Tichys Einblick
GLOSSE: Der aktuelle Schulreport

Das Flüchtlingsthema im deutschen Schulunterricht. Wir waren vor Ort.

Also, wat is ene Transitzon? Da stelle mer uns janz dumm.

Wir haben uns gefragt, wie die Flüchtlingskrise wohl von der jüngeren Generation wahrgenommen wird. Wie sieht es insbesondere in unseren Schulen aus? Werden die Ereignisse, die derzeit die politische Welt erschüttern, im Unterricht reflektiert?

Um uns einen Eindruck zu verschaffen, waren wir deshalb draußen im Lande unterwegs. Wir haben eine Schule gefunden, die uns erlaubt hat, einmal unsere Nase in einen Unterrichtsraum zu stecken. Hören und schauen wir also mal ein bisschen rein. Wir sind in einem kleinen Gymnasium irgendwo in Deutschland. Mittelstufe. Gleich beginnt der Unterricht, auf dem Stundenplan steht erst einmal Deutsch.

Also, wat is ene Transitzon?

Die Schüler sind gerade angekommen und packen ihre Taschen aus. Ein munteres Bild. Ein bisschen laut ist es. Der Lehrer fehlt noch – aber da kommt er. Herr Dömmel ist älteres Semester, er trägt Anzug, Kinn- und Schnurrbart, eine distinguierte Erscheinung. Lustigerweise hat er Ringelsocken an.

Der Lärm ebbt langsam ab. Herr Dömmel setzt sich hinter sein Pult, lässt einen wohlwollenden Blick über die Schüler schweifen und beginnt: „Wo simmer denn dran? Aha, heute krieja mer de Transitzon. Dat Wort habt er sicher schon mal jehört, im Fernsehen oder inne Radio. Also, wat is ene Transitzon? Da stelle mer uns janz dumm. Und da sage mer so: En Transitzon, dat is ene jroße jutjeheizte helle Raum, der hat hinten un vorn e Loch. Dat eine Loch, da laufe de Migranten rein, und dat andere Loch, dat krieje mer später.“

Die Schülerschaft ist voll bei der Sache. Ein prächtiger Pädagoge.

„So, de Migranten laufe da also rein in de Transitzon. Und warum laufe se da rein? Hat ener von euch ene Idee?“ Ein Bub meldet sich. „Vielleicht laufen sie da rein, weil es in dem Raum schön warm ist?“ Herr Dömmel ist angetan von der Antwort. „Karlchen, dat is ene jute Idee. Ausjesprochen vernünftig, jerade jetzt, wo et so kalt ist. Dat kommt der Lösung von der Anjelejenheit schon nah. Jibt et denn noch andere Ideen? Ja, Sabrinchen?“ – „Also, ich glaube, die Migranten wollen sich gar nicht lang in der Transitzone aufhalten. Wenn denen wieder warm ist, wollen die weiter, glaube ich.“ Herrn Dömmel gefällt die Antwort auch. „Sabrinchen, das haste jetzt ziemlich jut beschrieben, da kriegste einen Punkt. Dat Karlchen aber auch.“ (Karl und Sabrina schauen sich kurz an.)

„Jetz hammer die Sache schon schön im Jriff. Jetz müss mer mal klären, wo so ne Transitzon eijentlich is.“ Ein weiteres Mädchen meldet sich. „Mein Papa hat gesagt, die würden an der Grenze gebaut, zu Österreich oder so Ländern.“ Herr Dömmel strahlt. „Jittchen, dat is joldrichtig. Dein Papa bekommt auch ene Punkt.“ (Ein paar Schüler kichern, Gitte errötet etwas und setzt sich wieder.)

