Tichys Einblick
Von kalten Wohnungen und Viren

Also zieht euch warm an!

Mit Blick auf den kommenden Winter muss man zwei Dinge zusammen denken: kalte Wohnungen und Viren – schlecht beheizte Arbeitsstätten und steigenden Krankenstand. Von Sibylle Knauss

IMAGO/photothek

Der Herbst ist noch weit. Doch wir werden bereits eingestimmt und sollen wissen, was da auf uns zukommt. Es ist zweierlei – und da ist kein Journalist, soweit ich sehe, der diese zwei einfachen Dinge zusammen denkt: kalte Wohnungen und Viren. Schlecht beheizte Arbeitsstätten und steigender Krankenstand. Meine Mutter hätte noch gewusst, dass eins das andere bedingt und „Erkälte dich nicht“ hinter mir hergerufen.

Man muss kein Prophet sein, um schon jetzt zu wissen, dass der Gesundheitsminister ausnahmsweise gute Aussichten hat, Recht zu behalten mit seinen Voraussagen für ein glänzendes Comeback der Viren in der kalten Jahreszeit. Denn in diesem Jahr mag der Winter noch so klimawandelbedingt „warm“ werden – es wird kalt genug sein für die Viren, nicht nur solche vom Stamme Corona. Unter Frierenden finden sie reichlich, was sie brauchen: menschliche Körper, deren Immunabwehr genügend herabgesetzt ist, um ihnen das Milieu zu bieten, in dem sie sich gern vermehren. Willkommen in unseren ausgekühlten Körpern und kalten Wohnungen!

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Dann wird man uns sagen, dass die fünfte Impfung hilft. Und wenn es die nicht tut, wird man uns eine sechste Impfung empfehlen. Und man wird wieder steigende Inzidenzen ins Feld führen, und womöglich wird immer noch kein Journalist darauf kommen, dass kalte Wohnungen etwas damit zu tun haben. Denn Herbst und Winter ist Erkältungszeit, ist es schon immer gewesen, selbst als die Heizungen noch heizten und man im Sommer schon wusste, dass ein Knopfdruck genügt, um die gewohnte Wohltemperiertheit herzustellen. 

Werden wir im Winter frieren?, wurde der Kanzler gefragt. Und für einen Augenblick waren wir ganz Ohr. Aber nein!, würde er sagen. Das ist undenkbar in unserem Land! Doch er schwieg, wie man es von ihm kennt. Beantwortete andere Fragen, die ihm nicht gestellt wurden. Ein gruseliger Moment des Regiertwerdens.

Werden wir jemals erfahren, wie hoch die Zahl derer sein wird, die an der Unbeheizbarkeit ihrer Wohnungen sterben werden? Gehen sie in die Corona-Statistik ein? Klar tun sie das. Oder wird es eine eigene Statistik geben für den Kältetod der Alten, der fiebernden Kinder, der Singles, an die sich niemand schmiegt, um sie zu wärmen, wenn sie in ihren einsamen Betten auskühlen und mit Halsschmerzen aufwachen? Ein Virus wird sich schon finden, wo Menschen der Kälte ihrer Behausungen ausgesetzt sind. Man muss kein Arzt sein, um zu wissen: Die nächste Welle kommt so gewiss, wie der Winter kommt. 

Also zieht euch warm an! Vielleicht nützt es ja wenigstens der Strickwarenherstellungsbranche. Oder die alten Pelzmäntel werden wieder modern. Haben wir nicht noch so ein Teil eingemottet auf dem Dachboden? 

Sibylle Knauss war Professorin an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg und ist Schriftstellerin