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Abwärts immer

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Das Bundesministerium für Bildung und Forschung als freie Verfügungsmasse.

"Allee mit Trabi" von Bettina Hagen

Deutschland ist ein Land mit vielen Spezialitäten und noch mehr Spezifitäten. Die typisch deutsche Gründlichkeit und auch Genauigkeit findet nicht nur in den Produkten „Made in Germany“ weltweit ihren Anklang und ihre Abnehmer, sondern hat vor allem auch dem Bildungs- und Wissenschaftssystem in der Vergangenheit weltweite Anerkennung verschafft.

Will man in Deutschland einem Beruf nachgehen, benötigt man – wie fast in keinem anderen Land der Erde – eine mindestens dreijährige Lehre und das Bestehen einer meist staatlichen Prüfung, um in diesem Beruf erst einmal „klein“ anzufangen. Durch verschiedene Weiterbildungen, sei es im dualen System oder neuerdings in einem der mittlerweile über 18.000 verschiedenen Studiengängen, schafft man es vielleicht sogar zum „Meister“, „Bachelor“ oder gar „Master“. Für den „Höheren Dienst“ benötigt man zwei Staatsexamina. Will man noch höher hinaus, ist eine Promotion hilfreich. Der dahinter stehende Gedanke, dass man kompetent einen Beruf nur bei höchster Fachqualifikation leitend erfolgreich gestalten kann, ist aufgrund des Erfolges des „deutschen“ Systems durchaus einleuchtend und entspricht darüber hinaus auch ein wenig dem gesunden Menschenverstand.

Wir Deutschen sind aber noch viel genauer. Selbst für einfache Freizeittätigkeiten, wie beispielsweise das Angeln, braucht man einen entsprechenden Schein. Meist benötigt man dazu sogar eine Ausbildung, die in vielen Fällen durchaus anspruchsvoll und langwierig sein kann, man denke nur an den Jagdschein. Der Jagdschein erlaubt dann auch nur die Jagd, der Fischereischein das Angeln. Keinesfalls darf man mit dem Jagdschein Angeln oder mit dem Fischereischein auf die Jagd gehen. Würde ein Angler mit Fischereischein beim Jagen erwischt oder umgekehrt, sind gleich beide Scheine weg.

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Umso überraschender stellt man in den letzten Jahren bei der Vergabe von politischen Ämtern fest – und besonders bei der neuen Regierungsbildung -, dass bei der Besetzung der in unserem Gemeinwesen selbst an oberster Stelle zu vergebenden Spitzenämter von diesem eigentlich erfolgreichen Schema zunehmend abgewichen wird. Dabei geht jeder Wähler eigentlich wie selbstverständlich davon aus, dass die von ihm gewählte Partei und auch die Personen diejenigen mit einem hohen Verantwortungsbewusstsein sind. Bei einer Regierungsbildung erwartet man selbstverständlich, dass sich aus diesem Kreis dann auch diejenigen für die Ministerämter qualifizieren, die für das jeweilige Ministeramt die bestmögliche berufliche und für das ein oder andere Ministerium sicherlich auch wissenschaftliche Qualifikation und vor allem langjährige Erfahrung mitbringen. In besonderem Maße trifft dies für das Wissenschafts- und Bildungsministerium zu, da hier schon allein aufgrund des im Koalitionsvertrag weitgehend zurückgefahrenen Kooperationsverbots zukünftig mehr denn je die Weichen für den zukünftigen Erfolg der universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen gestellt werden. Denn schließlich hängt unser aller Wohlstand davon ab, dass Deutschland gegenüber anderen Volkswirtschaften hier die Nase vorn hat. Auch sei daran erinnert, dass der Einfluss von Wissenschaft und Forschung auf die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten enorm zugenommen hat.

Daher sollte man diejenigen Personen vor allem in diesem Amt erwarten, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit über eine langjährige Erfahrung sowie über grundlegende Kenntnisse der äußeren und inneren Strategien und Abläufe in diesem Segment verfügen. Wie soll jemand den gerade im Wissenschafts- und Bildungswesen vielfältigen und sich oft widerstrebenden Meinungen und Interessen der vielen Verbände und Lobbyisten argumentativ begegnen können, wenn man selbst von der grundlegenden Materie eigentlich keine Ahnung hat und auf die Worte anderer hören muss. Hier einfach nur „zuhören zu wollen“ ist sehr edel gemeint, aber doch ein wenig zu wenig für ein derartiges Spitzenamt.

