Tichys Einblick
Verpasste Chance: Allgemeine Dienstpflicht

Alles Militärexperten – oder was?

Deutsche Politik und Gesellschaft scheinen aufgewacht, der „Zeitenwende“ zugewandt. Doch solange politisches Mittelmaß Politik macht, bleiben eben die „Zeitenwenden“ im Mittelmaß stecken: Scholz fehlte der Mut, neben dem Sondervermögen der Bundeswehr auch die allgemeine Dienstpflicht einzuführen.
Von Prof. Dr. Berthold Löffler

IMAGO / Metodi Popow

Deutschland ist das Land der Experten. Vor gut einem Jahr waren es in Deutschland gefühlte 66 Mio. Grundrechtsexperten, die im gesellschaftlichen Coronadiskurs mitmischten. Seit dem 24. Februar 2022 hat sich ein neues Segment von Fachleuten zusammengefunden: die Militärexperten. Ausgewiesen in Sachen Ukrainekrieg und Bundeswehr. Das sind vielleicht nicht ganz so viele, wie es Grundrechtsfachleute gab. Aber immerhin noch ein Vielfaches der auf die zahlenmäßige Stärke eines größeren deutschen Landesfeuerwehrverbandes geschrumpften Bundeswehr.

Trotzdem scheint mächtig etwas in Bewegung geraten zu sein. Mit Verblüffung nimmt man zur Kenntnis, wie sich unsere Außenministerin gerade für die Lieferung „schwerer Waffen“ an die Ukraine erwärmt. Nach Plastikhelmen und Kopfkissen jetzt also Luftgewehre? Zur Illustration ein weiteres beeindruckendes Beispiel. Toni Hofreiter, nach eigenem Bekunden bis zum 24. Februar überzeugter Pazifist, brillierte jüngst bei Markus Lanz mit militärtechnischen Details zu russischen Kampfpanzern der legendären T-Baureihe. Er brachte dabei zwar noch ein paar wesentliche Dinge durcheinander, aber angesichts der Tatsache, dass er sich noch in der Einübungsphase befindet – geschenkt. Auf spitzenpolitischer Ebene jedenfalls scheint die militärische Expertise an Renommee zu gewinnen, auch wenn noch einiges im Argen liegt, wie man sehen kann.

Strack-Zimmermann gibt in Talkshows militärfachlichen Unsinn zum Besten

Ein schönes Exempel dafür gibt auch die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, ab. Mit dem abgebrühten Blick eines auf deutschen Kasernenhöfen ergrauten Stabsfeldwebels gibt sie in den einschlägigen Talkshows militärfachlichen Unsinn zum Besten. Nur ein Beispiel. Zur Frage, wie sie zur Reaktivierung der Wehrpflicht stehe, erklärte sie mit bewundernswerter Selbstsicherheit, wehrpflichtige Soldaten störten nur in einer hochtechnisierten Armee von Hightech-Spezialisten. Man brauche nicht mehr Masse, sondern Klasse. Statt Massen von Panzergrenadieren eine kleine Elite von Cyberspezialisten, statt Massen von infanteristischen Territorialverteidigern eine Handvoll Drohnenpiloten.

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Dabei hätte sich doch Frau Strack-Zimmermann nur ein bisschen in den sozialen Medien umsehen müssen. Dort ist eine vieltausendfach angeklickte Sequenz zu finden, in der russische Panzer in den Hinterhalt ukrainischer Panzerjäger geraten – und auseinandergenommen werden. Warum? Die Russen hatten sich das Zusammenwirken mit ihrer Begleitinfanterie gespart. Ist es deshalb vermessen zu vermuten, dass Frau Strack-Zimmermann noch ziemlichen militärwissenschaftlichen Nachholbedarf hat? Wie war das noch mal? Grenadiere überflüssig? Raumverteidigung, Objektschutz, Unterstützung der Frontverbände, Sicherung der rückwärtigen Bereiche und des Nachschubs, Bekämpfung eingedrungener Kommandosoldaten des Feindes praktisch ohne Personal? Frau Strack-Zimmermann, da müssen wir wohl in der nächsten parlamentarischen Sommerpause erst mal zur Nachhilfe in eine Unteroffiziersschule. Denn hätte unsere parlamentarische Verteidigungsoberexpertin recht, machten die Ukrainer im Augenblick alles falsch und die Russen fast alles richtig.

Nun, natürlich sollten wir auch nicht allzu kleinlich sein und uns über den Sinneswandel freuen, der sich bei Sozis oder Grünen gerade einstellt. Es kommt ja auch zu so schönen Bekenntnissen wie man sie etwa vom grünen baden-württembergische Ministerpräsidenten Kretschmann hören kann. Sein Traum: Die Bundeswehr als „starke Armee“, wie er erst vor ein Tagen zugegeben hat. Bravo!

