Tichys Einblick
Verschiebung des Diskurses

Löst Putin unter Europas Linken einen Rechtsruck aus?

Ob Energie- oder Sicherheitspolitik: Was gestern noch als „rechts“ verschrien war, gilt heute als Allgemeinplatz. Steht uns eine langfristige Verschiebung des Diskurses bevor? Konservative sollten vorsichtig sein, bevor sie „Hurra“-Rufe anstimmen. Von David Engels

Die Linke definiert sich neu: Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht sitzt im Bundeswehrpanzer Probe.

IMAGO / Björn Trotzki

Die russische Invasion scheint an einem Tag mehr bewirkt zu haben als alle konservativen Denker und Politiker in den letzten zwei Jahrzehnten. Viele Themen und Positionen, die vor einer Woche noch in Politik, Medien und Expertengremien als „rechts“ verschrien waren, sind über Nacht zu Allgemeinplätzen geworden, die mit größter Natürlichkeit von allen Dächern schallen.

Abschied von der Energiewende

Nahezu alle Parteien hatten bislang die sogenannte „Energiewende“ als „alternativloses“ Engagement gegen den Klimawandel gefeiert: Deutschland konnte sich nicht schnell genug seiner angeblich „schmutzigen“ Energiequellen wie Atom- und Kohlestrom entledigen – da waren regelmäßige Blackouts sowie die Abhängigkeit vom russischen Gas kleinere Kollateralschäden, die man gerne in Kauf nahm, um das „Klima zu retten“. Heute ist nicht nur die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 auf die griechischen Kalenden verschoben, sondern auch eine erste zaghafte Überlegung geäußert worden, ob man denn nicht vielleicht „ausnahmsweise“ die zwar abgeschalteten, aber noch funktionsfähigen Reaktoren und Kohlewerke wieder in Betrieb nehmen sollte.

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Ähnlich steht es mit der Bundeswehr. Während alles, was von nah oder fern bislang mit einem organisierten Dienst an der Waffe zu tun hatte, aufgrund der „besonderen deutschen Vergangenheit“ als politisch hochgradig inakzeptabel galt, und die Bundeswehr (mit bezeichnenden Ausnahmen wie dem Kampf gegen rechts, der Forcierung von Frauenquoten und der umstandsgerechten Umgestaltung von Panzerfahrzeugen und Uniformen) systematisch heruntergewirtschaftet wurde, sind es nun jene selben Politiker, die noch vor ein paar Wochen eine weitere Budgetkürzung der Bundeswehr forderten, die ersten, welche entdecken, dass eine Armee in der modernen Welt doch gewisse Nutzen bringen könnte.
Wiederentdeckung der Maskulinität und des Patriotismus

Eng damit verbunden ist das Umdenken im Bereich der Geschlechterbilder. Maskulinität – man wurde nicht müde, es uns immer wieder einzutrichtern – ist „toxisch“, muss dekonstruiert und gebrochen werden, um endlich jene friedliche und egalitaristische Utopie zu errichten, deren Realität linksgrüne Erzieherinnen doch bereits so erfolgreich in deutschen Kitas umgesetzt haben. Nun aber entdecken Journalisten, Politiker und Analysten urplötzlich, dass Gesprächskreise, Rollenspiele, Geschlechtertausch und marxistische Selbstkritik wenig hilfreich gegen physische Aggression sind, und schwenken auf eine Verherrlichung des männlichen Heldentums der Ukrainer und ihres Präsidenten ein, die nur noch staunen lässt.

Selbst der „Patriotismus“, bislang auf der routiniert eingeseiften Eskalationsrutschbahn des deutschen Journalismus nur Halbsätze von den Begriffen Nationalismus, Faschismus, Nazismus und Völkermord entfernt, wird in den höchsten Tönen gelobt, wie ohnehin genau jene nationale Souveränität, die man bis zum Tag vor der russischen Invasion noch am liebsten abschaffen wollte, um angeblichen „Autokraten“ in Polen und Ungarn keine Möglichkeit mehr zu geben, ihrem Land die Beglückung durch die „europäischen Werte“ vorzuenthalten, nunmehr zum höchsten Gut der Demokratie erklärt wird.

