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Schulische Inklusion, ein weiterer Irrtum

Weder in ihrem Wortlaut noch in ihrem Sinngehalt enthält die UN-Behindertenrechtskonvention eine Verpflichtung zu einer Einheitsschule, einer „Schule für alle“. Sonderschulen sind mit ihrem Grundanliegen sehr wohl vereinbar.

© Getty Images

Nach einer zunächst euphorischen Aufnahme des Inklusionsgedankens ist jetzt Ernüchterung eingetreten. Selbst in den Medien, die jegliche Kritik als ewig gestrig gebrandmarkt hatten, scheint die Wirklichkeit nun angekommen zu sein. Über schulische Inklusion wird offener berichtet und diskutiert, gerade in den letzten Wochen, auch ausgelöst durch den Film „Ich. Du. Inklusion.“ Über zweieinhalb Jahre lang hat der Autor Thomas Binn eine Schulklasse filmisch begleitet und in akribischer Kleinarbeit über die Realität vor Ort berichtet – sehr gelassen und erfreulich unideologisch. Der Zuschauer spürt, wie sehr er sich für das einzelne Kind und die Lehrkräfte interessiert, die vor schwierige, mitunter kaum lösbare Aufgaben gestellt werden.

Der Film zeigt, wie eine gemeinsame Beschulung gelingen und woran sie scheitern kann. Eindrucksvolle Szenen gibt es viele, besonders springen jene ins Auge, die auf große Schwierigkeiten verweisen. „Es fehlt an allem“, resümiert eine Lehrerin gleich zu Beginn, „die Bedingungen haben sich verschlechtert.“ Oft wechselt die Lehrerin zwischen unterschiedlichen Tätigkeiten hin und her, immer im Bemühen, jedem einzelnen Kind gerecht zu werden. Häufig gelingt das nicht: „Ich müsste immer an der Seite dieses Schülers sein, doch dann habe ich für alle anderen keine Zeit mehr.“ Ein anderes Kind ist sozial isoliert und lernt kaum etwas, es findet keinen Anschluss. „Wir müssen ihn beschulen“, sagt die Lehrerin, „obwohl er sich noch auf dem Entwicklungsstand eines Dreijährigen befindet“. Am hohen Engagement der Lehrkräfte liegt es ganz sicher nicht. „Die Lehrerin ist gut und schlau, aber mit 22 Schülern klappt das einfach nicht“, so eine Schülerin. Auch die Eltern und Mitschüler bemühen sich sehr. Dennoch bleibt der durchschlagende Erfolg aus, und der Schulleiter stellt nüchtern fest: „Eltern schicken ihre Kinder wieder vermehrt auf Förderschulen.“

„Wenn Anspruch auf Wirklichkeit trifft“, das ist der bezeichnende Untertitel des Films. Er bezieht sich auf eine ganz normale Schule, in einem kleinen Ort am Niederrhein, fernab von sozialen Brennpunkten. Eine markante Szene findet sich gegen Schluss: Ein Mädchen wird ungeduldig und ein wenig ärgerlich. Zu ihrem Mitschüler sagt sie: „Lass mich doch endlich mal meine Sachen machen, ich will mich auch mal um mich selbst kümmern.“

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Es entsteht so ein bemerkenswerter Kontrast zu der seit Jahren propagierten Idylle einer inklusiven Beschulung. Alle Kinder sollen im Idealfall eine Klasse besuchen, zum Vorteil jedes Einzelnen. Die Vielfalt der Schüler gilt als bereichernd. Je heterogener die Klassen sind, desto besser, damit sich die unterschiedlichsten Potenziale optimal entfalten können. Die Schüler helfen sich gegenseitig, die Leistungsstärkeren lernen von den Schwächeren und umgekehrt. Jedes Kind wird akzeptiert, anerkannt und in seiner Einzigartigkeit gewürdigt, so wie es ist – ungeachtet der Probleme und Schwierigkeiten, die es hat. Behinderung gilt als Teil einer äußerst breit gestreuten menschlichen Vielfalt. Sie soll soweit wie möglich an Gewicht und Bedeutung verlieren. In der Absicht, dass am Ende gar nicht mehr zwischen Schülern mit und ohne Behinderung unterschieden wird.

