Tichys Einblick

Teil 4 Russland: mit Hochgeschwindigkeit in den Abgrund

Es trifft Russland hart, dass Ministerpräsident Dimitri Medwedew gestern öffentlich eingestand, dass sein Land faktisch bankrott ist. Analytiker überraschte das nicht – aber in seiner Offenheit ist es mehr als ungewöhnlich, wo Putin nur wenige Tage zuvor im Gespräch mit einer mangelhaft vorbereiteten BILD-Chefredaktion der staunenden Öffentlichkeit noch etwas von „300 Milliarden Dollar in Goldreserven“ erzählt, über die sein Land angeblich verfüge.

Kreml

Manche Erkenntnis kommt erst mit Verspätung. Und so traf es dieses Mal Russland mit brutaler Härte, als am 13. Januar dessen Ministerpräsident Dimitri Medwedew öffentlich eingestehen musste, dass sein Land faktisch bankrott ist. Analytiker konnte dieses Eingeständnis nicht überraschen – und doch ist es in seiner Offenheit mehr als ungewöhnlich, hatte der russische Präsident nur wenige Tage zuvor im Gespräch mit einer mangelhaft vorbereiteten BILD-Chefredaktion der staunenden Öffentlichkeit noch etwas von „300 Milliarden Dollar in Goldreserven“ erzählt, über die sein Land angeblich verfüge.

Das entspräche bei dem zu diesem Zeitpunkt aktuellen Goldpreis von 1.100 USD je Feinunze rund 8.500 Tonnen Gold – Russlands Edelmetallschatz müsste sich innerhalb nur eines Jahres aus eigener Förderung versiebenfacht haben und hätte mit dieser exorbitanten Menge neuen Goldes den weltweiten Goldhandel in den Zusammenbruch und Russland in den Offenbarungseid getrieben.

Um nun Russlands aktuelle, selbstverschuldete Misere zu verstehen, müssen wir einen Blick zurück auf die Jahre 2014 und 2015 werfen.

Russlands Haushalt 2014 und Ausblick

Bislang liegen für das abgelaufene Jahr 2015 keine abschließenden Zahlen vor. Doch hat beispielsweise das deutsche Außenamt bereits Zahlen für das erste Halbjahr 2015 veröffentlicht. Des weiteren sind die Basiszahlen des 2014er Haushalt bekannt und werden von der CIA mit (eingestellten) 378 Milliarden USD beziffert. Damals stand ein Außenhandelsüberschuß in Höhe von rund 190 Milliarden zur Verfügung, sodass die vorgesehene Einnahme aus innerstaatlichem Handeln auf gut 180 Milliarden USD angesetzt werden kann. Das liegt deutlich unter dem Budget beispielsweise von Österreich, welches – anders als Russland – über keine nennenswerten Rohstoffexporte verfügt und dennoch 2015 einen Haushaltsansatz von 218 Mrd USD einbrachte und allein mit seinem Export von Gütern und Maschinen 2014 fast den Betrag des russischen Binnenhaushalts erwirtschaftete.

Ausgehend vom Anwachsen der russischen Staatsbank-Reserven in den Vorjahren dürften im russischen Haushalt 2014 erneut bis zu 50 Milliarden als Rücklagen gedacht gewesen sein. Wenn nun Russland am Ende des Jahres 2014 nicht nur keine weiteren Rücklagen gebildet hat, sondern seinen bestehenden Staatsschatz um 124 Milliarden USD plündern musste, dann schlagen nicht nur diese 124 als Defizit zu Buche, sondern auch der Ausfall weiterer Rücklagen für die Reserve. Putin wird daher 2014 insgesamt rund 170 Milliarden USD mehr ausgegeben haben, als ursprünglich geplant gewesen war  – und die Ausgaben haben sich von 378 auf über 550 Milliarden USD erhöht. Da beispielsweise die außergewöhnlichen Ausgaben für die Sotchi-Winterspiele – 9,5 Milliarden USD allein für die Infrastruktur – seit längerem bekannt gewesen sind, hatten sie bereits im Haushaltsansatz Niederschlag gefunden.

Mit anderen Worten: Russland hat bereits 2014 seinen hybriden Krieg gegen den Westen nebst Einvernahme der Krim und Destruktion in der Ukraine und anderswo mit jenen Mehrausgaben in Höhe von 170 Milliarden Dollar bezahlt. Teil dieses Defizits sind massive Stützungskäufe für den Rubel – laut Russischer Staatsbank allein im Dezember 2014 über 18 Mrd USD – und die Finanzierung der russischen Staatsunternehmen, die bei ausländischen Banken vergeblich um Kredite nachsuchten. Dafür musste Russlands Staatsbank nach eigenen Angaben bereits auf den Nationalen Wohlstandsfond zurückgreifen, der nach russischen Angaben Anfang 2015 noch mit 74 Mrd USD gefüllt war.

