Tichys Einblick
Ein Grüner über die Grünen

Betroffenheit statt Rechtsstaatlichkeit und Kampfgeist?

Wenige Tage vor der Wahl verzweifeln Grüne ob der schlechten Zahlen und des Versagens ihrer Spitzenleute Özdemir und Göring-Eckardt: Ihnen fehle praktisch alles, was die Grünen ausmachte. Wir dokumentieren den Aufschrei von Roland Appel.

© Steffi Loos/Getty Images

Viele fragen sich kurz vor der Bundestagswahl, warum die Grünen nicht in der Lage sind, die Steilvorlagen, die ihnen Flüchtlingskrise, Klimaexzesse, Dieselskandal und soziale Ungerechtigkeit bieten, in Tore und Erfolge ummünzen können. Warum sie bei sechs bis acht Prozent dümpeln, während AfD und FDP immer höher klettern. Grüne leben im Dilemma, dass sie mehr Kompetenz nachweisen müssen, als andere Parteien. Dies trifft sie wie die Linke – und daher brauchen sie – mehr als rechte Parteien auch ein gerütteltes Maß an Angriffslust und emotionaler Nähe zum Thema. Jutta Ditfurth, Joschka Fischer, Jürgen Trittin, Renate Künast und Claudia Roth, zuletzt Hans-Christian Ströbele standen für diese Haltung. An beiden „Tugenden“ – Fachkompetenz und Angriffslust – fehlt es ihrem Spitzenduo.

Wer zur Innenpolitik und den Bürgerrechten Stellung nimmt, sollte schon ein Mindestmaß an Kenntnis verfassungspolitischer Grundsätze verinnerlicht haben. Gegen die Vorratsdatenspeicherung kann man nicht aus dem Bauch heraus argumentieren, ohne verfassungspolitische Prinzipien zu kennen und sie erklären zu können. Dies musste die Spitzenkandidatin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt (KGE) vergangene Woche bei Maybrit Illner mit und gegen Thomas Oppermann und Thomas de Maizière schmerzhaft erfahren – deren technokratischer Rhetorik hatte sie praktisch nichts entgegenzusetzen, weil sie das Wesen der Rechtstaatlichkeit und die Prinzipien des Grundgesetzes nicht verinnerlicht hat. Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Unschuldsvermutung, Verhältnismäßigkeit – alles Begriffe der verfassungspolitischen Auseinandersetzung – , beherrscht KGE nicht oder es sind für sie nur gebriefte, mal gehörte Formeln, kein rechtspolitisches Herzblut. Das merken die linksliberalen Zuschauer, ein wichtiges Wählerklientel der Grünen. Sehr ungünstig, um zu punkten. Warum schickte sie dann nicht Von Notz oder Künast in diese Debatte?

In der GroKo keine Erneuerung
Warum Schulz der falsche Mann am falschen Platz ist
Richtig peinlich wurde es, als sie – im Duktus emotionaler Empörung für die Opfer – den Bundesinnenminister schalt, die Bundesbehörden hätten Amris Taten nicht verhindert, das Bundesamt für Verfassungsschutz hätte „den Fall nicht an sich gezogen“. Ein rechtspolitisches Eigentor erster Güte. Dass das der Bundesinnenminister sofort ausnutzte, indem er die Forderung aufgriff, dass das eine Kompetenz sei, die er schon längst einmal für ein einziges (!) Bundesverfassungschutzamt gefordert habe, fand er gut. Dass er damit jeder rechtstaatlichen Entwicklung widersprach und eine verfassungswidrige Forderung wiederholte, kam KGE mangels verfassungspolitischer Prinzipienfestigkeit gar nicht erst in den Sinn, geschweige denn, dass sie in der Lage gewesen wäre, es ihm verbal „links und rechts um die Ohren“ zu hauen. Stattdessen scheiterte die Grüne Spitzenfrau nochmal mit ihrer Beschwörung der Betroffenheit der Terroropfer im Zusammenhang mit Amri, als sie De Maizière vorwarf, er habe sich nicht genug um die Opfer Amris gekümmert. Worauf dieser belehrend kontern konnte, dass er wohl anders als sie mit den Familien gesprochen habe – bewegende und bedrückende Erlebnisse seien das gewesen. So lässt man rhetorische Angriffe glaubwürdig abperlen – oder umgekehrt: Betroffenheit in Kirchentagsmanier reicht im politischen Infight mit einem Innenminister einfach nicht aus.