Die Idealisierungen sind gewaltig. Unter dem Begriff der Inklusion versammeln sich „die größten moralisch-politischen Ansprüche und die höchsten pädagogischen Versprechen‟, wie der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth sehr treffend feststellt. Ein „Neues Zeitalter der Pädagogik“ soll entstehen, in einem „humanen Bildungssystem“, das sich erstmalig als bildungsgerecht erweist. Eine radikale Umkehr wird gefordert. Hubert Hüppe, ehemaliger Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, sieht in Sonderschulempfehlungen eine Menschenrechtsverletzung. Sonderschulen müssten geschlossen werden: „Förderschulen produzieren lebenslange Unterhaltsempfänger“. Gäbe es sie nicht, würde der Lebenslauf der Kinder anders verlaufen. Denn das nicht-inklusive Erwachsenenleben sei eine Folge des schulischen Aussortierens.

Die inklusive Schule soll deshalb zu einem Vorboten einer inklusiven Gesellschaft werden. An blumigen Worten mangelt es nicht. Die UN-Behindertenrechtskonvention muss als ein „Meilenstein“ erkannt werden, „der zugleich Grenzstein ist zum Übergang in eine neue Welt“, meint der Kölner Sonderpädagogikprofessor Walter Dreher. Andere sprechen von einem „Olymp“ der historischen Entwicklung und schwärmen von einer Inklusionskultur, die zu einem „naturgegebenen“ Zustand führt. Mitunter drängt sich der Eindruck auf, dass sich manche Wissenschaftler in einen Zustand der Verzückung schreiben.

Schülern und Lehrern wäre aber am meisten geholfen, wenn der wünschenswerte Weg zu einer stärkeren gemeinsamen Beschulung umsichtig eingeschlagen wird. Und zwar fernab aller ideologischen Überhöhungen, unter sorgfältiger Beachtung dessen, was der gesellschaftliche Auftrag der Schule ist, was sie zu leisten vermag und was nicht. Die Erwartung an Lehrer, alle Aufgabe lösen zu können, ohne Belastbarkeits- und Erträglichkeitsgrenzen, müsste dann allerdings aufgegeben werden. Und es müsste anerkannt werden, dass mit einer chronischen Überforderung vieler Lehrkräfte niemandem gedient ist. Das bestätigt die alltägliche Erfahrung. Und der Film „Ich. Du. Inklusion“ zeigt es ebenfalls.

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Vielerorts mangelt es an den notwendigen personellen und sächlichen Rahmenbedingungen, wie eine im Mai 2017 erschienene repräsentative Lehrerbefragung des Forsa-Instituts nachweist. Sie belegt, dass die Verhältnisse seit 2015 nahezu unverändert geblieben sind. Es fehlt an ausgebildeten Sonderpädagogen, viele Stellen sind überhaupt nicht sonderpädagogisch besetzt. Die einzelnen Klassen erhalten nur eine unzureichende zusätzliche Unterstützung. Spezialisierte Lehrer springen zwischen Klassen und Schulen hin und her, ohne ausreichende Möglichkeit, sich intensiv auf die Schüler einzulassen. Für Absprachen unter Lehrkräften ist häufig keine Zeit, Fortbildungen werden nur unzureichend angeboten. Von einer Doppelbesetzung, die Gewerkschaften und Lehrerverbände fordern, kann kaum die Rede sein. Eine Veränderung kostet viel Geld. Viel mehr, als bisher – wider besseren Wissens – eingeräumt wurde.

Inzwischen wird die Forderung nach einer angemessenen schulischen Ausstattung immer lauter erhoben. Verständlicherweise. Denn Lehrerinnen und Lehrer benötigen ordentliche Arbeitsbedingungen, damit sie die neu gestellten Aufgaben bewältigen können. Bei besserer Ausstattung können viele schulische Probleme gelöst werden, die gegenwärtig noch überfordernd sind und letztlich zum Scheitern führen. Die Grenzen dessen, was eine gemeinsame Beschulung vermag, weiten sich dadurch aus.

Ein grundliegender Irrtum währt jedoch fort. Er besteht in der illusionären Hoffnung, dass das große Projekt einer totalen Inklusion unter guten Bedingungen doch noch erfolgreich verlaufen kann. Ihr letztendlicher Bezugspunkt ist die viel beschworene „Schule für alle“, die auf jegliche institutionelle Differenzierung verzichtet. Dazu müssten nicht nur sämtliche Sonderschulen aufgelöst werden, sondern auch alle Gymnasien – denn nur so kann eine Einheitsschule zustande kommen. Als Begründung dafür werden die Menschenrechte angeführt („Inklusion als Menschenrecht“). Eine schulische Spezialisierung, jede Art von Sonderbeschulung gilt dementsprechend als gravierende Rechtsverletzung, als ein schädigender und entwürdigender Akt der Exklusion, der unterbunden werden muss.

