Tichys Einblick
Eine Krise nach der anderen

Flohmarkt der Medikamente

Erst Lauterbachs Idee eines Gesundheitskiosks für Arme. Nun legt der Ärztepräsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, nach. Und nein, was nun folgt, ist kein Witz. Es ist bitterernst. Leider. Von Friedrich Pürner

Medikamentenmangel: Der Ärztepräsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, schlägt einen Flohmarkt für Medikamente vor

IMAGO/Fotostand, ANP, IPON - Collage: TE

Aufgrund der Lieferengpässe bestimmter Arzneimittel ruft der Ärztepräsident dazu auf, sich gegenseitig mit Medikamenten auszuhelfen – gerne auch mit bereits abgelaufenen. Reinhardt schlug öffentlich und mit vollem Ernst vor, Flohmärkte für Medikamente in den Nachbarschaften einzurichten. Dort sollten Medikamente dann unkontrolliert getauscht und gehandelt werden.

Rechtfertigt eine Krise wirklich jegliches Mittel? Ist es schon so weit gekommen? Haben wir tatsächlich bereits eine Medikamentenkrise, in der plötzlich ein Medikamentenflohmarkt erlaubt, ja sogar geboten ist? Oder ist Deutschland tatsächlich zu einer Bananenrepublik verkommen?

Aufgrund der öffentlichen Debatte um die Lieferengpässe war ich selbst in zwei Apotheken und habe nachgefragt. Abschwellendes Nasenspray für Kinder war vergriffen. Abschwellende Nasentropfen hingegen waren vorrätig. Eine Apotheke hatte Probleme mit einem bestimmten Antibiotikum in flüssiger Form für Kinder. Das ist ungut. Die Lieferung wurde aber noch für denselben Tag zugesichert. In beiden Apotheken war ein beliebter Fiebersaft für Kinder nicht mehr erhältlich. Das ist ebenfalls unschön. Doch Zäpfchen, zwar mit einem anderen Wirkstoff, aber dennoch effektiv, waren zu bekommen. Auch der Wirkstoff, der in dem vergriffenen Fiebersaft enthalten ist, war als Pulverbrause in kleinen Tütchen vorrätig. Allerdings in einer Dosierung, die nur für ältere Kinder und Jugendliche zulässig ist.

Berichtet wurde mir von beiden Apotheken, dass es auch bei bestimmten Herz- bzw. Blutdruckmedikamenten Lieferengpässe gebe. Hinter vorgehaltener Hand wird in Apothekerkreisen erzählt, dass Medikamente meist nur von bestimmten Herstellern fehlen würden. Andere Anbieter könnten das gleiche Präparat liefern. Die Patienten seien aber bezüglich ihrer gewohnten Medikamente sehr eingefahren.

Rabattverträge zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und den jeweiligen Pharmaherstellern hätten ebenfalls einen Anteil an der Misere. Mit anderen Worten: Es gibt zwar lieferbare Medikamente, aber eben nicht jene, die von den Ärzten aufgeschrieben werden. Besser gesagt, verordnet werden dürfen. Das läge eben an den besagten Rabattverträgen.

Hippokrates würde sich im Grabe umdrehen

Nun soll eine Art Flohmarkt der Medikamente Deutschland aus der Krise bringen. Dieser Flohmarkt sei geeignet, ja geradezu geboten, so der Ärztepräsident, um sich mit Medikamenten aus der Hausapotheke auszuhelfen – es sei quasi ein Akt der Solidarität. Es ist unglaublich. Wieder werden im Namen der Solidarität und einer selbstverursachten Misere Prinzipien der Medizin über den Haufen geworfen.
„Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare.“ Erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen. Diese Grundsätze des Hippokrates und die Grundlage unseres ärztlichen Verständnisses wirken spätestens seit der Pandemie wie bloße Floskeln – sie sind nur noch als Kalenderspruch geeignet. Kein Arzt oder Apotheker kann so ein Flohmarkttreiben gutheißen.

Aufgrund der angeblich schlimmsten Pandemie aller Zeiten wurden zum Schutz der Bevölkerung weitreichende und einschneidende Maßnahmen verordnet – zumeist völlig sinnlose, überflüssige, teilweise auch schädliche und rechtswidrige. Alle Maßnahmen wurden im Namen der Gesundheit und Solidarität verhängt. Ob die Maßnahmen der Gesundheit zuträglich waren? Dies schien irrelevant. Keiner wusste es. Es wurde nicht einmal der Versuch einer ordentlichen Datenerhebung und Evaluation unternommen. Risiken und Nebenwirkungen der Covid-Impfung? Laut Lauterbach völlig belanglos, denn die Impfung war seiner Ansicht nach nebenwirkungsfrei. Bis heute fällt es vielen sehr schwer, die Wörter „Nebenwirkung“ oder „Langzeitfolgen nach Impfung“ überhaupt in den Mund zu nehmen. Dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung zuliebe wurde alles untergeordnet. Niemand durfte mehr erkranken oder gar sterben.

