Tichys Einblick
Denk ich an Japan in der Nacht:

Japan, du machst es besser als Deutschland

In der Kirschblütenzeit muss jeder, der mal in Japan war, an dieses wunderbare Land denken. Japan zeigt uns Deutschen vor allem, was wir selbstverschuldet verlieren. Von Prof. Dr. Axel Meyer

Auf dem Bahnhof Tokyo-Eki, 29.04.2023

IMAGO / Kyodo News

Die Zeit der Kirschblüte in Deutschland bringt Erinnerungen an Japans „Sakura“ zurück. Sie steht dort für Schönheit und Aufbruch aber auch für Vergänglichkeit. Dann bin ich um den Schlaf gebracht, weil ich dieses so andere Land bewundere und den trotz aller Ferne gemeinsamen, aber vergangenen Werten nachtrauere.

In vielerlei Hinsicht könnten unsere beiden Länder nicht unterschiedlicher sein, trotzdem gibt es auch viele Dinge, wie die Wertschätzung von Kultur, Bildung und Wissenschaft, aber auch die Produktion von komplexen Maschinen, die unsere beiden Länder an gegensätzlichen Enden der Welt teil(t)en. Auch der ausgeprägte Pazifismus beider Länder lässt sich leicht durch die Schuld beider Länder am und im Zweiten Weltkrieg erklären. Aber diese Einstellung hat sich ja jüngst selbst bei den Grünen gewandelt. In Japan hat die Furcht vor Nordkorea und vor allem dem übermächtigen Nachbarn China zuletzt zur Erhöhung des Budget des Militärs um 26  Prozent innerhalb des vergangenen Jahres geführt. Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Disziplin, Fleiß und Präzision haben sicherlich in beiden Ländern zu den Wirtschaftswundern nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs beigetragen. Im Westen gelten solche Eigenschaften allerdings bei einigen besonders woken Mitmenschen mittlerweile als Ausdruck eines „weißen toxischen Patriarchats“. Aber – nun kommen wir von den Gemeinsamkeiten zu den wachsenden Unterschieden – in Japan wurden diese altmodischen Werte bewahrt, die in Deutschland oder im Westen allgemein zuletzt verlorengegangen zu sein scheinen.

Japanische Sicherheitspolitik
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Meine letzte Reise nach Japan fand im August 2022 statt – dank einer Einladung zu einem Vortrag auf einer wissenschaftlichen Konferenz in der Nähe von Tokyo. Zur Vorbereitung auf die Reise las ich das exzellente Buch „A beginner’s guide to Japan – observations and provocations“ von Pico Iyer und sah auf dem Flug den Film von Sophia Coppola „Lost in Translation“ mit Scarlett Johansson und Bill Murray. Beides kann man nur wärmstens empfehlen, denn beide beschreiben Japans Essenz wunderbar. Es wütete gerade die zweite große Corona-Welle und viel Bürokratie. Zwei Besuche beim Japanischen Konsulat, PCR-Tests, iPhone Apps, und absurd lange Prozeduren (auch Japan ist sehr bürokratisch) bei der Einreise waren nötig, um als einer der ersten internationalen Gäste wieder nach Japan reisen zu können. Für Touristen wurden die Grenzen erst wieder im Oktober 2022 geöffnet. Seit im Februar 2020 die ersten Coronafälle auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess entdeckt wurden, lag erst das Schiff im Hafen von Yokohama in Quarantäne und danach auch das ganze Land. Der Inselstaat Japan, wie auch Neuseeland oder Australien, schloss die Grenzen für über zwei Jahre nahezu komplett. Daher kam Covid-19 mit Verzögerung nach Japan und gerade erst jetzt verbreitet sich dort der Virus in der dritten und bisher größten Welle. Trotzdem sind bisher in absoluten und relativen Zahlen weitaus weniger Menschen (~73,000 in Japan gegen ~169,000 in Deutschland) dort gestorben. Dabei hat Japan mit ~125Millionen etwa 50 Prozent mehr Einwohner als Deutschland. Man hätte also 3-4-mal mehr Tote dort erwarten können als bisher an Corona gestorben sind. Aber Japan macht auch noch in anderer Hinsicht vieles besser als wir. 

Was mich nicht mehr die Augen schließen und heiße Tränen fließen lässt: Man fährt dort in extrem sauberen und auf die Sekunde genauen Zügen und U-Bahnen. Es gibt kein Drängeln auf den Bahnsteigen, denn man wartet exakt an der markierten Stelle, an der das Zugabteil des Shinkanzen-Schnellzuges auf den Zentimeter genau anhalten wird, für das man ein Ticket gebucht hat. Das zahlreiche und gepflegte Zugpersonal trägt Uniformen und verneigt sich höflich vor den Fahrgästen beim Ein- und Aussteigen. Die japanischen Toiletten sind bekanntlich technische Wunderwerke mit Heizung, Musik, Wasserstrahl und allerlei anderem Schnickschnack. Selbst in den Zügen und Bahnhöfen sind sie immer picobello sauber. Selbstverständlich funktioniert das kostenlose Wifi schnell und zuverlässig überall.

