Tichys Einblick
Student berichtet aus Russland

„Auch wir sind besetzt“: Wie der Westen das russische Volk im Stich lässt

Ein junger Russe sagt, die Sympathien der russischen Opposition gelten bedingungslos den Ukrainern, die auch unter Putin gelitten haben. Sie seien ebenso Putins Opfer wie diese. Aber Europa steht nicht unbedingt an ihrer Seite.

Russische Polizisten nehmen in St. Petersburg Demonstranten gegen den Krieg in der Ukraine fest, 6. März 2022.

IMAGO / ZUMA Wire

Im Westen redet man viel über Russland und die Russen – und wenig mit ihnen. Vor Jahren lernte TE-Autor Max Roland den St. Petersburger Studenten Georgiy Ostrow in Deutschland kennen. Er berichtet in diesem Artikel von seinem Leben in Putins Russland – und erzählt, wie die Opposition sich vom Westen übergangen fühlt. 

Am Morgen des 24. Februar wachte ich, wie viele andere, von Nachrichtenmeldungen auf, die mein Handy zum Glühen brachten. Es war etwas passiert, was niemand so richtig glauben konnte – Putin startete einen Angriff auf die Ukraine. Eigentlich hatte niemand dieses Szenario für realistisch gehalten – auch in Russland nicht. Aber der Wahnsinn (nicht die Dummheit) des russischen Präsidenten überwand alle Erwartungen, den gesunden Menschenverstand, legte den Grundstein für eine Neuverteilung der Weltordnung und zerstörte die Zukunft vieler Generationen von Russen. Darunter auch ich, ein 22-jähriger Student der Internationalen Beziehungen in St. Petersburg, ursprünglich aus den Industrieregionen Sibiriens stammend.

Putin stiehlt meine Zukunft nicht zum ersten Mal. Nach den Sanktionen und der Abwertung des Rubels konnte sich meine Familie meine Ausbildung in Europa nicht mehr leisten. Ich sah, wie der Lebensstandard der Menschen in meinem Milieu ständig sank und die Flamme der Hoffnung erlosch. Es war die erste Beraubung.

Trotzdem hat meine Generation, die ihr ganzes Leben unter Putin gelebt hat, nicht aufgegeben. Vielleicht ist es jugendlicher Freisinn, vielleicht ist es der Mangel an anerzogenem Gehorsam in den ersten postsowjetischen Generationen. Ich erinnere mich, wie die Menschen in meinem Alter um mich herum politisch aktiv waren: Wir lasen die Nachrichten in freien Zeitungen, überzeugten Eltern und Großeltern, stritten mit Lehrern in der Schule, gingen auf Demos zur Unterstützung des Oppositionellen Alexei Nawalny. Bei dreißig Grad Frost in Sibirien auf dem „Platz der Sowjets“, wo mehr Polizisten waren als wir Schulkinder. Im Laufe der Zeit nahm der Grad unserer politischen Aktivität zu, wir gingen häufiger zu Demos, wir wurden von der Polizei geschlagen und festgenommen, wir wurden von Universitäten vertrieben. Unsere An- und Wortführer, wie Boris Nemzow, wurden getötet oder zumindest Ziel von Anschlägen. Es wurde deutlich, dass selbst die gefestigtste Zivilgesellschaft von Tausenden von frei Denkenden nichts gegen die Autokratie Wladimir Putins ausrichten konnte.

Nachdem er das politische Feld in einer Atmosphäre vollständiger Kontrolle leergeräumt hatte, beschloss er, die Zukunft der Russen (und natürlich der Ukrainer) zum zweiten Mal zu berauben. Bevor die “Spezialoperation” begann, hielt Putin, wie Sie wissen, einen Vortrag der Pseudogeschichte: über die nicht existierende Ukraine, die Nazis und die Dekommunisierung. Ich habe mir diese Inszenierung mit vielen Studenten zusammen angesehen, denn wir haben immer noch ein politisches Profil. Wieder einmal scherzten wir darüber, wie realitätsfremd der ehemalige KGB-Offizier ist – Gerüchten zufolge nutzt er das Internet nicht. Und als Ergebnis seiner Rede gaben wir ein Urteil ab, das in einem populären russischen Witz zum Ausdruck kam: „Opa hat vergessen, seine Pillen zu nehmen.“ Aber die Witze waren an diesem Tag vorbei.

