Tichys Einblick
Dokumentation "Prüffall"

AfD als „Prüffall“ des Verfassungsschutzes – ein juristischer Kommentar

Sensation diese Woche: Die AfD wird zum "Prüffall" des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) erklärt. Wie gefährlich ist die AfD - und wie gefährlich ist das Vorgehen für die AfD? Dietrich Murswiek, emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg, zur Pressekonferenz des BfV.

Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Der Verfassungsschutz darf nach den Verfassungsschutzgesetzen des Bundes und der Länder eine politische Partei beobachten, wenn er hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür hat, dass die Partei verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt; das heißt, dass sie die freiheitliche demokratische Grundordnung oder eines ihrer Elemente (Demokratie, Rechtsstaat, Menschenwürdegarantie) beseitigen will.

Politiker der etablierten Parteien fordern seit langem die Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz. Nun sind das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Landesbehörden für Verfassungsschutz nach einer monatelangen Auswertung von über 1.000 Seiten Material zu dem Ergebnis gekommen, dass nach derzeitigem Erkenntnisstand die gesetzlichen Voraussetzungen für die Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz nicht erfüllt sind. Kommuniziert wird aber nicht: „Die AfD darf nicht durch den Verfassungsschutz beobachtet werden“, sondern kommuniziert wird: „Der Verfassungsschutz erklärt die AfD zum Prüffall“. Das ist nicht falsch, aber es verschiebt die Akzente in der öffentlichen Wahrnehmung fundamental. Die erste Aussage entlastet die AfD, die zweite prangert sie als „Fall für den Verfassungsschutz“ an.

Das ist juristisch höchst problematisch. Um das Problem zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass es hinsichtlich der Beobachtung von Parteien und anderen Organisationen durch den Verfassungsschutz verschiedene Stufen gibt: Ergibt eine informelle Vorprüfung, dass Anhaltspunkte für den Verdacht vorliegen, dass eine Organisation verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt, wird sie behördenintern zum Prüffall erklärt. Jetzt erfolgt eine systematische Prüfung anhand öffentlich zugänglicher Quellen. Die Einstufung als Prüffall sagt darüber, ob die betreffende Organisation verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt und in diesem Sinne „extremistisch“ ist, nichts aus. Die Vorprüfung soll lediglich herausfinden, ob es so viele und so gewichtige Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung gibt, dass dies die Beobachtung durch den Verfassungsschutz rechtfertigt. Wenn sie zum Ergebnis kommt, dass die Beobachtungsvoraussetzungen erfüllt sind, wird die betreffende Organisation zum „Verdachtsfall“. Auch dann steht also ihre Verfassungsfeindlichkeit noch nicht fest, aber dann darf sie auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln – etwa durch Einsatz von V-Leuten – beobachtet werden. Auch die Beobachtung muss ergebnisoffen sein. Sie muss beendet werden, wenn der Verfassungsschutz nicht nach angemessener Zeit hinreichendes Belastungsmaterial gefunden hat, mit Hilfe dessen er die Verfassungsfeindlichkeit der Organisation beweisen kann. Wenn die Verfassungsschutzbehörde zu der Überzeugung gelangt, dass sie diesen Nachweis führen kann, stuft sie die Organisation als „Fall erwiesener Verfassungsfeindlichkeit“ ein.

Die Einstufung einer Organisation als Prüffall ist gesetzlich nicht geregelt (außer in Niedersachsen). Es handelt sich um eine interne Entscheidung der Verfassungsschutzbehörden, die – bevor sie eine Organisation beobachten – natürlich zunächst prüfen müssen, ob die Voraussetzungen für die Beobachtung gegeben sind. Die Schwelle der Voraussetzungen hierfür liegt niedrig. Geprüft wird aufgrund vorhandener Verdachtsmomente, also aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte, die auf verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der betreffenden Organisation hindeuten. Solche Anhaltspunkte können sich bei politischen Parteien vor allem aus Äußerungen von Politikern ergeben. In diesem Sinne verfassungsschutzrechtlich relevante Äußerungen und Verhaltensweisen lassen sich bei Politikern aller Parteien finden. Sie führen nicht zur Beobachtung und auch nicht zum „Prüffall“, solange sie vereinzelt bleiben. Wenn sie sich häufen oder wenn sie sehr schwerwiegend sind, kann eine systematische Vorprüfung geboten sein – dann erfolgt die Einstufung als Prüffall. Im Falle der AfD spricht das Bundesamt für Verfassungsschutz von „Verdachtssplittern“, die „nicht hinreichend verdichtet“ seien, um eine Beobachtung einzuleiten, aber die zur Bearbeitung als Prüffall geführt hätten. Gerade weil die Verfassungsschutzbehörden einen erheblichen Einschätzungsspielraum hinsichtlich der Entscheidung haben, ab wann sie eine systematische Vorprüfung vornehmen, muss die Entscheidung über die Einstufung als Prüffall eine behördeninterne, nicht der Öffentlichkeit mitgeteilte Entscheidung bleiben.

Wenn nämlich, wie jetzt im Fall der AfD, die Einstufung als Prüffall öffentlich verkündet wird, dann bleibt sie keine Entscheidung im Innenleben des Geheimdienstes, sondern dann entfaltet sie öffentliche Wirkung, nämlich Stigmatisierungswirkung: Die Partei wird vom Verfassungsschutz geprüft. Das ist es, was in der Öffentlichkeit ankommt. Dass sie nur zum dem Zweck geprüft wird, festzustellen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Beobachtung gegeben sind, wird kaum wahrgenommen. Bereits die Verkündung des Prüffalls hängt der Partei das Odium des Extremis-musverdachts an, obwohl es ja nur der Verdacht ist, dass ein die Beobachtung rechtfertigender Verdacht gegeben sein könnte. Das ist ein schwerwiegender Eingriff in die Rechte der Partei. Ob dieser Eingriff sich rechtfertigen lässt, hängt von verschiedenen Umständen ab. Die Rechtfertigung könnte schon daran scheitern, dass eine gesetzliche Grundlage für diesen Eingriff fehlt. Im übrigen gehört es zu den Grundlagen der Demokratie, dass die politische Willensbildung vom Volke ausgeht und grundsätzlich ohne hoheitliche Einwirkung stattfindet. Deshalb darf der Verfassungsschutz sich mit Bewertungen politischer Parteien in den öffentlichen Meinungskampf erst dann einmischen, wenn deren Verfassungsfeindlichkeit feststeht, keinesfalls aber bereits im Prüffall. Andernfalls könnte die Ausrufung des Prüffalls zu leicht missbraucht werden, um einer Partei – insbesondere in Wahlkämpfen – zu schaden. Denn die Voraussetzungen für die Vorprüfung sind gering, und ihre Handhabung ist leicht manipulierbar.

Soweit ich sehe, ist bisher die Einstufung als Prüffall immer eine interne, nicht öffentlich kommunizierte Angelegenheit der Verfassungsschutzbehörden geblieben. Mir ist kein anderer Fall bekannt, in dem der Verfassungsschutz die Einstufung als Prüffall öffentlich bekanntgegeben hat. Das Bundesamt für Verfassungsschutz – und zuvor bereits die thüringische Verfassungsschutzbehörde – werden erklären müssen, warum sie im Fall der AfD von dieser Praxis abgewichen sind und die Einstufung als Prüffall zur öffentlichen Sensation gemacht haben.


Dietrich Murswiek ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg.