Tichys Einblick
Thema Kernenergie

Elefant im Elfenbeinturm

Deutsche Wissenschaftsakademien schreiben Positionspapiere zu zahlreichen Themen. Doch Kernenergie ist der Elefant im Raum. Im einzigen Kernenergiedokument verschweigen Leopoldina, acatech und Akademieunion Aussagen des Weltklimarates. Ein Exkurs in die politisierte Wissenschaft. Von André D. Thess

IMAGO - Collage: TE

Der legendäre Strafverteidiger Jacques Vergès antwortete auf die Frage, warum er Potentaten wie Étienne Eyadéma verteidigt: „Wenn Sie einen Arzt treffen, der kein Blut, keinen Eiter, keine offenen Wunden sehen kann, dann hat er seinen Beruf verfehlt. Wenn Sie einen Anwalt treffen, der keine Verbrecher, keine Kriminellen und keine Diktatoren mag, ist das nicht anders.“

Kernkraftwerke sind tödlicher als offene Wunden und teuflischer als afrikanische Despoten – so könnte man zumindest glauben, wenn man öffentlich-rechtlichen Sendern zuhört. Hat Kernenergie nicht gerade deshalb eine besonders sorgfältige Verteidigung durch die Anwälte der Wissenschaftlichkeit verdient? Und wären dafür nicht die nationalen Akademien der Wissenschaften als Orte unabhängigen Denkens prädestiniert?

Das Schweigen der Akademien und die Atomstromimporte

Doch während die deutschen Wissenschaftsakademien die Öffentlichkeit zu Corona-Pandemie, Klimaschutz, Energiewende und Nachhaltigkeit auskömmlich mit Positionspapieren versorgen, herrscht zum Thema Kernenergie dröhnendes Schweigen. Dabei handelt es sich um ein Thema, welches angesichts von Energiekrise und Klimadebatten die Bevölkerung polarisiert wie kaum ein anderes.

Das Jahr 2023 entwickelt sich gar zu einem Meilenstein, der die Doppelzüngigkeit deutscher Energiepolitik besonders deutlich markiert: Während Deutschland den Atomausstieg vollzieht, macht die Kernenergie den größten Anteil der deutschen Stromimporte aus. Wäre es nicht die Aufgabe politisch unabhängiger Wissenschaftsakademien, der Bevölkerung eine wissenschaftlich fundierte Einschätzung zur Kernenergie bereitzustellen und Politikern reinen Wein einzuschenken?

Doch statt den Elefant im Elfenbeinturm zu benennen und dadurch womöglich Politiker zu verärgern, ergehen sich Akademiefunktionäre in Eigenlob. So formulierte Leopoldina-Vizepräsidentin Regina Riphahn am 9. Januar 2021 auf www.nordbayern.de in verschwurbeltem Funktionärsdeutsch: „Ich glaube, es ist sehr wichtig, bewusst zu machen, dass die Wissenschaft auf dem Stand der Kenntnis argumentiert.“ Präsident Gerald Haug sah die Leopoldina in der ZEIT vom 27. Mai 2020 gar „als das wissenschaftliche Gewissen der Republik, die unabhängigste und klügste Stimme weit und breit“ – ein Meilenstein akademischer Selbstbeweihräucherung.

Wer etwas recherchiert, stellt freilich fest, dass das Schweigen nicht perfekt ist. Es gibt tatsächlich ein einziges Akademiedokument zur Kernenergie – den sprichwörtlichen Pickel am Hinterteil des Elefanten. Es ist zwar schon in die Jahre gekommen und mit elf Seiten nicht lang. Sein Duktus dürfte ihm aber schon heute einen festen Platz in der Bibliothek vorauseilenden politischen Gehorsams sichern.

Das Lückendokument der Wissenschaftsakademien

Im Mai 2019 veröffentlichten die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften acatech und die Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften in der Reihe „Kurz erklärt!“ das Papier „Welche Bedeutung hat die Kernenergie für die künftige Weltstromerzeugung?“, im Folgenden abgekürzt als BKW. Es umfasst drei Kapitel, und seine Aussagen lassen sich zu vier Thesen verdichten: (i) Kernenergie sei ökonomisch kaum konkurrenzfähig, (ii) ein sicherer Kostenvergleich mit erneuerbaren Energien sei nicht möglich, (iii) Kernenergie sei in vielen Ländern politisch umstritten, und (iv) Kernenergie sei weltweit noch Jahrzehnte präsent.