Denn dann gab es den verräterischen Angriff auf das brüderliche ukrainische Volk, ohne Kriegserklärung um 4 Uhr morgens – wie die Nazis, gegen die sich der Krieg angeblich richtet. Ich war verwirrt. Meine Freunde und ich trafen uns – doch wir redeten nicht. Wir saßen zusammen und schwiegen, fast wie eine Art kollektiver Therapie. Wir haben die Nachrichten jede Minute aktualisiert, alles so aktuell wie möglich verfolgt – schweigend, wahrnehmend, beobachtend. Viele von uns, wenn nicht alle, haben Verwandte und Freunde in der Ukraine.

Eine Atmosphäre von Angst, Entfremdung und Wut lag in der Luft. Natürlich hatten alle Jugendlichen, auch vorher nicht politisch aktive, die Idee, ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Bei den Demos am selben Tag sah ich alle: von Feministinnen und Sozialistinnen bis hin zu Libertären. Manche riefen sogar dazu auf, den Kreml und den Smolny (Verwaltungsgebäude in St. Petersburg) zu stürmen. Natürlich wurde dieser Drang schnell durch die Knüppel von Putins Kosmonauten (wie die Polizei hier genannt wird) zerschmettert.

Es ist kein Zufall, dass Wladimir Putin seine Unterdrückungsmaschine seit Jahrzehnten aufbaut. Zum Vergleich: Zu Beginn des Krieges waren mehr interne Truppen in Moskau, als russische Soldaten in der Ukraine. Viele im Westen fragen sich, warum die Russen sich nicht laut gemacht und gegen den Krieg aufgestanden sind: Das ist die Antwort. Moskau ist, wie ganz Russland, besetzt. Wenn die Ukraine Putin mit Unterstützung des Westens noch nicht besiegen kann, wie können wir, die verlassenen, ausgeraubten und entrechteten Russen, das schaffen?

In den folgenden Tagen und bis jetzt fallen alle Sanktionen der Welt auf Russland. Es geht um Russland, nicht um Putin. Anfang März begannen die EU-Staaten abwechselnd, die Visum- und Einreiseprozesse zu verweigern und den Luftraum für russische Flugzeuge zu sperren. Wen hat es betroffen? Die Russen, die 20 Jahre lang gegen Putin gekämpft haben, jetzt aber zur Flucht gezwungen wurden. Währenddessen flogen Putins Oligarchen mit in Griechenland, Deutschland und Malta registrierten Privatjets frei um die Welt.

Dann wurden wir von SWIFT ausgeschlossen und durften nicht mit russischen Karten bezahlen. Wen hat es betroffen? Vielleicht die Oligarchen in ihren Willen am Mittelmeer? Nein. Dies ist ein weiterer Schlag gegen die Opposition in Russland. Wir können nicht mehr für einen VPN-Zugang bezahlen, um auf blockierte Informationen im Internet zuzugreifen. Wir verlieren Zugang zu westlichen Medien, können Abonnements für deutsche, englische oder französische Zeitungen nicht mehr bezahlen. 

Natürlich gab es wirklich wirksame Wirtschaftssanktionen gegen Finanzinstitute und staatsnahe Banken. Aber selbst die ehrlichsten Oppositionsökonomen geben zu, dass die russische Wirtschaft zu groß ist, um zusammenzubrechen. Ja, 2022 gibt es einen starken Rückgang. Dann ist mit einer sehr schleppenden Erholung von 1-1,7 % pro Jahr zu rechnen. Dies bedeutet, dass es 8-12 Jahre dauern wird, um zum Vorkriegs-2021 zurückzukehren. Für das Leben einer Generation – eine kolossale Periode. Deshalb sage ich „Die Zukunft wurde gestohlen“.

Die Trümmerlandschaft, die die russische Wirtschaft darstellt, wird wiederaufgebaut werden können – für Putin, auf dem Rücken meiner Generation. Im Alltag gibt es natürlich einen Rückgang des Lebensstandards, Arbeitslosigkeit und Inflation. Da Bleichmittel im Ausland nicht gekauft werden können, liegt beispielsweise gelbliches Papier jetzt in den Verkaufsregalen. Mit dem Zusatz „eco“. Die Lebensmittelpreise sind gestiegen, es ist schwieriger geworden, importierte Haushaltsgeräte oder ein Auto zu kaufen. Darüber hinaus gibt es die Meinung, dass wir „von Trägheit“ leben, das heißt, dass im Sommer ein mehr oder weniger spürbares Defizit in bestimmten Bereichen bestehen wird. All dies ist ein großer Verlust für die russische Bevölkerung. Putins Herrschaft war schon vorher nicht berühmt für ihre Wirtschaftspolitik – das hat sich jetzt massiv verschlechtert.