„Nu hammer de Transitzon so jut wie verstanden. Se hat mit dem Jrenzüberjang zu tun. En paar Sachen müsse mer uns aber noch erklären. Erstmal, wat is dat denn für ne Wort? Ich sag es euch, dat kommt mehr oder wenijer von de alte Römers, und drum is et Lateinisch. Da steckt dat Verb transire mit drin, dat heißt soviel wie durchjehen, und wat ene Zone ist, dat wisst er ja. Durchjangsbereich könnt mer also auch sajen zu de Transitzon.“

Finstere Jesellen wie der Räuber Hotzenplotz

Herrn Dömmels Miene wird etwas ernster. „Sacht mal, wenn da nu ener kommt und fragt ‚Warum baut er denn überhaupt so ne Transitzon, wenn de Migranten doch alle eijentlich bloß über de Jrenze wollen? Is et nur wejen der Kälte?‘, was sajen mer denn dann? Dat is ene jewichtije Fraje. Wat meint ihr denn?“ Die Schüler schauen nachdenklich. Herr Dömmel blickt aufmunternd in die Runde. Als sich niemand meldet, fährt er selber fort: „Also, da simmer jetz an ne ernste Thema. Unter de Miganten sind nämlich manchmal en paar finstere Jesellen. So ne Art Räuber Hotzenplotz, bloß dass bei dene de fiese Charakter noch viel ausjeprägter is. Die trajen dann zum Beispiel en Dolch im Jewande oder ne Pistol oder jar ne Säbel. Und so ne fiese Möpp möcht mer natürlich im eijenen Land nich haben. Also fracht mer de Leut en bisschen aus, woher des Wegs und wohin, mer schaut ne de Pässe an und klopft se en bisschen ab, bis mer weiß, mit wem mer et zu tun hat. Und weil dat ene Weile dauert und weil de Migranten in so jroße Haufen anjelaufen kommen, dass mer net hinterherkommt mit Angucken, Ausfrajen und Abklopfen kriegt mer ne Stau. Die Leute müsse ne Weile warten, bis se drankommen. Und drum braucht mer de Transitzon. Damit et alles seine Ordnung hat und damit keiner beim Warten friert oder nass wird, wenn et regnet oder schneit.“

Das war jetzt viel auf einmal, aber die Schüler schauen, wie junge Menschen schauen, die etwas verstanden haben. Auch Herr Dömmel macht einen zufriedenen Eindruck. „Kinder, jetzt sind mer schön voranjekommen. En Viertelstündchen ham mer noch. Jetzt nehmt er mal die Hefte raus und schreibt allet, wat er über de Transitzon jelernt habt, in euere eigene Wort auf. Und verjesst mer de Punkte und de Kommas dabei nich.“

Es ist schön zu sehen, wie die Klasse der Aufforderung folgt. Herr Dömmel hat sich eine Zeitung mitgebracht, hinter der er für den Rest der Stunde mehr oder weniger verschwindet. Man hört Kulis und Bleistifte über Papier gleiten. Ab und zu flüstert ein Schüler etwas zu einem anderen oder Herrn Dömmels Zeitung raschelt. (Dömmel hat sich übrigens seiner Schuhe entledigt und sitzt jetzt mit Ringelsocken am Pult. Die Schuhe hat er neben sich abgestellt. Ab und zu wirft er einen Blick auf sie, als wolle er sich vergewissern, dass sie noch da sind. Eigenartig.)

Da ertönt die Pausenglocke. Herr Dömmel verabschiedet sich freundlich von der Klasse und verlässt den Raum. Für fünf Minuten wird es wieder richtig laut.

Die Glocke ertönt erneut. Die nächste Stunde beginnt. Jetzt ist Sozialkunde dran. Herr Stechner kommt. Er ist mittelgroß, deutlich jünger als Dömmel, leger gekleidet.

