Landesliste (vier Seiten),
  5. ein Musterprotokoll für die Aufstellungsversammlung eines Wahlkreises (drei Seiten).

(Es muss absolut sichergestellt werden, dass die Protokolle den Anforderungen der behördlichen Wahlleiter entsprechen, sonst gibt es keine Wahlzulassung. Deshalb müssen die Protokolle genaue Vorgaben einhalten.)

  1. Schließlich: Die Wahlordnung der LKR (neun Seiten).
Formulare der Behörden

Außerdem wurde ich darauf hingewiesen, unbedingt die Anforderungen der Landes- und Kreiswahlleiter einzuhalten und mich dort nach den korrekten Formvorschriften zu erkundigen. Ich erhielt von den Wahlleitern folgende Unterlagen:

  1. Anlage 13 – Kreiswahlvorschlag,
  2. Anlage 15 – Zustimmungserklärung für Bewerber eines Kreiswahlvorschlages,
  3. Anlage 16 – Bescheinigung der Wählbarkeit für die Wahl zum Deutschen Bundestag,
  4. Anlage 17 – Niederschrift über die Mitglieder-/Vertreterversammlung zur Aufstellung des Wahlkreisbewerbers,
  5. Anlage 18 – Versicherung an Eides statt,
  6. Anlage 20 – Landesliste,
  7. Anlage 22 – Zustimmungserklärung und Versicherung an Eides statt zur Parteimitgliedschaft für Bewerber einer Landesliste,
  8. Anlage 23 – Niederschrift über die Mitglieder-/Vertreterversammlung zur Aufstellung der Bewerber für die Landesliste,
  9. Anlage 24 – Versicherung an Eides statt.

Die Landeswahlleitung fügte hinzu: „Ergänzend füge ich Ihnen unsere Vordrucke zur Anforderung des gesiegelten Formblattes zur Sammlung von Unterstützungsunterschriften (Anlage 14 für Kreiswahlvorschläge / Anlage 21 für die Landesliste) bei, mit welchen Sie die Formblätter nach Aufstellung der Kandidierenden bei der jeweiligen Kreiswahlleitung bzw. beim Landeswahlleiter abfordern können.“

Online-Formulare

Zudem erfuhr ich, dass es viel besser sei, ich würde mich auf dem Kandidatenportal des Bundeswahlleiters einloggen, um die dort vorhandenen Onlineformulare zu verwenden. Dafür musste ich mich siebenmal mit sieben verschiedenen Nutzernamen und sieben verschiedenen Passwörtern einloggen, siebenmal das Passwort ändern, mir das jeweilige neue Passwort und den jeweiligen Nutzernamen siebenmal notieren, und schon war ich korrekt registriert. Daraufhin musste ich mich nur noch mit den Online-Formularen selbst vertraut machen.

Wer wo was wann?

Die Formulare sind das eine, aber welche Formulare sind zu welchen Anlässen wo einzureichen? Und wer, wann, wo und mit welchen Angaben muss die verschiedensten Formulare unterzeichnen? Bei einigen Formularen wurde mir bedeutet, dass Name und Vorname nicht ausreichten, sondern dass man alle Vornamen der Geburtsurkunde bzw. des Passes angeben müsse, zusätzlich zum „gewöhnlich verwendeten Vornamen“, bei anderen Formularen schien das aber nicht nötig. 

Nach all dem fand ich ein Formular, auf dem nach einer Aufstellungsversammlung zusätzlich zu dem von Protokollführer, Sitzungsleiter und mir zu unterzeichnendem Protokoll, welches ja schon feststellt, dass wir gesetzeskonform vorgegangen sind, noch einmal zwei Personen eidesstattlich versichern müssen, dass die Wahl auch korrekt abgelaufen sei. Es fehlt auch nicht der freundliche Hinweis, dass Falschangaben hier eine Gefängnisstrafe von einem Jahr nach sich ziehen könnten.

Als jemand, der keine jahrelange Verwaltungserfahrung hat, brauchte ich ungefähr eine Woche, um die Dinge zu verstehen, die nötigen Ordner im Computer und der wirklichen Welt anzulegen, die Formulare herunterzuladen, auszudrucken, Zweifelsfragen mit den Behörden zu klären und schließlich die Formulare mit meinen handschriftlichen Anmerkungen zu versehen. Dann musste ich die anderen Parteimitglieder informieren, welche Formulare es gibt, welche sie wo zu unterzeichnen hätten und mit welchem Namen. Insgesamt brauchte ich für die Vorbereitung der Aufstellungsversammlung wahrscheinlich zwei Wochen: nicht verbracht mit Politik, nicht verbracht mit Demokratie, sondern verbracht mit Papier.