Aber jede Art der Beschulung muss sich nach ihren Erfolgen fragen lassen. Auch die inklusive Beschulung. Davor können keine hehren Ideale schützen, keine moralischen Postulate, die für alternativlos erklärt werden. Dem lapidar vorgebrachten Hinweis, die Überlegenheit der inklusiven Beschulung sei längst bewiesen, widerspricht die empirische Forschung. Die Forschungslage ist alles andere als eindeutig:  Zwar findet sich eine Fülle von Ergebnissen, die die Vorteile einer gemeinsamen Beschulung bestätigen. Aber eben auch solche, die das Gegenteil belegen. Vor allem neue amerikanische Untersuchungen verweisen auf die Grenzen der inklusiven Beschulung, selbst wenn sehr günstige äußere Bedingungen vorliegen. „Leider werden sie hierzulande kaum zur Kenntnis genommen“, sagt Marion Felder, eine deutsch-amerikanische Inklusionsforscherin.

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Gänzlich lebensfremd ist die Annahme, Kinder mit schweren Verhaltensstörungen könnten durchgängig gemeinsam beschult werden. Weltweit gibt es keine überzeugenden Modelle dafür, wie eine im Frühjahr vom Verband Bildung und Erziehung veröffentliche Expertise erneut bestätigt („Welchen Förderbedarf haben Kinder mit emotional-sozialen Entwicklungsstörungen?“). Dennoch haben sich Bundesländer wie Bremen dafür entschieden, einen solchen Weg einzuschlagen. Thüringen will dem folgen: Es hat sich soeben die vollständige Auflösung aller Schulen für diese Personengruppe auf die Fahnen geschrieben.

Differenzierungen sind aber notwendig: Für viele Kinder kann eine gemeinsame Beschulung ertragreich sein, für andere ist sie es nicht. Spezielle Einrichtungen sind auch zukünftig im Sinne des Kindeswohls unverzichtbar. Wahlmöglichkeiten müssen erhalten bleiben, damit jedes Kind das bekommen kann, was für seine Entwicklung nötigt ist. Lehrer und Eltern wissen das seit langem: Das kommt in der bereits genannten Forsa-Studie ebenso zum Ausdruck wie in verschiedenen Elternbefragungen der letzten Zeit. Mit riesiger Mehrheit wird eine Schließung sämtlicher Förderschulen abgelehnt.

Die UN-Behindertenrechtskonvention wird häufig falsch interpretiert. Sie ist keine Konvention, die für eine Gemeinsamkeit um jeden Preis und eine bunte Vielfalt der Lebensverhältnisse plädiert. Ihre Absicht ist eine andere: Die Rechte von Menschen mit Behinderung sollen gestärkt werden, das bezeugt bereits ihr Name. Nur wenn sich ihre Lern- und Lebenssituation wirklich verbessert, hat sie ihr Ziel erreicht. Daran muss sie sich erweisen. Weder in ihrem Wortlaut noch in ihrem Sinngehalt enthält sie eine Verpflichtung zu einer Einheitsschule, einer „Schule für alle“. Sonderschulen sind mit ihrem Grundanliegen sehr wohl vereinbar. Auch wenn das unter Anrufung der Menschenrechte bestritten wird. Im Hochgefühl der moralischen Überlegenheit und mit einer Vehemenz, die selbst moderaten Widerspruch als illegitim erscheinen lässt.

Hinweise:

VBE Einstellung Lehrkräfte Inklusion Mai 2017

Expertise Bernd Ahrbeck 2017 – Förderschwerpunkt Em-Soz. Entwicklung

Forschungsbericht Elternbefragung NRW (FDP) 2015

Bernd Ahrbeck, Dr. phil., Erziehungswissenschaftler, Diplom-Psychologe, Psychoanalytiker, Professor für Psychoanalytische Pädagogik an der International Psychoanalytic University (IPU-Berlin) seit 2016.

Professor für Rehabilitationswissenschaften mit dem Schwerpunkt Verhaltensgestörtenpädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin (1994 -2016).

Arbeitsschwerpunkte: Schulische Inklusion, Psychoanalytische Pädagogik, empirische Bildungsforschung.

Zahlreiche Buchveröffentlichen zur Inklusion, zu allgemeinen Erziehungsfragen und der Pädagogik bei Verhaltensstörungen.

Zuletzt:

Inklusion. Eine Kritik; Kohlhammer: Stuttgart (2016; 3. Auflage)

Umgang mit Behinderung; Kohlhammer: Stuttgart (2017; 3. Auflage)