In einem wissenschaftsinternen Fachkommentar ist der Autor der Frage nachgegangen, inwieweit BKW den Stand der Fachliteratur angemessen berücksichtigt und den Leitlinien guter wissenschaftlicher Praxis sowie den Grundsätzen wissenschaftlicher Politikberatung genügt. Diese Richtlinien spielen in der akademischen Welt eine ähnliche Rolle wie das Reinheitsgebot beim Bierbrauen. Die Akademien lehnten die Veröffentlichung des Kommentars ab. Das Online-Dokument wurde allerdings stillschweigend um eine Autorenliste erweitert – einer von 15 Kritikpunkten, die im Fachkommentar erhoben worden waren. Drei Qualitätsmängel dürften für die breite Öffentlichkeit besonders erhellend sein.

Die Autoren von BKW berichten wahrheitsgemäß, die Kernenergie sei politisch umstritten. Doch das wissenschaftliche Reinheitsgebot verlangt mehr. Alle wichtigen Fakten zum Stand des Wissens müssen zitiert werden. Hierzu gehören zuvorderst die Aussagen des Weltklimarats IPCC. Sie spiegeln nämlich den weltweiten klimawissenschaftlichen Konsens wider. Schon im Jahr 2014 benennt der IPCC-Report auf Seite 20 die Kernenergie als CO2-arme Technologie: „Die Kernenergie ist eine reife CO2-arme Quelle für Grundlaststrom […]. Die Kernenergie könnte einen wachsenden Beitrag zur CO2-armen Energieversorgung leisten, jedoch existiert eine Vielfalt von Barrieren und Risiken.“ Das Fehlen eines Verweises auf diese fundamentale Aussage der klimatologischen Schlüsselpublikation ist mit den Leitlinien guter Wissenschaft unvereinbar. Es ist ein Indiz für die Politisierung der Wissenschaftsakademien.

Weiter schreiben die Autoren: „Die Regierung von US­-Präsident Donald Trump steht der Kernenergie wohlwollend gegenüber – anders als die Mehrheit der US­-Amerikaner, die sich 2016 erstmals gegen Kernenergie aussprach.“ Eine Recherche zeigt, dass die zitierte Gallup-Umfrage veraltet war. Die bei Erscheinen aktuelle Erhebung spiegelt einen Gleichstand zwischen Befürwortung und Ablehnung wider. Es handelt sich bei der Formulierung „anders als die Mehrheit“ somit zum Zeitpunkt des Erscheinens um eine Falschaussage, auf Neudeutsch „Fake News“.

Gelegentliche Fehler können in wissenschaftlichen Publikationen durchaus vorkommen. Der in der Wissenschaft übliche Korrekturweg besteht jedoch darin, die Autoren in Form eines Kommentars auf den Fehler aufmerksam zu machen und anschließend Kommentar und Antwort zu veröffentlichen. Es zeugt von einem Mangel an Fehlerkultur, dass Wissenschaftsakademien, die sich in der Öffentlichkeit gern als Hüter der Wahrhaftigkeit präsentieren, eine Korrektur eigener Fehler ablehnen.

Die Urheber von BKW behaupten ferner: „Werden KKWs weiter in Grundlast betrieben, passen sie schlecht zur schwankenden Einspeisung aus Windkraft­ und Photovoltaikanlagen.“ Dass diese Aussage unzutreffend ist, soll hier nicht Gegenstand von Erörterungen sein. Der Satz ist aus einem andern Grund bemerkenswert – als Beispiel für subtile Meinungsmanipulation. Der Begriff schlecht ist in diesem Zusammenhang nämlich kein Fakt, sondern eine Meinung von Kernkraftgegnern. Ein Windenergiekritiker könnte nämlich umgekehrt meinen: „Windkraftanlagen passen schlecht zur grundlastfähigen Kernenergie“. Das Umetikettieren von Meinungen als Fakten stellt einen Verstoß gegen die Grundsätze wissenschaftlicher Politikberatung dar. Diese verlangen von Autoren, Fakten neutral zu beschreiben und von Meinungen zu trennen.

Fazit: Politisierte Wissenschaftsakademien

Das Resümee lautet, dass BWK eine zentrale Aussage des IPCC verschweigt, eine Falschaussage über das Meinungsbild zur Kernenergie enthält, Meinungen zur Passfähigkeit von Kernenergie und erneuerbaren Energien als Fakten ausgibt und deshalb für die sachgerechte Information der Öffentlichkeit ungeeignet ist. Man könnte einwenden, BWK sei ein einzelnes, kleines, veraltetes und unbedeutendes Dokument und somit ein ungeeignetes Beispiel. Doch tauchen ähnliche Muster auch in anderen Dokumenten auf. Es handelt sich somit offenkundig um ein strukturelles Problem.

Wenn Akademiker keine unbequemen Fragen stellen, nicht für unpopuläre Fakten einstehen und sich vom Zeitgeist vereinnahmen lassen, sind sie ungefähr so wertvoll wie Ärzte, die keine Wunden und Anwälte, die keine Verbrecher ertragen.


Der Autor: André Thess ist Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart und Autor des Buches „Sieben Energiewendemärchen?“