Tichys Einblick
Ende der postheroischen Gesellschaft?

Der ungewollte Abschied von der gewollten Wehrlosigkeit

Der Verteidigungskrieg der Ukraine zeigt auch, dass es den Deutschen nicht erspart bleibt, das Verhältnis zum Militärischen zu revidieren, um aus der postheroischen Falle der Wehrlosigkeit herauszufinden. Falls sie das überhaupt wollen.

Grab eines gefallenen ukrainischen Soldaten in Slavutych, 25.04.2022

IMAGO / NurPhoto

Vor acht Jahren, also im Jahr der russischen Besetzung der Krim und von Teilen der Ostukraine, veröffentlichten zwei Bundeswehroffiziere, Marcel Bohnert und Lukas Reitstetter, einen Sammelband unter dem Titel „Armee im Aufbruch“ (Miles Verlag, 2014). Ein Thema dieses Bandes war die schwierige und zuweilen aussichtslose Rolle einer Armee und ihrer Offiziere in einer postheroischen Gesellschaft, die für die Lebenshaltung von Soldaten keinerlei Verständnis mehr aufbringt.

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Einer der Autoren, Jan-Philipp Birkhoff, schrieb: „Es findet eine Entzauberung des Helden an sich statt, welche auch eine fehlende Akzeptanz militärischer Verluste mit sich trägt.“ Und: „Die postheroische Gesellschaft ist nicht mehr in der Lage, sich mit dem Tod von Soldaten auseinanderzusetzen. Der Dienst am eigenen Land wird immer kritischer gesehen, gleichzeitig werden eigene Tote als Zeichen einer Niederlage gedeutet“ (Führen Trotz Auftrag, S.125). Der Sammelband erregte damals durchaus ein gewisses Aufsehen in den Medien. Es war vielleicht kein Zufall, dass einer seiner beiden Herausgeber, Marcel Bohnert, 2020 ins Schussfeld linker Aktivisten im Dienste des ÖRR geriet. Die in denunziatorischem Ton vorgetragenen Angriffe – Bohnert wurde vorgeworfen, er sei ein Rechtsradikaler, weil er die falschen Seiten im Netz geliked hatte – dieser Aktivisten brachten Bohnert ein Disziplinarverfahren ein, und das Ende seiner Karriere schien gekommen. Am Ende wurde er dann doch rehabilitiert, allerdings erst anfangs dieses Jahres.

Aber der Umgang mit ihm in der Bundeswehr ist doch bezeichnend für den Geist, der in der deutschen Verteidigungspolitik in den letzten Jahren herrschte, gerade auch während der Amtszeit von Ursula von der Leyen als Ministerin.

Die Fragen, die Bohnert und seine Mitstreiter 2014 aufwarfen, lassen sich heute freilich nicht mehr so einfach ignorieren wie in der Vergangenheit, denn wir sind jetzt unmittelbar vor unserer Haustür mit einem Krieg konfrontiert, in dem eine Nation sich gegen einen brutalen Angreifer versucht, kämpfend zu behaupten. Dass dies der Ukraine überhaupt bislang leidlich gelungen ist, liegt wesentlich auch daran, dass ein heroischer Widerstandsgeist die Bevölkerung motiviert, aus einer Position der Schwäche dem Angreifer entgegenzutreten.

Man kämpft für das Überleben als eigene Nation, aber auch für eine freiheitliche politische Ordnung, die Putin, würde er gewinnen, zerstören würde. Traditionelles, auch historisch und kulturell fundiertes Nationalbewusstsein verbindet sich hier mit einem integrativen Verfassungspatriotismus, der aber nicht so blass und farblos ist, wie das, was in Deutschland unter diesem Etikett gern angeboten wird. Vor allem aber sind die Menschen in der Ukraine bereit, für ihre Freiheit mit der Waffe in der Hand zu kämpfen und zur Not auch zu sterben.

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Dass Deutschland sich mit dieser Art von Kampf besonders schwertut, trotz aller symbolischen Solidarisierungen mit der Ukraine, wundert einen nicht. Eine ablehnende Haltung gegenüber einem Leitbild heroischer und gegebenenfalls auch militärischer Selbstbehauptung, das sich in der Vergangenheit oft mit einem Ideal kriegerischer Männlichkeit verbunden hatte, ist in Westeuropa weit verbreitet, aber nirgendwo so stark wie in Deutschland. Sicherlich ist das zum Teil eine verständliche Reaktion gegen den Missbrauch heroischer Leitbilder im Nationalsozialismus und zum Teil schon zuvor, im übersteigerten Nationalismus des späten Kaiserreiches. Aber in Deutschland wird gerne übersehen, dass Hitler eben nicht von Pazifisten besiegt wurde, sondern von Männern – und an der Front waren es eben im Wesentlichen Männer –, die bereit waren, für ihr Land und die Freiheit zu sterben, so wie die Ukrainer heute, oder viele vor ihnen. Deutschland tut sich mit dieser Erkenntnis schwer. 