Da Russland sein Engagement 2015 neben den fortgesetzten Außeneinsätzen in der Ukraine, Georgien, Azerbaidjan und Moldawien um einen komplexen Kriegseinsatz in Syrien erweitert hat, werden die Ausgaben im Haushaltsjahr 2015 kaum unter denen des Vorjahres liegen, sondern eher weiter gestiegen sein. Putin hätte damit 2015 im russischen Staatshaushalt bei überaus freundlicher Schätzung mindestens 500 Milliarden, bei realistischer Schätzung jedoch eher 600 Milliarden Euro zu decken gehabt.

Allein rund zehn Milliarden für Krim und Propaganda

Darunter fallen, um einige bekannte Positionen zu benennen, die ursprünglich geplanten Infrastrukturmaßnahmen für die Krim in Höhe von jährlich 4,4 Milliarden ebenso wie die Subventionierung der Halbinsel mit geschätzten mindestens drei Milliarden – so viel kostete die Halbinsel bereits die Ukraine jährlich. Damals aber konnte die Versorgung vom ukrainischen Festland erfolgen und die Halbinsel war ein beliebter ukrainischer Urlaubsort.

Da nunmehr der Touristenstrom aus der Ukraine zum Erliegen gekommen ist und durch russische Urlauber, die es auf den „Tempelberg der Russen“ (so Putin) zieht, nicht einmal ansatzweise ersetzt werden konnte; da weiterhin so ziemlich alles von Russland über sie Straße von Kertsch oder per Lastflug angeliefert werden muss und die Stromversorgung aus der Ukraine nach mehreren Sabotageakten höchst problematisch ist, geht der ehemalige russische Finanzminister Alexej Kudrin sogar von bis zu sieben Milliarden USD aus, die Putins Landgewinn Russland im Jahr kostet.

Ein weiterer, maßgeblicher Posten sind die Kosten für die hybride Kriegsführung des General Gerassimow im westlichen Ausland. Für diese Subversion – von der Unterhaltung ihrer medialen Propagandakanäle bis hin zur Finanzierung rechtsradikaler Parteien wie Front National und im Ausland tätiger, russischer NGOs – hat die Moskauer Administration 2015 nach einer von InformNapalm im vergangenen Dezember vorgelegten, detaillierten Auflistung rund 3,5 Milliarden Dollar investiert.

Russlands innerstaatliche Einnahmen

Zieht man von den Haushaltzahlen des Jahres 2014 jenen Exportüberschussanteil in Höhe von damals 190 Milliarden USD ab, so lagen die Einnahmen aus Russland selbst ebenfalls bei 190 Milliarden. Diese Zahl berücksichtigt jedoch bereits die Steuern, die nicht nur aus dem Öl- und Gasgeschäft vor dem Außenhandelsüberschuss in den Haushalt geflossen sind – und diese gehen parallel zum Ölpreis ebenfalls zurück. Die nachfolgend zugrunde gelegten 190 Milliarden innerrussischen Einnahmen sind insofern eine eher optimistische Schätzung.

Bezogen auf die Gesamtausgaben von im Mittelwert 550 Milliarden USD fehlten dem russischen Haushalt 2015 damit ohne die Exportüberschüsse 380 Milliarden USD – eine kaum vorstellbare Summe, die nach Deckung ruft. Werfen wir daher nun einen Blick auf die bislang ausgeklammerten Exportüberschüsse des vergangenen Jahres.

Einnahmeeinbruch beim Energieverkauf

Unter Berücksichtigung einer linearen Entwicklung auf Basis der Zahlen des ersten Halbjahres 2015 konnte Russland angesichts des sinkenden Ölpreises aus dem Verkauf von fossilen Energieträgerprodukten mit rund 210 Milliarden USD rechnen. Damit hätte Russland in seinem wichtigsten Exportgut einen Einbruch von über 35 Prozent hinnehmen müssen.

Eine leichte Steigerung um drei Prozent war beim Waffenverkauf zu erwarten, während die übrigen russischen Exportwaren ungefähr auf Vorjahresniveau verharrten. Insgesamt steht für 2015 eine Export-Einnahme in einer Höhe von knapp über 300 Milliarden USD ins Haus. Das entspräche auf Basis der für 2014 ausgewiesenen Zahlen einem Minus von fast 200 Mrd USD und damit einem Rückgang um 40 Prozent  gegenüber dem Vorjahr.