Unterschriften-Rodeo

Während der Aufstellungsversammlung wurde, wie vorgeschrieben, ein Protokoll angefertigt. Wenn man keinen portablen Drucker dabei hat – große Parteien haben an dieser Stelle ein Versammlungssekretariat, das im Hintergrund den Papierkrieg führt –, muss man die Sache mit nach Hause nehmen, ausdrucken, und dann die Formulare im Rundbrief-Verfahren an vier oder fünf Leute schicken und hoffen, dass alle an der richtigen Stelle unterschreiben und es dann zurück schicken. Damit bin ich noch beschäftigt.

Es ist mir nach all dem tatsächlich gelungen, die als nächstes benötigten Unterschriften-Formulare von der Behörde zu bekommen, allerdings nicht ohne einige Hinweise, was an meinen Einreichungen noch fehlerhaft sei. Ein Problem war etwa, dass ich die Angabe der Partei der Lesbarkeit wegen in Blockbuchstaben geschrieben hatte, was die Kreiswahlleitung als „Großbuchstaben“ interpretierte. Ihre Antwort: Die Großschreibung entspräche nicht der Schreibung des Namens in der Parteisatzung. Ich möge doch noch einmal den korrekten Namen der Partei mit der richtigen Groß- und Kleinschreibung nachreichen. Ja, jeder kleine Fehler kann die Wahlzulassung gefährden, das weiß ich inzwischen.

Demokratie zum Abgewöhnen

Alle diese Vorschriften haben vermutlich ihre irgendwie guten Gründe. Sie sollen garantieren, dass jedes Mitglied einer Partei eine demokratische Chance hat, ihre Meinung und ihre Person einzubringen.

Aber kann ein solches Mikro-Management wirkliche Demokratie herbeizaubern?

Erstens sind diese Vorschriften dazu geeignet, normale Leute abzuhalten, sich überhaupt politisch zu engagieren. Wer kann sich diese Zeit nehmen, wenn er im Beruf steht oder eine Familie zu versorgen hat? Wie soll jemand, der sich mit Papier- und Behördenkram nicht so auskennt, hier überhaupt eine Chance haben? Und schließlich: Wer, der nicht ein Demokratiebessener oder Masochist ist, tut sich so etwas Demütigendes an? Meine Bekannten wollen von Parteipolitik nichts wissen und bedauern oder verachten die, die sich das antun. Diese Vorschriften geben ihnen Recht.

Zum zweiten sind diese Anforderungen auf Dauer nur durch professionelle Teams zu gewährleisten. Die Fülle der Vorschriften führt zwangsläufig zur Ausbildung einer professionellen Führungsschicht mit Herrschaftswissen. Diese Führungsschicht weiß dann nicht nur ganz genau, „wie Demokratie geht“, sondern auch, wie man die Regeln und Formalien zum eigenen Vorteil einsetzt. Das einfache Parteimitglied hat keine Chance. Dies ist das Gegenteil von Demokratisierung. In den heutigen Parteien ist dies klar zu sehen.

Zum dritten zieht diese Art der Demokratie Personen an, die gern tricksen und in der Politik die Chance sehen, eine Karriere auf dieser Fähigkeit aufzubauen. Eine Kaste von Berufspolitikern entsteht, die wissen, wie man „das Spiel spielt“ und wie man dort Erfolg hat. Kenntnisse, wie man „das Spiel spielt“ sind unter diesen Umständen erheblich wichtiger als Kenntnisse darüber, wie man ein Land oder einen Staat führt. Unsere Politik sieht entsprechend aus.

Und schließlich: Es bildet sich eine zynische Haltung gegenüber der Institution Demokratie aus. Wenn wie jetzt angeblich demokratische Verfahren dazu benutzt werden, die Demokratie auszuhebeln, wird die Bevölkerung anfangen, die Demokratie zu verachten. Auch das ist zu beobachten.

Diese Art der Demokratie ist geeignet, die Bürger abzuhalten, sich demokratisch zu beteiligen.

Es geht nicht gegen die Behörden

Ich möchte betonen, dass die Behörden, mit denen ich zu tun hatte, immer freundlich und zuvorkommend waren. Meine Beschwerden richten sich nicht gegen diese Personen; sie sind selbst Gefangene des Systems. Anklagen aber möchte ich die herrschenden Parteien und deren Führungskaste, die dank eines riesigen Apparates gut mit diesen bürokratischen Hindernissen fertig werden und die kein Interesse haben, etwas zu ändern. Ihnen nutzt dies, weil es ihnen inner- und außerparteilich unliebsame Konkurrenten vom Hals hält.

Die LKR in Hamburg, für die ich zuständig bin, wird trotz dieses bürokratischen Spießrutenlaufens antreten. Aber ob ich mir das noch einmal antun werde? Das möchte ich bezweifeln.

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