Über den Zustand der Deutschen Bahn muss man wohl keine weitere Zeile verschwenden. Leider scheint mir aber der Verfall der Deutschen Bahn symptomatisch zu sein für den Niedergang unseres einst so sauberen, fleißigen und pünktlichen Lands. In Japan gibt es nirgends Graffiti, hier mag sich niemand mehr auch nur in der Nähe von Bahnhöfen aufhalten – trotz Messerverboten. Die Menschen dort sind höflich miteinander und die Angestellten wissen, dass sie für die Kunden arbeiten. Alles ist digitalisiert und wenn man doch ein Bahnticket persönlich am Bahnhof kaufen möchte, dann stehen die uniformierten Angestellten höflich auf, wenn man sich dem Schalter nähert.

Die Unterschiede überwiegen mehr und mehr – und die ehemaligen Ähnlichkeiten schwinden. In Japan wird äußerst selten gestreikt. Das war in Deutschland auch mal so. Bei Streiks dachte man an Italien oder Frankreich. Längst herrscht aber auch bei uns der Schlendrian und es wird fast 30mal mehr hier gestreikt als in Japan. Spätestens seitdem das Arbeitsamt „Job Center“ heißt und Berufe nur noch „Jobs“ sind, geht die Arbeitsmoral und die Qualität der Dienstleistungen in Deutschland bergab.

Das gegenseitige ungeschriebene Versprechen des Salary-Man und seiner Firma, die eine lebenslange Anstellung verspricht, ist noch ungebrochen dort. Aber selbst lebenslange Jobsicherheit resultiert hier nicht mehr immer in Disziplin, Kompetenz und Verlässlichkeit. Spätestens seit der Covid-Zeit und dem Anspruch auf „home office“ kann man den korrupten Verfall der Arbeitsmoral überall spüren vielleicht besonders stark auf im öffentlichen Dienst. Immer weniger Menschen sind telefonisch erreichbar, Anrufbeantworter scheinen auch 70 Jahre nach deren erstmaligen Einsatz in Deutschland noch nicht weit verbreitet zu sein.

Das Wort Digitalisierung wagt man gar nicht mehr in den Mund zu nehmen. An meiner Universität füllen wir im Jahre des Herren 2023 immer noch die allermeisten Formulare per Hand aus oder wenn man sie – oh Fortschritt – am Bildschirm ausfüllen kann, muss man sie meist trotzdem ausdrucken per Hauspost, und oft noch in Mehrfachausführung auf den Behördenweg bringen. Auf der WWW-Seite meiner Universität beispielsweise sind Telefonnummern, vielleicht aus missverstandenem Persönlichkeitsschutz, schwer auffindbar. Wenn man dann versucht, jemanden per Email zu erreichen, kann man sich nicht darauf verlassen, dass irgendetwas passiert.

Ich will damit nicht die Fleißigen und Verlässlichen, die Ihre Arbeit immerhin finanziert vom Steuerzahler ernst nehmen, unerwähnt lassen. Sie gibt es, Gott sei Dank, immer noch. Aber, wenn man sich an einer einzigen kleinen Universität zwei Damen-Fußballmannschaften im Genderreferat und noch zwei Teams an der Pressestelle leistet, aber gleichzeitig in der Personalabteilung zu wenige Posten mit immer absurder werdender Bürokratie kämpfen lässt, dann muss man die Prioritäten der ganzen Veranstaltung in Frage stellen dürfen.

Das Fatale an der Situation ist, dass sich verständlicherweise oft auch die ehemals treuesten Staatsdiener, korrumpieren lassen, denn sie sehen ja, dass die Frechen mit der Faulheit durchkommen. Ein amerikanischer Kollege von mir, der als Max-Planck-Direktor mehr Forschungsgelder bekam als er ausgeben konnte, sagte oft frustriert über die neue Arbeitsmoral hier „the German disease is that people are either sick, pregnant or on vacation“.

Auch Japan hat einen riesigen Staatsapparat und auch Japaner beklagen sich über die Bürokratie, dennoch scheint mir aus der Warte des gelegentlichen Besuchers, dass deren Land wesentlich effizienter (bei geringerer Steuerlast) und dabei noch besser zu funktionieren scheint. Wie hoch ist der Krankenstand der Bediensteten des öffentlichen Dienstes in Berlin? Im Durchschnitt so um die 36-38 Arbeitstage, also über sieben Wochen pro Jahr. Dazu kommen noch 30 Tage Urlaub also sechs Wochen jährlich und dann noch 10 gesetzliche Feiertage. Etwa 15 Wochen von 52 im Jahr nicht zu arbeiten wie hier, zumindest in Berlin, ist in Japan undenkbar. Dort hat frau Anspruch auf 10 Tage Jahresurlaub und viele nehmen nicht einmal die. Deutschland ist Weltmeister in kreativen Brückentagen und man kann darauf wetten, dass Zeitungsartikel jedes Jahr darauf hinweisen, wie man hier seine Urlaubstage besonders clever ausnutzt.

