Tichys Einblick
Corona als westdeutsche Treuhandanstalt

Die Menschen wollen keine „Chancen“, sondern Sicherheit

Die Deutschen sahen sich einem Arbeitsmarkt gegenüber, der ausreichende Mengen an Arbeit, aber kaum noch anspruchsvolle bereithält. Die scharfe Linksdrift der Gesellschaft ist die logische Folge davon. Leser Thomas Hellerberger kommentiert Alexander Horns Beitrag „Nach Corona könnte das Wohlstandskoma kommen“.

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Das Grundproblem kapitalistischer Ordnungen bleibt, dass die Interessen von Unternehmern und Kapitalbesitzern nicht identisch sind mit denen von nichtvermögenden abhängig Beschäftigten, die durchweg lebenslang nicht in der Lage sind, nur durch reinen Kapitalkonsum zu leben. Ihr Einkommen reicht zumeist nur aus, um bestenfalls alle Ausgaben zu tätigen, nicht aber nachhaltig Vermögen aufzubauen. Entgegen allen anderen Behauptungen war das in Deutschland seit der industriellen Revolution auch nie anders, auch nicht in den goldenen Jahren der BRD (allenfalls etwas leichter als heute), was die exzessiv hohe Mieterquote der Deutschen beim Wohnen verdeutlicht – aber auch die fast totale Abhängigkeit fast aller Senioren von steter staatlicher Alimentation namens Rente oder Pension.

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Der abhängig Beschäftigte hat den primären Anspruch, dass sein Einkommen nicht etwa sehr hoch, sondern! – stetig und langfristig planbar ist. Stellt man einen Arbeitnehmer vor die Alternative, eine zwar eher unattraktive oder langweilige Tätigkeit auszuüben, die ihm jedoch zugleich eine praktisch hundertprozentige Sicherheit gewährleistet, dass er bis zum Altersversorgungseintritt keinerlei Befürchtung haben muss, dass die Lohnzahlung jemals ausbleibt oder er ohne Beschäftigung ist, so wird er in 90 % aller Fälle dieses dem Risiko vorziehen, zwar sehr viel zu verdienen, aber mit absoluter Sicherheit und unplanbar jederzeit auch mit längerfristigem Nulleinkommen bedroht zu sein.

Dazu muss er nur einen kleinen Seitenblick auf seine Kinder werfen, um wissend zu nicken. Wäre es anders, hätte zum Beispiel der öffentliche Dienst auf dem Arbeitsmarkt keine Chance, tatsächlich ist er auch und gerade bei den jüngeren Alterskohorten beliebter denn je.

Im Gegenteil: Die Jahre seit etwa Mitte der 1980er Jahre sind für die Mittelschicht eine einzige, sich verdichtende Erfahrung geworden, dass Einkommen und Einkommenssicherheit nicht mehr planbar sind, dass zwischen Haus, Garten, zwei Autos, Kinder und jährlichem Urlaub im Süden einerseits (also dem gewöhnlichen Verständnis von Mittelschichtleben) und Hartz IV, Kleinstwohnung im Plattenbaughetto und kein Geld mehr auf dem Konto ab dem Monatszwanzigsten nur ein einziges, ein lausiges Jahr ALG1 liegen. Liegen können.

Ich behaupte, dass 80 bis 90 Prozent der deutschen Mittelschicht dieses Damoklesschwert über sich schweben fühlen, die heute unter 50jährigen kennen es zeitlebens gar nicht mehr anders. Sicher, es gab ein paar Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, wo das anders war. Auch ich bin in so einer Reihenhaussiedlung der Beamten, Facharbeiter und Ingenieure bei der örtlichen Industrie aufgewachsen, in denen eine Sicherheit und soziale Ausgeglichenheit herrschte, die sich heute keiner mehr vorstellen kann oder ihr melancholisch hinterhertrauert.

Den Deutschen im Osten geht das – Stasi und Mauer hin oder her – mit der Arbeitsplatzsicherheit in der DDR, den geringen sozialen Unterschieden in der Gesellschaft damals doch genauso. Sie haben hinsichtlich der harten Bauchlandung uns im Westen nur 30 Jahre voraus, Corona wird unsere (westdeutsche) Treuhandanstalt sein. Und wie im Osten werden die Billionen doch keine Massenarbeitslosigkeit verhindern können. Überall geht es los, die Presse ist schon voll davon.

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Nach Corona könnte das Wohlstandskoma kommen
Wer also Kapitalabbau und Disruption über Innovation fordert oder als unerlässlichen Treiber für Wohlstand identifiziert, muss sich klar sein, dass in aller Regel davon nur kleine Eliten profitieren. Die digitale Technik als scheinbarer Nachfolger der montanbasierten Industrie im Westen hat nur eine Schicht kosmopolitischer Anywheres geschaffen, von denen ein sehr kleiner Teil obszön reich wurde, andere aber als prekär beschäftigte moderne Nomaden durch komplett angeglichene Metropolen vagabundiert. Der Rest sind ihre Paket- und Essensfahrer. Die Deutschen sahen sich in der Tat einem Arbeitsmarkt gegenüber, der ausreichende Mengen an Arbeit, aber kaum noch anspruchsvolle bereithält. Die scharfe Linksdrift der Gesellschaft ist die logische Folge davon.

Insoweit reicht es nicht, in einer Krise wie dieser einfach alle unmodern gewordenen Unternehmen pleitegehen zu lassen und darauf zu hoffen, dass auf diesen Trümmern neues sprießt. Das wurde den Deutschen schon einmal versprochen, uns im Westen in den 80ern, denen im Osten in den 90ern. Und was kam bei raus? Alles, was wir kaufen, ist made in China, Samsung und Apple – und Produkte mit deutschen Markenzeichen, produziert in der Türkei oder Slowenien. Und bei uns Callcenter und DHL. Die Ostler hofften auf „blühende Landschaften“ und bekamen stattdessen das Fernpendeln von Gera nach Frankfurt am Main.

Nein, dieses Narrativ trägt nicht für die, die nichts haben außer ihrem Monatseinkommen. Und leider, Herr Horn, fürchte ich, geben Merkel und Lagarde diesen Dünnhäutigen die überzeugendere Antwort. Schauen Sie sich die Wahlergebnisse an. Wie sagte Fassbender so schön? Angst essen Seele auf. Die Menschen wollen keine „Chancen“, sie wollen Sicherheit für ihr kleines, kurzes Leben. Und jeden Besenstiel, der ihnen das verspricht, den werden sie wählen.

Nicht, dass sie nicht trotzdem in der Sache recht hätten. Was aber, wenn Sie erst recht bekommen, wenn es keiner mehr erlebt? Fragen Sie den Selbstständigen Ihres Vertrauens, wie es ihm in den letzten drei Monaten gegangen ist, mit Corona und der notwendigen Kapitalentwertung.

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