Doch abseits der Wirtschaft wird Putin persönlich nur von den Entwicklungen profitieren. Vergessen wir die Prozentzahlen, die Wirtschaftsleistung angeben und prognostizieren: Es ist einfacher, die Macht zu behalten in einem Land, in dem sich die Bürger das Lesen ausländischer Medien nicht leisten können und der Großteil ihres Gehalts für Lebensmittel bezahlt wird. Ich befürchte die Stärkung seines Regimes, wie es bei Venezuela, Kuba und dem Iran der Fall war.

Alle internationalen Menschenrechtsorganisationen und Stiftungen verließen Russland oder wurden ausgewiesen. Russland wurde aus dem Europarat ausgeschlossen. Das bedeutet, dass ein von der Polizei geschlagener oder gar vergewaltigter Russe vor dem EGMR kein Recht finden kann. Russland ist vom Westen und seinen weltgemeinschaftlichen Institutionen vollständig abgekappt – doch Putin ist damit auch entfesselt. Jetzt kann er noch offener und ungestrafter politische Gegner töten und jeden Widerstand mit Gewalt unterdrücken.

Ich bin Olaf Scholz natürlich dankbar für seine Aussage, dass dies Putins Krieg ist, nicht der des russischen Volkes. Ich habe gesehen, wie der gesamte Bundestag für die protestierenden Russen aufgestanden ist. Aber was sind diese Unterstützungssymbole wert, wenn Europa Putin weiterhin für (von Russen gestohlenes) Gas bezahlt? Mit diesem Geld werden nicht nur Panzer und Raketen gebaut, sondern auch Polizeiknüppel – „für den heimischen Markt“.

Deshalb verstehe ich die Russophobie nicht, die gelegentlich in Europa aufkommt. Florence Gaub in der Sendung von Markus Lanz nannte die Russen „nicht Europäer“, weil wir eine kürzere Lebenserwartung haben. Das ist wahr: Aber nicht weil wir in Russland andere, rückständigere Menschen sind, sondern weil es unmöglich ist, in Putins Russland lange zu leben, wo es 17 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze gibt – Tendenz, auch dank der Sanktionen, sehr steigend.  Zudem werden diese Sanktionen, die Rentnern und anderen politisch Inaktiven das Leben schwer gemacht haben, bereits von der Staatspropaganda als Beweis für die „endemische Feindseligkeit des Westens“ herangezogen. Damit wird Putins Eigenverantwortung auf die ganze Nation gesprüht und Hass ausgebreitet. Wem ist das besonders nützlich? Putin.

Noch skandalöser ist, wenn man sagt, Putin hätte die Gräuel, die er tut, nicht ohne die Unterstützung der Bevölkerung angestellt. Normalerweise beziehen sich diese Leute, wie Florence Gaub, auf die Forschungsinstitute für öffentliche Meinung WZIOM und Lewada. Nur werden diese seit langem vom Staat kontrolliert und geben nur „bequeme“ Zahlen heraus, indem sie die Methodik ihrer Umfragen manipulieren. Mit gleichem Wert kann man auf die „offiziellen“ Ergebnisse der Wahlen in Tschetschenien verweisen. Was unabhängige Umfragen betrifft, so ist eine objektiver Auswahl in einer Atmosphäre der Angst unmöglich. Ich selbst habe mich auf der Straße dreimal geweigert zu antworten, denn wenn ich antworte, dass ich gegen den Krieg und Wladimir Putin bin, kann ich für eine lange Zeit „Verschwinden“. Dementsprechend nehmen nur diejenigen an solchen Umfragen teil, die eine “sichere” Antwort haben. 

Ich selbst kann nicht für die ganze Generation und erst recht nicht für alle Russen sprechen, aber ich fühle und sehe, dass wir – liberal gesinnte Oppositionsrussen – getäuscht und im Stich gelassen wurden. Ja, Wladimir Putin hat unsere Zukunft mit Füßen getreten – aber wir fühlen uns auch von der ganzen Welt und dem europäischen Establishment im Stich gelassen. Denn während wir mit Putin seit 20 Jahren Krieg führen, setzen sie sich mit ihm an den Verhandlungstisch, verkaufen Waffen, bauen Gaspipelines, verleihen seinen Oligarchen den Ritterschlag. Jetzt verhängen sie Sanktionen, die unschuldige Russen hart treffen, aber nicht Putin, und finanzieren weiterhin sein Regime mit Gasgeld.

Mir ist klar, wer im ukrainischen Krieg das Opfer und wer der Aggressor ist. Die Sympathien der russischen Opposition gelten bedingungslos den Ukrainern, die auch unter Putin gelitten haben. Sie sind Putins Opfer – auch wir sind Putins Opfer. So stehen wir solidarisch zu unseren ukrainischen Brüdern. Aber auf welcher Seite Europa steht, ist alles andere als klar.

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