Selbst Polen und Ungarn werden rehabilitiert

Dazu gehört dann auch die en passant als „ganz natürlich“ vorgestellte Situation, dass gerade nur Frauen und Kinder die Ukraine verlassen und am liebsten so nahe wie möglich an der geliebten Heimat verbleiben wollen, um rasch wieder nach Hause zurückzukehren, während die Männer gar nicht erst die drakonischen Militärgesetze gebraucht hätten, um sich freiwillig zum Dienst im Heer zu melden: Merkt denn niemand den himmelschreienden Gegensatz zum bislang üblichen Flüchtlingsdiskurs, wo es als normal präsentiert wurde, dass es im Wesentlichen nur junge und wehrfähige Männer waren, welche die angeblichen „Risikogebiete“ (wie etwa Algerien oder Marokko) verließen, um sich einige tausend Kilometer weiter ebenso behaglich wie dauerhaft in Deutschland einzurichten?

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Selbst Polen und Ungarn, bislang die Schmuddelkinder der EU, werden in den Leitmedien aufgrund ihrer historisch verankerten Skepsis gegenüber Moskau auf einmal (fast schon posthum) rehabilitiert und für ihre selbstlose Solidarität mit bald einer halben Million Flüchtlingen in höchsten Tönen gelobt. Gerade Polen wird dabei zum Musterfall stilisiert, da das bislang doch angeblich so fremdenfeindliche Land, wie plötzlich entdeckt wird, in den letzten Jahren nahezu zwei Millionen ukrainische Gastarbeiter ohne wesentliche politische, wirtschaftliche oder kulturelle Missstimmungen aufgenommen und erfolgreich integriert hat. Und (man höre und staune!): Dieser Erfolg sei, wie die Leitmedien wissend erklären, nicht zuletzt eine Folge der Tatsache, dass die größere historische, religiöse, sprachliche und kulturelle Nähe zwischen Polen und der Ukraine wie auch die hohe Qualifikation der ukrainischen Gastarbeiter eine solche Integration „natürlich“ wesentlich vereinfache – eine vor einer Woche noch unsagbare kulturalistische These.

„Timeo Danaos et dona ferentes“, wird man da wohl denken: Wie ehrlich ist jene abrupte identitätspolitische Kurswende nicht nur der deutschen linksliberalen Eliten nun einzuschätzen? Handelt es sich nur um eine vorübergehende Erscheinung oder eine langfristige Entwicklung?

Paradigmenwechsel zu einer kulturpatriotisch legitimierten Politik

Auf der einen Seite wird man tatsächlich unterstellen müssen, dass gewisse ideologische Positionen sich durch ihre konkrete Realisierung so diskreditiert haben, dass die herrschende Elite nur allzu dankbar für einen äußeren Anlass sein dürfte, diskrete Kurskorrekturen vorzunehmen und sich dadurch geschickt der Verpflichtung zum Eingeständnis des eigenen Scheiterns zu entziehen. Die allmähliche Abwendung von der Energiewende dürfte ebenso ein Fall später Einsicht sein wie die Entscheidung zur Aufstockung der Kapazitäten der deutschen „Parlamentsarmee“, welche angesichts der zunehmenden Befürchtung nicht nur äußerer, sondern auch innenpolitischer oder EU-interner Konflikte durchaus mit einigen Hintergedanken verbunden sein könnte.

Andere Verschiebungen des Narrativs hingegen, wenn es etwa um die neuentdeckte Liebe zur polnischen und ungarischen Migrationspolitik oder um die Wertschätzung des heroischen Patriotismus der Ukrainer geht, wird man wohl als reinen Opportunismus einschätzen müssen, der spätestens dann vergessen sein wird, wenn es in einigen Jahren darum gehen sollte, der dann zur EU gehörenden Ukraine die Bedeutsamkeit von weißer Kollektivschuld und LGBTQ-Kultur zu vermitteln.