Herr Stechner stellt seine Mappe ab, lehnt sich an das Pult und beginnt. „Guten Morgen allerseits. Wir haben uns letzte Woche mit der Flüchtlingsproblematik im Allgemeinen vertraut gemacht, heute befassen wir uns mit etwas Speziellem: der Transitzone. Ihr habt sicher schon davon gehört, aber – was ist los?“ Eine Art verwundertes Raunen ist durch die Klasse gegangen. Ein Schüler meldet sich: “Herr Stechner, wir hatten doch gerade den Herrn Dömmel, und der hat die Transitzone schon mit uns durchgenommen.“ Herrn Stechners Augen verengen sich etwas. „So so, der Herr Bömmel … hat er das … was hat er euch denn so erzählt, der Bömmel?“

Die Kinder liefern einen lebendigen Bericht. (Eine schöne Gelegenheit für uns, unsere Notizen zu ergänzen.) Herr Stechner hört schweigend zu. Seine Kiefer mahlen etwas. Etwas blasser kommt er uns vor. Nun hebt er die Hand. „Schluss damit.“ Die Angesprochenen verstummen. „Das ist ja wohl der HANEBÜCHENSTE Unsinn, den ich jemals gehört habe! Dieser Bömmel … aber gut, zum Glück kann ich euch zeitnah über den wahren Sachverhalt aufklären. Falschen Vorstellungen muss man entgegentreten, bevor sie sich zum Vorurteil verfestigen.“ (Herr Stechner hat seinen Kollegen wieder Bömmel anstatt Dömmel genannt, offenbar ist es kein Versprecher. Was steckt dahinter? Die Schüler scheinen es gewohnt zu sein.) Stechner schüttelt noch ein paarmal den den Kopf, dann steigt er ins Thema ein:

„Was also ist eine Transitzone, was hat man sich darunter vorzustellen? Ihr könnt sie euch als eine langgestreckte Höhle vorstellen, so eine Art Tunnel, nur, so möchte man sarkastisch hinzufügen, ohne Licht am Ende. Von mir aus auch als ein altes Fabrikgebäude oder ein paar Baracken. Darauf kommt es gar nicht an. Sie befindet sich an der Grenze, immerhin das hat der Bömmel auf die Reihe bekommen, und dient dazu, Flüchtlingen, die Hunderte und Tausende von Kilometern marschiert sind und deren letzte Hoffnung unser großartiges Land ist, den Weg abzuschneiden und ihnen so diese letzte Hoffnung zu rauben. Die armen Menschen werden abgefangen und dann scharenweise da hineingetrieben. Wenn sie nicht parieren, sogar mit Waffengewalt. Kinder, Frauen, Alte. Grad waren sie noch fröhlich auf einer Wiese unterwegs oder sie sind prustend und glucksend durch einen Fluss geschwommen oder sie kommen lachend aus einem Wäldchen marschiert, was weiß ich, und plötzlich werden sie umzingelt von ihnen wildfremden bewaffneten, uniformierten Männern. Die nehmen sie fest und transportieren sie zu der Transitzone, wo sich dann ein rostiges Tor hinter den armen Leuten schließt.“ (Herr Stechner schneuzt sich.) „Entschuldigung, es geht mir jedesmal nah, wenn ich davon berichte. Aber ich muss davon berichten. Auch euch Kindern, die ich nicht gern mit etwas so Grauenvollem belaste, kann ich die Wahrheit leider nicht ersparen. Die Wahrheit muss in die Welt, und ihr seid ja die Welt von Morgen.“

Aus der Transitzone hat keiner wen rauskommen sehen

Herr Stechner atmet tief aus. Ein Mädchen nutzt die kleine Pause. Es sieht mitgenommen aus. „Herr Stechner, weiß man denn, was in der Transitzone mit den Menschen geschieht? Also der Herr Dömmel hat gesagt…“ Herr Stechner fällt ihr ins Wort: „Der Bömmel, der Bömmel! Lasst doch endlich den Bömmel aus dem Spiel! Was weiß denn der? Gar nichts weiß der! Die Menschen verschwinden in der Transitzone, und was mit ihnen passiert, das weiß man nicht, der Bömmel schon gar nicht! Vielleicht werden sie immer wieder verhört, vielleicht schlägt man sie auch, vielleicht sterben sie an Hunger oder falscher Ernährung. Man weiß es nicht, das ist ja das Fatale!“ Herr Stechner ist ordentlich in Fahrt geraten. Er trocknet sich die Stirn ab. „Und apropos Bömmel, hat der nicht gesagt, dass die Transitzone auch am anderen Ende ein ‚Loch‘ habe, und hat er nicht versprochen, dass ‚wir das später kriegen‘ – na, und, hat er es nochmal erwähnt? Nein, hat er nicht! Und warum wohl? Ganz einfach: weil bislang niemand jemals einen Menschen aus der Transitzone wieder hat herauskommen sehen! – Ja, was ist denn jetzt schon wieder?“ In der hinteren Reihe hat sich ein schlaksiger Junge erhoben. „Herr Stechner, könnte das vielleicht einfach daran liegen, dass die Transitzonen noch gar nicht gebaut worden sind? Da kann dann doch noch gar niemand rausgekommen sein.“