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Die gern vorgetragene Argumentation, das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) verfüge über genügend qualifiziertes Personal und entsprechende Beratergremien, hier weiterhin kompetent arbeiten zu können, mehr als auf tönernen Füßen. Die Verantwortung für getroffene Entscheidungen trägt allein die Ministerin. Gerade auch die Betonung des Einflusses der Beratergremien auf Entscheidungsprozesse entpuppt sich bei genauerem Hinsehen mehr als problematisch. Die Drückerkolonnen der OECD, der Bertelsmann-Stiftung, einer international agierenden Testindustrie, die mit ihren selbst für Insider kaum zu durchschauenden Zahlenwerken und Rankingtabellen die Ökonomisierung und Banalisierung eines einst mal weltweit geachteten Bildungswesen auf den Weg gebracht haben, dürften in die Hände klatschen. Wer soll ihren Zahlenwerken widersprechen? Gleiches gilt für die international agierende Digitalisierungsindustrie, die das größte Stück des in den Koalitionsgesprächen beschlossenen 11 Milliarden Kuchens bereits vor dessen Ausgabe für sich verbucht. Digitale Medien können das bisherige Lernangebot sicherlich ergänzen, keinesfalls aber ersetzen. Dies sollte auch die neue Staatsministerin im entsprechenden Amt wissen, die laut Interview in der BILD ja anscheinend schon die Grundschulen nur noch mit Laptops arbeiten lassen will und die es schmerzt, wenn ihre Tochter noch „einen kiloschweren Ranzen voller Bücher in die Schule schleppt.“ Die Dame sollte wissen, dass an allen namhaften amerikanischen High-Schools, Colleges und Universities auch aktuell immer noch „textbooks“ verpflichtend für jede einzelne Veranstaltung vorgeschrieben sind. MOOC´s (Massive Open Online Courses), von denen man sich hierzulande immer noch eine entpersonalisierte und damit billige (Un-)Bildung verspricht, gelten in den USA als längst gescheitert. Ganz abzusehen von den gesundheitlichen Schäden einer immer weiter zunehmenden Nutzung von digitalen Endgeräten bereits im Kindes- und Jugendalter. Die Entscheidungen über die sicherlich notwendige finanzielle Unterstützung der Bildung aus Steuergeldern verlangt gerade von den Verantwortlichen ein hohes Maß an Fachkompetenz und Erfahrung, ansonsten wird man schnell zum Spielball externer Lobbyisten.

Schließlich dürfte generell die Besetzung von Spitzenämtern in der Politik in nahezu allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen seines Gleichen suchen, man denke nur an das Gerangel um derartige Posten auch bei den Sozialdemokraten, was ihnen zusätzlich viele Stimmen gekostet hat. Aber wie so oft ist das Ministerium für Bildung und Forschung entgegen allen Beteuerungen der politisch Verantwortlichen zur freien Verfügungsmasse geworden. Der Merkel´sche Spruch auf Nachfrage von Journalisten nach der neuen Ministerin „Ich denke, sie wird auch ein großes Herz für die Wissenschaft haben“, muss hier nicht weiter kommentiert werden. Sie weiß es anscheinend selbst nicht. Sie hätte auch sagen können „ich denke, sie schafft das“.

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Auch die Argumentation in der neuesten Ausgabe der Wochenzeitschrift Die Zeit, in der die Besetzung des Ministeramtes im BMBF aufgrund fehlender Fachkompetenz eher als positiv zu betrachten sei, schließlich sei es gar nicht so schlecht, wenn jemand unvoreingenommen die Sache betrachte, unkonventionelle Fragen stelle und keinen Expertenruf zu verteidigen habe, ist unter Anbetracht der Bedeutung des Ressorts so kaum nachzuvollziehen. Die Gefahr, sich in die babylonische Gefangenschaft des ein oder anderen Big Player im mittlerweile durchökonomisierten Bildungsmarkt zu begeben, liegt auf der Hand. Denn auch Die Zeit – wie sicherlich alle anderen Presseorgane auch – dürften kaum einen Chefredakteur an ihrer Spitze haben, der weder einen angemessenen wissenschaftlichen Werdegang noch über grundlegende Erfahrungen in diesem Bereich verfügt. Auf alle Berufe bezogen hieße das nicht anderes, als bei Stellenausschreibungen auf eine spezielle Ausbildung gänzlich zu verzichten. Wer Automechaniker kann, kann auch Rechtsanwalt. Oder um auf unsere Einleitung zurück zu kommen: wer Angeln kann, der kann auch zur Jagd gehen und umgekehrt. Ein Schein ist dafür ab sofort nicht mehr nötig.

Hans Peter Klein lehrt Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe Universität Frankfurt