Scholz hat es nicht einfach gegenüber parteiinternen Putinverstehern

Und sollten wir uns nicht am meisten freuen über unseren Bundeskanzler? Der merkelt im Großen und Ganzen zwar unverdrossen weiter, aber zugegeben auf etwas höherem sprachlichen Niveau als seine Vorgängerin. Für die Bundeswehr hat er immerhin eine Zeitenwende angekündigt. Im Gegensatz zu Merkel nicht ohne ein gewisses Risiko. Denn Merkel konnte sich seinerzeit sicher sein, dass ihre Partei, die sich noch 2010 als „Partei der Wehrpflicht“ aufblähte, ihr ein Jahr später wie immer in unverbrüchlicher Gefolgschaftstreue in die Aufhebung derselben folgte. Dagegen hat es Scholz nicht ganz so einfach, Führung zu mimen gegenüber den clandestinen Putinverstehern in seiner Partei, in der noch immer niemand so recht an seine Führungsqualitäten glaubt. Aber auch hier bewahrheitet sich leider die Regel, dass Mäuse selten Elefanten gebären.

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Statt eines wirklichen Kurswechsels der deutschen Sicherheitspolitik kommt nur etwas heraus, was den politisch Fantasielosen in der Bundesrepublik immer einfällt, wenn politische Seifenblasen nicht mehr weiterhelfen: Geld. Aber man darf gespannt sein, wohin überall die 100 Milliarden am Ende gehen. Der Berliner Tagesspiegel hat schon mal eine Wunschliste der Begierden veröffentlicht. Von wegen Rüstungsgüter. Nein, nein, das Sondervermögen sei auch für Sicherheit in einem breiteren Verständnis gedacht. Etwa für den Zivilschutz oder die Abwehr von Cyberangriffen. Oder für feministische Außen- und Sicherheitspolitik. Auch Claudia Roth hat eigene Vorstellungen entwickelt: Kulturpolitik sei auch Sicherheitspolitik. Und ich vermute, das wird noch nicht das Ende sein. Hat jemand schon an die neuen Beraterverträge gedacht? Oder an Handbücher und Fortbildungskurse für Vorgesetzte zur gendergerechten Sprache in der Bundeswehr? Und geht es jetzt endlich mit den Unisextoiletten in den Kasernen voran?

Die Zeitenwende hätte ein großer Wurf werden können, wenn, ja wenn der Bundeskanzler mit dem 100 Mrd. Paket zeitgleich die Wiedereinführung der Wehrpflicht oder einer allgemeinen Dienstpflicht angekündigt hätte. Vielleicht hätten ihn die Mützenichs in seiner Partei, die FDP und Teile der Grünen hängen lassen. Aber unserer „Partei der Bundeswehr“ wäre gar nichts anderes übriggeblieben als Scholz zu stützen. Und wenn es auch nur darum gegangen wäre, sich einen letzten Rest von sicherheitspolitischer Glaubwürdigkeit zu retten. So aber wird es vermutlich bei den üblichen Halbheiten bleiben.

Die allgemeine Dienstpflicht wäre ein großer Wurf gewesen

Ein großer Wurf, vielleicht sogar etwas, was man „Zeitenwende“ hätte nennen können, wäre gewesen, beides zu tun: Geld für die Aufrüstung und allgemeine Dienstpflicht. Vor allem die allgemeine Dienstpflicht! Die Verteidigungsfähigkeit einer Nation entsteht nämlich zu allererst durch den Konsens der Bürger, dass es überhaupt etwas gibt, das der Verteidigung lohnt. Dem wiederum folgt die gesellschaftliche Einsicht, dass Landesverteidigung eine gemeinsame Angelegenheit aller Bürgerinnen und Bürger ist. Ob die geistig und materiell hochgradig demilitarisierte deutsche Bevölkerung auf diesem Erkenntnisstand bereits angekommen, ist fraglich. Die Politik jedenfalls ist es nicht.

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Die Bundeswehr jedenfalls wird parteiübergreifend weiter nur mit spitzen Fingern angefasst. Egal wie die Verteidigungsministerinnen heißen, ob Leyen oder Lambrecht. So lange die Ministerinnen damit ausgelastet sind, in Bundeswehrkasernen nach alten Wehrmachtskochlöffeln zu fahnden, wird das nichts. Auch sich mit der Frage zu plagen, ob „waffenaffine“ Männer überhaupt etwas bei deutschen Streitkräften zu suchen hätten, ist schon ein bisschen sehr schräg. Das wäre so, wie wenn die Handwerkskammern versuchen würden, „holzaffine“ Jugendliche daran zu hindern, eine Schreinerausbildung zu beginnen.

Die Bundeswehr wieder in die Mitte der Gesellschaft zu holen, haben die staatstragenden Parteien einstweilen also nicht ernsthaft vor. Denn in unserer hoch arbeitsteiligen Gesell-schaft sind für die unappetitlichen Dinge der Daseinsvorsorge Spezialisten zuständig: Leichenbestatter, Müllmänner oder Soldaten. Aber bitte schön unauffällig bleiben.

Scholz hätte sich mit seiner „Zeitenwende“ vielleicht sogar in die Geschichtsbücher beamen können, wenn er den großen Wurf gewagt hätte. Hat er aber nicht. Und solange politisches Mittelmaß Politik macht, bleiben eben auch die „Zeitenwenden“ im Mittelmaß stecken.

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