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Trotzdem ist nicht ganz auszuschließen, dass wir es zumindest teilweise mit einer langfristigeren Verschiebung des Diskurses zu tun haben. Nach den Jahrzehnten des ungebremsten wirtschaftlichen und kulturellen Liberalismus findet überall auf der Welt – von Japan, Indonesien und China über Indien, Russland und die islamische Welt bis hin nach Brasilien und Teilen der USA – ein allmählicher Paradigmenwechsel hin zu einer kulturpatriotisch legitimierten Politik statt, deren tiefere Motive (von ihrer „Ehrlichkeit“ ganz zu schweigen) zwar durchaus unterschiedlich sein können, aus der sich aber so etwas wie eine Tendenz ablesen lässt, von der auch der „alte Kontinent“ mit seinen zunehmend erstarkenden konservativen Kräften nicht verschont bleibt. Durchaus möglich also, dass auch den linksliberalen westlichen Eliten diese Tendenz nicht ganz verborgen bleibt und somit (bewusst oder unbewusst) der Versuch gestartet wird, durch eine gewisse Aufweichung der eigenen ideologischen Härte dem Gegner im Sinne der asymmetrischen Demobilisierung den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Statt genderfluider Krieger stützen jetzt hart trainierte Soldaten Berlin und Brüssel

Nun wäre es nicht nur verfrüht, sondern auch falsch, als Konservativer allzu früh in Hurra-Rufe auszubrechen und endlich eine Rückkehr zum „Common Sense“ oder gar, Gott behüte, zur angeblich „heilen“ Welt der guten alten 1980er anzunehmen. Genauso wie auch die kommunistische Partei Chinas sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zur Einsicht durchgerungen hat, dass sich ihre Macht durch den Staatskapitalismus besser als durch den maoistischen Kollektivismus garantieren lassen würde, mag es nunmehr auch der Fall sein, dass die linksliberalen Eliten ihren eigenen Kurs durch partielle Übernahme konservativer Rhetorik zu stützen versuchen, ohne dabei doch ihr faktisches Machtmonopol aufgeben oder den Grundelementen ihrer Ideologie abschwören zu wollen: Anstatt genderfluiden Kriegern sind es eben hart trainierte Soldaten, welche die Mächtigen in Berlin und Brüssel stützen; und anstatt die Zustimmung zu Globalismus, Multikulturalismus und Milliardärssozialismus durch die „Menschenrechte“ zu legitimieren, werden sie zur patriotischen Pflicht im Kampf gegen Russland (und China) heroisiert.

Ist dies ein Fortschritt, jedenfalls aus langfristiger, gleichsam universalhistorischer Perspektive? Vielleicht ist es das tatsächlich, denn so manche provisorische rhetorische Umdeutung der eigenen Ziele erzwang früher oder später dann auch eine inhaltliche Wende, und viele Schauspieler verschmelzen schlussendlich mit ihrer Rolle – nicht immer zu ihrem charakterlichen Nachteil, wie etwa Harald Schmidt beweist.

Jedenfalls scheint sich zunehmend zu bestätigen, was vor einigen Jahren nur eine vage Spekulation schien, als ich anhand der Analogien zwischen dem modernen Westen und der niedergehenden römischen Republik vermutete, dass es geschichtlich nur wenig Unterschied machen würde, ob eine „augusteische“ Revolution nun dadurch stattfände, dass eine konservative „populistische“ Opposition an die Macht käme und sich zwecks wechselseitiger Überlebensgarantie mit dem linksliberalen Deep-State arrangiere, oder ob sich die linksliberalen Eliten zunehmend konservativ gerieren würden, um einen drohenden Umsturz von rechts zu vermeiden. Wenn natürlich auch die innere ideologische (und machtpolitische) Motivation eine ganz andere ist – nach spätestens einer Generation dürfte das Resultat weitgehend identisch aussehen. Hierin liegt nicht nur eine Lektion für die Linke, sondern auch die Rechte – aber wird Letztere diese auch verstehen und beherzigen?

Professor Dr. David Engels ist Senior Analyst am Instytut Zachodni in Poznań.

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