Wie passt ein Flohmarkt mit möglicherweise abgelaufenen Medikamenten ohne Kontrolle und Beratung in dieses Bild? Ein Bild, in dem der Staat alles Erdenkliche zum Schutz der Bevölkerung unternimmt. Zum Schutz vor einem Virus, das nicht annähernd so gefährlich und bedrohlich war, wie es in den Medien verbreitet und von Politikern dargestellt wurde. Und nun sollen Medikamente, auch abgelaufene, privat untereinander verscherbelt werden?

Ist der Flohmarkt möglicherweise zeitgemäß?

Aber womöglich passt der Flohmarkt auf den zweiten Blick doch besser in diese neue Zeit, als es den Anschein hat. Für mich passt er sogar gut in diese Zeit, in der die althergebrachte Medizin plötzlich keinen Platz mehr hat. In eine Zeit, in der bald jede Abweichung von der Normalität zur Krise verklärt wird. Durch eine öffentlich deklarierte Krise ist es nun möglich, Grenzen zu überschreiten, die vorher als unantastbar galten. Noch im Jahr 2019 wäre ein Arzt mit der Idee eines Medikamentenflohmarktes öffentlich gebrandmarkt worden. Heute werden die gebrandmarkt, die davor warnen, dass ihren Patienten und Mitmenschen womöglich Schaden droht.

Schon lange verordnen Ärzte Medikamente, Apotheker stellen diese her bzw. verkaufen sie. So vereinfacht dargestellt ist die gängige Praxis und die gesetzliche Regelung. Neben der Rezeptierung und dem Verkauf darf auch die wichtige Funktion der Beratung von Ärzten und Apothekern nicht ausgeblendet werden. Schon bei einem simplen Nasenspray wird man von einer guten Apotheke bezüglich Dosierung und Dauer der Anwendung beraten. Wer soll diese Aufklärung über Dosierungen, Wirkungen und Nebenwirkung auf einem Flohmarkt leisten? Wer haftet bei Falschanwendung? Wer haftet, wenn ein Herzpatient ein abgelaufenes und damit womöglich wirkungsloses Medikament einnimmt und schwerwiegende Folgen erleidet? Wer kann auf einem Flohmarkt die unterschiedlichen Wechselwirkungen verschiedener Medikamente fachlich einschätzen?

Immer wieder kommt es im Klinikalltag vor, dass Kinder vorgestellt werden, denen leider Acetylsalicylsäure, besser bekannt unter dem Namen „Aspirin“, von den Eltern oder den Großeltern verabreicht worden ist. Was war passiert? Das Enkelkind darf endlich bei Opa und Oma übernachten. Leider wird das Kindlein am Abend krank und fiebert. Da andere fieber- und schmerzstillende Medikamente nicht zur Verfügung stehen, geben die Großeltern in gutem Glauben das Medikament, welches sie in ihrer Hausapotheke finden: Aspirin. Doch vor allem bei einem viralen Infekt kann dieses Medikament bei Kindern eine schreckliche Reaktion auslösen – das sog. Reye-Syndrom. Eine zwar seltene, aber dafür absolut lebensgefährliche Erkrankung, die zu Leber- und Hirnschäden führen kann. Dieses kleine Beispiel soll aufzeigen, dass selbst ein relativ „harmloses“ Medikament zu gefährlichen Nebenwirkungen führen kann, weshalb man zwar gerne Fahrräder und Kochtöpfe auf einem Flohmarkt verscherbeln kann – aber bitte keine Medikamente!

Der Elefant im Raum wird gesehen – darüber berichtet nicht

Diese Entwicklung ist sehr besorgniserregend. Wie konnte es soweit kommen? Bedauerlich ist auch, dass einige Medien dieses Thema zwar aufnehmen, jedoch nicht die allerwichtigste Recherche anstellen. Dies wäre allerdings deren ureigenste Aufgabe. Wer dieses Dilemma politisch zu verantworten hat, stellt den Kern der Frage, den es zu ergründen gilt, dar. Wie kann es sein, dass Deutschland zu Gesundheitskiosken und Medikamentenflohmärkten aufrufen muss? Russland oder ein „neuartiges“ Virus wird man nicht mehr verantwortlich machen können. Auch nicht die AfD. Oder die Maßnahmenkritiker. Nein. Dieses Problem ist ein auf ganzer Linie und mit enormer Sprengkraft versehenes politisches Versagen der Verantwortlichen. Den Schreibern und Sprechern der öffentlich-rechtlichen Anstalten dürfte das klar sein – der Elefant im Raum wird durchaus wahrgenommen. Rätselhaft bleibt, weshalb darüber nicht berichtet wird. Die Angst davor scheint riesengroß zu sein.


Dr.med. Friedrich Pürner, MPH
Facharzt Öffentliches Gesundheitswesen, Epidemiologe