Gleichzeitig aber sind die Importe nach Russland spürbar zurück gegangen. Der Maschinensektor – für die Erschließung und Förderung der fossilen Bodenschätze unverzichtbar – sank von 121 auf 75 Milliarden. Für Nahrungsmittel gab Russland nur noch 25 statt 53 Milliarden USD aus. Insgesamt werden die Importausgaben daher bei gut 130 Milliarden USD liegen. 2014 waren es noch 308 Milliarden.

Unter dem Strich kann Russland im Jahr 2015 einen Außenhandelsüberschuss in Höhe von 170 Mrd USD erwarten – was jedoch – siehe oben – maßgeblich dem Zusammenstreichen der Importe geschuldet ist. Das sind 20 Milliarden weniger als im Vorjahr – und reduziert die Deckungslücke des Haushalts von 380 auf 210 Milliarden USD. Die von Putin propagandistisch angekündigten und exekutierten „Gegensanktionen“ dienten insofern vorrangig dem Ziel, die Staatsausgaben zu senken, um das Defizit nicht ins Uferlose anwachsen zu lassen.

Die Kreditaufnahmen sind gescheitert

Putins Versuche, sich im Ausland Kredite zu verschaffen, sind als weitgehend gescheitert anzusehen. Die verhandelten Kreditfonds mit Sa’udi-Arabien (10 Mrd USD) und den Vereinigten Arabischen Emiraten (7 Mrd USD) liegen nach Russlands Syrien-Intervention auf Eis. Nach dem russischen Ausstieg aus der internationalen Gerichtsbarkeit wird es sich ohnehin jeder potentielle Kreditgeber mehr als zweimal überlegen, Russland mit Barmitteln unter die Arme zu greifen. Angesichts einer Auslandsverschuldung in Höhe von rund 600 Mrd USD und einem allein 2015 anstehenden Fremdwährungsabfluss in Höhe von geschätzten 100 Mrd USD erhält der Duma-Beschluss vom Dezember 2015 eine weitere Dimension mit ungeahnten Folgen.

Die Konkurrenz zwischen Sa‘udi-Arabien und Iran kommt hinzu
Teil 3 - Russlands Kampf ums Öl
Aus dem gescheiterten Mistral-Deal fließt gerade einmal eine Milliarde von Frankreich nach Russland. Putin wird daher kaum etwas anderes übrig geblieben sein, als erneut auf den Staatsschatz zurück zu greifen. Da lagen Ende 2014 – wir erinnern uns – noch um die 386 Milliarden USD. Mit anderen Worten: Nachdem Putin seine Mehrausgaben für 2015 gedeckt hat, werden dort nur noch um die 180 Milliarden zur Verfügung stehen. Damit hätte er bei gleichbleibenden Basiszahlen für 2016 nicht einmal mehr den auf den Ergebnissen von 2015 zu erwartenden Fehlbetrag zur Verfügung. Hätte. Denn nicht nur, dass sich im laufenden Jahr 2016 weitere Probleme hinsichtlich der Einnahmen auftun können – Putin wird auch nicht in der Lage sein, seine noch verbliebenen Reserven ohne weiteres in Aktiva zu verwandeln. Nach Einschätzung britischer Analysten liegt ein Gutteil der russischen Reserven in Papieren, die nicht ohne weiteres kapitalisierbar sind. Wirft Russland seinen Goldschatz – nach Stand Anfang 2015 um die 1.200 Tonnen und nicht jene von Putin erzählten 8.500 Tonnen und damit nun rund ein Viertel der verbliebenen Reserven – auf den Weltmarkt, wird der Goldpreis auf neue Tiefen fallen und damit Russlands Goldförderung nebst erhoffter Einnahmen daraus ad absurdum führen.

Von den nach Ausklammerung der Goldreserven verbleibenden 130 Milliarden sind über zehn Milliarden beim Internationalen Währungsfonds gebunden und nicht verfügbar. 18 Milliarden hat Russland in die von ihm mitgegründete „New Development Bank“ mit Sitz in Shanghai eingebracht. So ist unter dem Strich davon auszugehen, dass Putin Anfang 2016 nicht einmal mehr realisierbare 100 Mrd USD bei seiner Staatsbank hat, mit denen er seine Abenteuer finanzieren kann.

