Tichys Einblick
Prognose nach Thüringen

Parteien: Drei zerbrechende und ein riesiges Wählerreservoir für eine neue

Thüringen ist eine Zäsur. Die Widersprüche und Konflikte in Deutschland sind endgültig aufgebrochen und werden sichtbar. Was passiert jetzt? Ein Blick in die politische Kristallkugel.

Abdulhamid Hosbas/Anadolu Agency via Getty Images

„Künde dem Kaiser, das schöngefügte Haus ist gefallen.“ (zugeschrieben – allgemein, aber fälschlicherweise – dem Orakel von Delphi, 362 n. Chr.)

Journalisten, pflegt mein hochgeschätzter Kollege Jan Fleischhauer zu sagen, seien im Beobachtungs- und nicht im Prognosegeschäft. Grundsätzlich sehe ich das ganz genauso. Aber auch das ist meine Meinung: Parteien sollten auf gar keinen Fall die Einzigen seien, die „an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken”.

In einem Moment, da sich alle fragen, wie es nun eigentlich weitergeht, sollte man deshalb auf die seherischen Fähigkeiten von Journalisten nicht verzichten. Die sind zwar nicht größer als die der Normalbürger, aber zumindest auch nicht kleiner als die der Berufspolitiker – und Letztere kommen ja auch dauernd zu Wort.

Einflügler
Die CDU, die Schmieses Rat befolgt, gibt es nicht
Die üblichen Verdächtigen in den Talkshows und Nachrichtensendungen erscheinen aktuell allerdings einigermaßen ratlos. Das hat gute Gründe: Tatsächlich betreten wir gerade, um ein Kanzlerinnenwort zu benutzen, Neuland. Die Merkel‘sche Dauer-Sedierung des Publikums, die Anästhesierung des öffentlichen Diskurses, der Mutti-macht-das-schon-Schlaftrunk für den notwendigen demokratischen Streit in der pluralistischen Gesellschaft: All das stößt gerade an seine Grenzen.

Thüringen ist eine Zäsur. Die Widersprüche und Konflikte im Land sind endgültig aufgebrochen und werden sichtbar.

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Sichtbar wird die Spaltung des Landes und der Parteien. Denn die Beherrschung der veröffentlichten Meinung durch ein hippes, urbanes, tendenziell grünes Lebensgefühl hatte die Illusion geschaffen, dieser mediale Mainstream entspreche auch einer überwältigenden gesellschaftlichen Mehrheit. Tatsächlich ist das nicht der Fall. Stefan Laurin hat das beschrieben:

So gelingt eine beeindruckende Inszenierung: Das Leben Weniger wird zum Vorbild Einiger und erscheint medial als breite Strömung, weil etliche Journalisten deren Überzeugungen teilen. Politiker glauben, sich daran orientieren zu müssen, da sie eine neue Mehrheit sehen, die allerdings nicht existiert.“

Der vermeintliche „Mainstream“ in Medien und Parteien ist tatsächlich wie Turtur aus „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“: ein Scheinriese, der immer kleiner wird, je näher man ihm kommt. 

Tatsächlich teilt ein enorm großer Teil des Landes die Mainstream-Ideologie nicht. Die Wahlergebnisse der vergangenen Jahre zeigen eigentlich überall, dass es in Deutschland keine linke Mehrheit gibt. Linke Parlamentsmehrheiten entstehen nur dadurch, dass man die AfD mithilfe aller möglichen Kniffe aus dem Parlamentsbetrieb sozusagen herausdefiniert.

In einer ernstzunehmenden Demokratie kann man aber nicht dauerhaft einen gewichtigen Teil der Wählerschaft unter Quarantäne stellen und von Mitentscheidungen im Gemeinwesen ausschließen. Thüringen hat das schmerzhaft vorgeführt.

Dass der vermeintliche Mainstream tatsächlich nur einen Teil – womöglich den kleineren Teil – des Landes abbildet, merken jetzt auch die politischen Monopolorganisationen. Wie durch die Gesellschaft, so geht auch durch alle Parteien ein Riss. Bisher war es gelungen, den notdürftig zu kitten.

Das klappt jetzt nicht mehr.

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Die CDU ist gespalten: Merkelianer vs. Patrioten. Unter Helmut Kohl hatte die Partei noch starke Flügel mit starken Repräsentanten. Kohl ließ sowohl Norbert Blüm wie Alfred Dregger den Raum und die Luft zum Atmen, solange sie ihn stützten. Angela Merkel dagegen hat ihren Laden über die Jahre zumindest auf der Funktionärsebene von allem gesäubert, was ihr nicht bedingungslos ergeben war.