Auch das Schlußstatement der grünen Frontfrau, dass Bürgerrechte und eine starke Polizei zusammen gehörten, blieb schal und inhaltslos, weil es von FDP, SPD oder CDU hätte stammen können. Diese müsste technisch mindestens so gut ausgestattet werden, wie die Banden, die sie bekämpfen müsste. Nicht gerade falsch, aber für eine Bürgerrechtspartei ungefähr so erfolgreich, wie der Versuch, mit einem Tretauto einen Formel 1 Grand Prix gewinnen zu wollen. Ein Grün-liberales Gegenmodell zum autoritären Polizei- und Obrigkeitsstaat vermittelt frau so wohl nicht – eher peinliche Inkompetenz. Erfolg sieht anders aus. Grün-intern gibt es nicht nur durchdachte Sicherheitskonzepte: Zudem wird auf Fachebene häufig darüber diskutiert, dass die Partei, sollte sie in die nächsten Regierungen kommen, endlich einmal ein Schlüsselressort wie das Innenministerium beanspruchen werden müsse. Denn schließlich wird seit Gerhart Baums Abgang 1982 das Bundesinnenministerium nur von CDU und CSU-Obrigkeitsstaatlern okkupiert. Dann müssten die Grünen aber auch personell diesen Anspruch ausfüllen können. Renate Künast und Hans-Christian Ströbele könnten das. Von Notz vielleicht auch. Nach KGE`s Auftritt bei Illner weiß die Republik, dass sie es nicht kann.

Aber es ist nicht nur die fehlende inhaltliche Kompetenz, die vor allem Göring-Eckardt abgeht. Es ist die fehlende emotionale Präsenz, die Bereitschaft, sei es durch Provokationen oder kleine Frechheiten, die man von Grünen einfach erwartet, unverhofft zu punkten. Göring-Eckardt ist in Podiumsdiskussionen immer höflich, immer seriös und auf eigenartige Weise distanziert. Man merkt ihr an, dass ihr Kirchentag eigentlich mehr liegt als politische Schlammschlacht mit groben Klötzen auf grobe Keile. Auch Cem Özdemir ist bemüht, in jeder gegebenen Situation den gereiften Staatsmann mit markiger Stimme zu geben. Wenn er sich zu Erdogan äußert, ist inhaltlich alles richtig vorgetragen, als wäre Cem schon Außenminister. Trotzdem sieht man die Grünen-Stammwähler quasi vor sich, die sich wünschen, dass er endlich auch mal einen provokanten Spottsatz über das Verhältnis Erdogans zur türkischen Ziegenpopulation fallen lässt.

Die andere Sicht
VW: Betrügen, Vertuschen und Diffamieren?
Nur wer über alle Facetten der politischen Kommunikation verfügt, kann die ganze Tastatur des Klaviers spielen. Die unnachahmliche Arroganz Jürgen Trittins im Umgang mit Atommanagern, die manchmal überbordenden Ausbrüche Claudia Roths gegen CSU-Flüchtlingspolitiker, der innerparteilich umstrittene Vergleich Joschka Fischers von Serbien mit den Nazis zur Rechtfertigung des Kosovo-Kriegseinsatzes – man musste sie nicht teilen, aber sie waren Markenzeichen zugespitzter Grüner Rhetorik, die jedermann/frau verstehen konnte. Sie fehlen im Wahlkampf der Grünen 2017. Sie waren zugleich Haltung und Meinung – vielleicht im besten Sinne das, was mit dem inzwischen verdorbenen Begriff „Populismus“ – bevor er zum verkappten Synonym für Rechtsextremismus wurde – ursprünglich gemeint war: So reden, dass bei breiten Schichten ankommt, was man zu sagen hat. Johannes Rau, Friedhelm Farthmann und Herbert Wehner konnten das, Helmut Schmidt sowieso. Franz-Josef Strauß (Vox populi – Vox Rindvieh), Edmund Stoiber, Hans-Dietrich Genscher, Gerhard Schröder und eben sowohl Jutta Ditfurth als auch Joschka Fischer, Bärbel Höhn und Hans-Christian Ströbele beherrschen dieses Metier. Die derzeitigen Spitzenleute sind da deutlich eingeschränkt. Das lässt sich wohl auf den letzten Metern nicht mehr korrigieren.

Und noch etwas fehlt: Als sich 1997 abzeichnete, wer bei den Grünen für was kandidiert, begann Joschka Fischer gemeinsam mit Wissenschaftlern, außenpolitische Aufsätze zu schreiben, er erarbeitete sich mit diesen Publikationen die Kompetenz, die er schließlich im Amt brauchen sollte – dass die junge Koalition in einen Krieg gezogen werden würde, konnte er nicht wissen. Trittin war Umweltminister in Niedersachsen gewesen und Renate Künast galt als Juristin als Allzweckwaffe, die die glücklose Andrea Fischer schnell ablöste. Welches Kompetenzprofil das Grüne Spitzenduo 2017 ausbildet, ist bisher sein Geheimnis geblieben. So wie die Zahlen aussehen, wird das auch nicht relevant. Ich wähle trotzdem grün – rein taktisch, das kleinere Übel. Denn wenn Deutschland die Klimaziele von Paris noch erreichen will, muss Schwarz-Gelb verhindert werden. Und um politischen Stillstand des Landes und weiteres Wachstum der AfD zu verhindern, gilt es, auch die GroKo unmöglich zu machen. Gerne hätte ich bessere Gründe gehabt.

Roland Appel ist einer der Sozialliberalen, die 1982 die FDP verließen. Von 1990 bis 2000 war er Mitglied des Landtages von NRW und ab 1995 einer der beiden Fraktionsvorsitzenden der Grünen. Seit 2000 ist Appel Unternehmensberater.

Dieser Beitrag erschien zuerst hier