Sicher, es gibt keine militärische Tradition, auf die wir wirklich stolz sein könnten. Die DDR hatte noch die Befreiungskriege als militärischen Traditionsbestand, als Preußen gemeinsam mit Russland siegreich gegen Frankreich gekämpft hatte, aber das kommt für die Bundeswehr wohl kaum in Frage, schließlich sind wir mit den Franzosen ja irgendwie verbündet, so heißt es jedenfalls. Auch muss man einräumen, dass unsere Nachbarn in Europa, die uns heute unsere Tendenz zum Appeasement gegenüber Putin und unseren Pazifismus so massiv vorwerfen, uns sofort als gefährliche Militaristen und „neue Nazis“ denunzieren würden, wenn es in Deutschland plötzlich eine große Begeisterung für das Militär und eine stärker konfliktbereite Außenpolitik gäbe, die bereit wäre, auch militärische Mittel als legitimes Instrument der Verteidigung essenzieller Interessen zu sehen. Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hatte ja genau eine solche Politik vor vielen Jahren einmal versucht, ins Gespräch zu bringen. Der Aufruhr, der danach sofort in den Medien entstand, nötigte ihn freilich zum Rücktritt, was viel über die politische Kultur unseres Landes aussagt.

Allerdings wird es uns dennoch nicht erspart bleiben, unser Verhältnis zum Krieg und zu militärischer Gewalt zu revidieren, wenn wir unsere Verteidigung nicht vollständig an Dritte delegieren wollen. Das würde uns in der Nato und anderen Bündnissen zu reinen Trittbrettfahrern machen – dafür halten uns unsere Verbündeten zurzeit ja ohnehin schon. Keiner kann von uns Deutschen erwarten, dass wir ein so gelassenes Verhältnis zum Militär und zu kriegerischen Idealbildern entwickeln wie manche Länder Ostmitteleuropas oder Teile der Gesellschaft auch in Großbritannien oder Frankreich, aber die jetzige Krise macht doch deutlich, dass eine Kultur, die nur das Opfer anerkennt und in seinem Leiden verehrt und niemals den Täter, auch wenn er es ist, der potenzielle Opfer versucht zu verteidigen, nicht überlebensfähig ist.

Will man aus der postheroischen Falle der gewollten Wehrlosigkeit jedoch herauskommen, dann müssen wir über sehr viel mehr nachdenken als nur über unser Verhältnis zur Bundeswehr und zu den Soldaten, die in ihr Dienst tun und die in den letzten drei Jahrzehnten von der Mehrheit der Gesellschaft zunehmend geringgeschätzt wurden; übrigens eine Haltung, die auch und gerade in den politischen Parteien bis hinein in die CDU um sich gegriffen hat.

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Wir müssten uns zum Beispiel auch fragen, ob die vollständige Auflösung traditioneller Geschlechterrollen oder die Tendenz zur Feminisierung der Gesellschaft – man denke an die feministische Außenpolitik, zu der sich die jetzige Regierung zumindest auf dem Papier bekennt – wirklich hilfreich sind, wenn man wieder verteidigungsfähig werden will. Eine heroisch-kriegerische Haltung war in der Vergangenheit ganz überwiegend männlich konnotiert. Sicher, heute dienen auch Frauen erfolgreich in vielen Armeen der Welt, und zum Teil auch in den Kampftruppen, aber eine gewisse Affinität militärischer Gewalt zu klassischen Vorstellungen von Männlichkeit – im Positiven wie im Negativen – ist immer noch spürbar.

Wer aber Männlichkeit generell als toxisch darstellt, wie das in unserer Gesellschaft zunehmend geschieht, kann wohl kaum jenen Männern, die bereit sind, für ihr Land zu kämpfen und zur Not auch zu sterben, eine gewisse Anerkennung und – wagen wir es, diesen anachronistischen Ausdruck zu benutzen? – Ehre zurückzugeben. Das erscheint unwahrscheinlich und es ist sicher kein Zufall, dass ein Land wie die Ukraine, wo sich traditionelle Geschlechterrollen eher erhalten haben, sich leichter damit tut, sich zu verteidigen. 

Wenn man diesen Komplex der Geschlechterpolitik anspricht, wird aber auch deutlich, dass unsere Gesellschaft einen unendlich weiten Weg vor sich hat, wenn sie wirklich versuchen wollte, aus der Falle post-heroischer Wehrlosigkeit zu entkommen. Ein weiterer Faktor ist natürlich das fast vollständige Fehlen eines wie immer gearteten Patriotismus – der selbst in seiner abstrakten Form als Verfassungspatriotismus kaum sichtbar, geschweige denn politisch wirkmächtig ist. Sonst wäre man ja wohl kaum bereit, die Auflösung der Bundesrepublik Deutschland in einem gemeinsamen europäischen Staat zum höchsten Ziel der Politik zu erklären, wie es die jetzige Regierung in ihrem Koalitionsvertrag getan hat, denn eine solche Auflösung wird auch das Grundgesetz in vielen Bereichen vollständig irrelevant werden lassen, was sich ja jetzt schon abzeichnet.

Wollte man diesen Entwicklungen entgegentreten, müsste man die Denkgewohnheiten von Jahrzehnten überwinden. Das wird kaum möglich sein. Von daher wird sich in Deutschland wenig im Grundsätzlichen ändern. Wir sind wehrlos und wir wollen es sein und bleiben. Es wäre allerdings dennoch schon viel gewonnen, wenn in Zukunft unbequeme Mahner wie Marcel Bohnert nicht mehr sogleich von den Häschern der Wohlgesinnten in den Medien und der Politik zu Ketzern erklärt würden. 

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