Der Zusammenbruch

Plötzlich werden auch die noch 2015 verkündeten Zahlen zur bloßen Makulatur. Wir erinnern uns: Energieminister Nowak hatte im Sommer mitgeteilt, dass die Haushaltsdeckung auf einem Ölpreis von 50 USD je Barrel beruhe. Ein halbes Jahr später erklärt Finanzminister Anton Siluanow nun, dass zur Deckung ein Ölpreis von 82 USD je Barrel notwendig gewesen wäre. Bei der Ist-Förderung des Sommers 2015 von 10,71 Millionen Barrel am Tag tat sich demnach allein aus diesem Sektor eine Lücke in Höhe von 123 Milliarden USD in 2015 auf – womit wir ziemlich exakt bei jener Summe sind, die bereits als zu erwartende, aus den Rücklagen zu finanzierende Deckungslücke ohne den Ausfall weiterer Rücklagemöglichkeiten errechnet wurde. Siluanow bestätigte damit mit seinen Zahlen eindrucksvoll die bereits von der FoGEP ermittelten Zahlen.

So ist die von Medwedew jetzt verordnete Sparkur für die öffentlichen Haushalte in Höhe von pauschal zehn Prozent auf alles ohne „heilige Kühe“ wie die Gehälter der ohnehin schon von der Inflation gebeutelten Staatsbediensteten nur ein Tropfen auf den heißen Stein, denn sie werden angesicht des Binnenhaushalts ohne Exporteinnahmen in der 2015er Höhe von 190 Milliarden USD nicht einmal 19 Milliarden USD einsparen können. Unterstellen wir dennoch, dass es haushalttechnisch gelungen sein sollte, den Binnenhaushalt auf 170 Milliarden zu reduzieren, liegen die zu erwartenden Gesamtausgaben Russlands 2016 dennoch nicht unter 480 Milliarden.

Damit klafft 2016 eine Deckungslücke in einer Größenordnung von 310 Milliarden USD, die durch Exportüberschüsse zu erwirtschaften wäre. Nun aber liegt der Ölpreis nicht einmal mehr bei jenen 2015 noch erhofften 50 USD je Barrel – sondern bewegt sich deutlich unter der 40-Dollar-Marke. Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew dämmert die Erkenntnis, dass Russland nicht zu retten sein wird. Er geht Anfang 2016 davon aus, dass der Ölpreis in diesem Jahr auf 15 bis 20 USD je Barrel sinken wird. Statt der noch 2015 zur Haushaltsdeckung notwendigen 316 Milliarden USD allein aus Ölverkauf stünden dann 2016 nur noch knapp 68 Milliarden zur Verfügung – ein Fehlbetrag allein aus dem Ölverkauf in Höhe von fast 250 Milliarden USD. Dieser Betrag aber wäre selbst dann nicht mehr zu decken, würde Russland seinen Import auf Null zurückfahren – und berücksichtigt nicht, dass die Einnahmen aus dem Erdgasverkauf ebenfalls deutlich zurückgehen werden.

Russland ist pleite

Um diese Zahlen in populäre Worte zu fassen: Russland ist bereits pleite. Jedes anständig geführte Unternehmen hätte spätestens im Januar 2016 seine Zahlungsunfähigkeit erklären müssen. Denn selbst, wenn es gelänge, die Goldreserven und die fest angelegten Reserven zu heutigen Tageskursen zu kapitalisieren, verbliebe immer noch ein Fehlbetrag in einer Höhe von deutlich über 150 Milliarden USD, die Russland außerstande ist zu decken. Sollte Putin nun auf die Idee kommen, seinen Goldschatz zu plündern, wird sich die Deckungslücke sogar noch vergrößern – denn der Wert des Goldes würde deutlich verlieren. Die Finanzierung beispielsweise der vollmundig angekündigten militärischen Neuentwicklungen bleibt angesichts dieses Defizits ein Wunsch aus Wolkenkuckucksheim – was nun auch das russische Militär nicht glücklich machen wird.

Da die hier aufgezeigten Zahlen nicht nur Putin, sondern auch seinen führenden Mitstreitern bekannt sind, stehen dem Kreml interessante Zeiten ins Haus. Die durch das einseitige Setzen auf die forcierte Ölförderung (und nicht, wie manche ohne Nachzudenken erzählen, durch die mittlerweile ebenfalls unrentable Schieferölförderung der USA zur Eigenbedarfsdeckung) selbstverschuldete Misere wirft Russland haushalterisch in diesem Jahr vom Status eines Schwellenlandes auf den eines Entwicklungslandes zurück. Putin hat es geschafft, sein noch vor drei Jahren reiches Land in den Abgrund zu führen.

Das seit Jahresbeginn zu beobachtende „Verschwinden“ zahlreicher Meldungen der vergangenen Jahre im russischen Propagandaorgan „Sputnik“ gewinnt unter diesem Aspekt eine eigene Dimension. Zu Sowjetzeiten diente das Vernichten von historischen Dokumenten immer dem Vernichten von Erinnerung. Offenbar hat der KGB zum Großreinemachen angesetzt. Wir dürfen gespannt sein, was danach als gewünschte Wirklichkeit übrig bleiben wird.