„Aha,“ (Stechner ist jetzt ziemlich rot im Gesicht.) „unser Rüdiger. So etwas musste ja kommen. Das ist wieder so eine typische spitzfindige Bemerkung von unserem Oberschlaumeier.“ (Stechners Blick schweift kurz über die Klasse.) „Der Rüdiger, sitzt da hinten und weiß alles, nicht wahr? Der glaubt wohl, er könne uns kirre machen mit seinen Frechheiten.“ (Stechners Blick schweift nochmal über die Klasse.) „Also das gibt jetzt einen Strich.“ (Stechner macht sich eine Notiz in ein kleines rotes Buch.)

„So, wo war ich? Ach ja. Aber eigentlich sind wir jetzt auch durch mit der Sache. In der restlichen Zeit ist wie immer Eigentätigkeit von euch gefordert. Holt mal alle eure Tablets raus und startet den Browser.“

Ein paar Minuten vergehen, bis alle bereit sind. „Also,“ fährt Herr Stechner fort, „zur Vertiefung des Themas werden wir jetzt ein wenig im Internet recherchieren, um zu sehen, wie Medien und Parteien über das Thema denken. Dazu tragt ihr in das Suchfeld das Wort „Transitzone“ ein. Zusätzlich müsst ihr aber auch noch andere Wörter mit angeben, z. B. „Haftzentrum“, „Inhaftierung“, „Gefängnis“ o. ä., andernfalls bekommt ihr viel zu viele und größtenteils irreführende Treffer. Was ihr findet, tragt ihr in einer Datei zusammen. Dann ordnet ihr das und macht euch ein paar Gedanken dazu, nächste Woche schreiben wir eine Arbeit über das Thema.“

Der Rest der Stunde ist nicht weiter berichtenswert. Die Schüler waren ins Recherchieren vertieft, Herr Stechner half ab und zu bei technischen Problemen.

Wir haben den Schulunterricht nachdenklich verlassen. Wir haben gesehen, wie aufgeschlossen Lehrer und Schüler für die Themen der Zeit sind. Wir haben aber auch gesehen, dass die Spaltungen, die im öffentlichen Diskurs sichtbar sind, vor den Schulen nicht haltmachen: die Konfliktlinien verlaufen mitten durch die Lehrerkollegien. Was in unseren Schülern vorgeht, darüber können wir einstweilen nur spekulieren. Und pädagogisch, wer hat uns besser gefallen, wer wird der Aufgabe, unsere Schüler mit den Themen der Zeit vertraut zu machen, eher gerecht? Herr Dömmel mit seiner altmodisch anmutenden, aber ganz offensichtlich die Herzen der Schüler ansprechenden Art oder der herbere Herr Stechner, der das Thema entschieden kritischer und unter souveränem Einsatz moderner Medien angepackt hat?

Und nun Sie, liebe Leser, wat is ene Transitzon?

Wir haben noch keine klare Position. Und wir wollen auch gar kein Resümee ziehen. Stattdessen fragen wir Sie, liebe Leser: Was sind Ihre Empfindungen, Einschätzungen, Gedanken? Das Kommentarfeld ist geöffnet. Wir freuen uns auf Ihre Nachrichten!