Auch in anderer Hinsicht macht Japan vieles anders als wir. Die Inflationsrate in Japan war letztes Jahr -0,23 Prozent, eine Kilowattstunde Strom kostet etwa 13c€, 1 Liter Benzin kostet ungefähr einen Euro und Japan hat insgesamt etwa 500 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Nach dem Tsunami 2011, der das Atomkraftwerk in Fukushima zerstörte, entschloss sich die Merkelregierung bekanntlich zu dem abrupten Atommoratorium und stieg vorschnell entgegen vorherigen Abmachungen aus der günstigsten grünen CO2-freien Energie aus. Das wurde nur drei Tage nach dem Erdbeben in Japan überstürzt und ohne wissenschaftliche Begründung beschlossen.

Wahrscheinlich starb nur ein Mensch an freigesetzter Strahlung in Fukushima, im Jahr 2018, aber es gab dadurch hier am anderen Ende der Welt wohl allein aus parteipolitischem Kalkül eine Rechtfertigung für einen Beschluss, der offenkundig dem Industriestandort Deutschland schadet und natürlich auch gegen die Reduzierung des CO2-Ausstosses wirkt. Es standen bald Landtagswahlen in Baden-Württemberg an und so war es für Merkel und die CDU opportun, der Atomkraft „sayonara“ zu sagen. Trotzdem verdoppelten die echten Grünen bei der Landtagswahl ihre Stimmen und die fake grüne CDU verlor nach 58 Jahren den Ministerpräsidentenposten in The Länd. 

Das japanische Green Transformation Excecutive Committee empfahl vor sechs Monaten, die Anzahl der Atomkraftwerke (im Moment sind noch 33, von 54, am Netz) dort weiter auszubauen, denn Atomkraft wird als „a power source that contributes to energy security and has a high decarbonisation effect“ angesehen. Trotz Fukushima setzt Japan also vermehrt auf Atomenergie. Ein weltweiter Trend zu mehr Atomkraft ist offensichtlich, nur hier will man es besser wissen entgegen aller Rationalität und Wissenschaftlichkeit, die auch einmal eine Gemeinsamkeit von Japan und dem Land der Dichter, Denker aber auch der Wissenschaftler und Ingenieure war.

Und so importieren wir nun Atomstrom aus Frankreich und generieren dreckigen Strohm mit Kohle. So ist es vermutlich CO2-schädlicher, ein Elektroauto zu fahren als einen Diesel. Diese Kopflosigkeit und irrationalen Entscheidungen werden von willfährigen Medien applaudiert und von Wählern resigniert hingenommen. Gleichzeitig werden allerorten Empfehlungen für kluge Köpfe für die besten Emigrationsländer verbreitet. 

Einer meiner ehemaligen japanischen Mitarbeiter ist nun Professor am Nationalen Institut für Genetik in Mishima. Auf dem Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik wurde nach dem Zweiten Weltkrieg dort eines der weltweit führenden Forschungszentren in molekularer Genetik etabliert. Als ich ihn dort besuchte, führe er mich über den Campus. Überall waren schöne Kirschbäume gepflanzt worden. Zur Zeit der Kirschblüte werden die Mitarbeiter und Besucher aus der Umgebung mit einer Broschüre, die es im Besucherzentrum gibt, darauf hingewiesen, wo und wann auf dem Campus welche Sorte von Kirschen gerade blühen.

Kirschbaumplan des National Institute of Genetics in Mishima / Axel Meyer

Ein Gärtner ist dort angestellt, die Mitarbeiter des Instituts per Email zu informieren wo und wann gerade die schönsten Blüten am Institut zu sehen sind. An meiner Universität in Konstanz wurden derweil gerade eine Reihe von lastwagengroßen Müllcontainern vor unserer Eingangstür an unserem Gebäude aufgebaut und eine Grasfläche wurde für ein riesiges Feld von fast völlig ungenutzten (Nachhaltigkeit?) Fahrradparkplätzen asphaltiert. Bäume wurden nicht gepflanzt. Kein einziger Kirschbaum an meiner Universität ist mir bekannt. Vieles ist nun anders in Deutschland, aber vieles ist besser (geblieben) in Japan.


Prof. Dr. Axel Meyer hat den Lehrstuhl für Zoologie und Evolutionsbiologie an der Universität Konstanz inne