CDU nach AKK
Jetzt kommt die WerteUnion unter Druck
Die Altmaierisierung (wahlweise Kauderisierung, wahlweise Tauberisierung, wahlweise …) der Union klappte freilich nicht überall: An der Basis ließ sich die konservative DNS trotz aller Bemühungen nicht entfernen. So kam es zur „Werte-Union“. Deren Überzeugungen sind mit Merkels Politik schlechterdings unvereinbar. In Thüringen musste dieser Konflikt aufbrechen: An der Frage, ob die CDU allen Ernstes lieber mit den eigenen Stimmen einen SED-Ministerpräsidenten wählt als mit AfD-Stimmen einen Liberalen.

Zwischen diesen beiden Positionen gibt es erkennbar keinen Kompromiss. An diesem systematisch unüberwindbaren Grundwiderspruch ist AKK gescheitert, an ihm werden auch alle Nachfolger scheitern.

Orakel: 

Das Einzige, was die CDU noch zusammenhält, ist der Umstand, dass sie die Kanzlerin stellt. Selbst das Mitregieren reicht nicht: Im Bund wäre das Modell Baden-Württemberg – Juniorpartner der Grünen zu sein – kein ausreichender Kitt. Ist Merkel erst einmal weg, fällt die CDU auseinander.

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Die CSU ist gespalten: Söderianer vs. Konservative. Markus Söder will Kanzler werden. Sein offensichtliches Kalkül ist, dass das nur in einem Bündnis mit den Grünen gelingen wird. Deshalb macht er sich zum Wunschpartner hin anschlussfähig – bis zur Unkenntlichkeit bzw. Selbstverleugnung.

Aber keine Partei in Deutschland ist so sehr im Volk verankert wie die CSU – und dieses Volk in Bayern ist halt nun einmal einfach nicht grün. Deshalb können sich die Freien Wähler im schönen Freistaat von Wahl zu Wahl größere Happen aus dem CSU-Kuchen schnappen.

Orakel: 

Solange die Mehrheit für die CSU und das Amt des Ministerpräsidenten, den die Partei immerhin seit 1957 ununterbrochen stellt, nicht gefährdet sind, lässt man Söder gewähren. Riskiert er das aber für seine persönlichen Berliner Kanzlerambitionen, wird er schneller entsorgt, als er „Stoiber“ oder „Seehofer“ rufen kann.

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Die Grünen sind gespalten: K-Gruppen vs. Ökologen. An Jürgen Trittin erinnern sich wohl nur noch die Älteren. Dabei ist er immer noch enorm wichtig, um die Partei wirklich zu verstehen. Trittin ist Kommunist, er kommt aus den K-Gruppen. Die hatten kurz nach Gründung der Grünen erkannt, dass man den ökologischen Gedanken kapern und unter dem Deckmantel der Umweltschutzpartei eine in Wahrheit linksextreme Kraft in Deutschland etablieren könnte. Dagegen standen die echten Ökologen. So erklärte sich die heftige innerparteiliche Feindschaft zwischen Fundis (Linksextremisten) und Realos (echten Ökologen).

Trittin selbst spielt mittlerweile keine wirkliche Rolle mehr, seine Erben sind aber unverändert aktiv. Sie halten still, weil das Realo-Führungsduo Habeck und Baerbock der Partei gerade eine echte Chance auf das Kanzleramt beschert. Das dürfte sich ändern, falls dieser Traum platzt.

Orakel: 

Deutschland steht wirtschaftlich vor dem Abschwung – nur Blinde oder Träumer (oder blinde Träumer) sehen das nicht. Die Grünen sind eine Luxus-Partei, sie kümmern sich um sekundäre oder tertiäre Ebenen der Bedürfnispyramide. Wenn die primären Themen in Deutschland wieder relevant werden (z. B.: Wie erwirtschaften wir eigentlich unseren Wohlstand?), brechen die Grünen ein. Oder, wie es die herzerfrischend nüchterne und scharfsinnige Juli Zeh formuliert: „Dann macht der ganze Hype flupp.“

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Einflügler
Die CDU, die Schmieses Rat befolgt, gibt es nicht
Die SPD ist gespalten: staatsbesoldete Funktionäre vs. Arbeitnehmer. Am selben Tag, als Audi den Abbau von 9.500 Arbeitsplätzen bekanntgab (das sind immerhin 15 % aller deutschen Mitarbeiter), hielten die Sozialdemokraten ihren Bundesparteitag ab. Don Alphonso hat in seiner Welt-Kolumne angemessen entgeistert berichtet, dass es null Beschlüsse oder auch nur Resolutionen zu Audi gab. Stattdessen verabschiedeten die Delegierten die Forderung, Lecktücher für Lesben kostenfrei abzugeben.

Der handelsübliche SPD-Funktionär kommt heute aus dem Lehrerzimmer, nicht aus der Werkshalle. Die Partei läuft der SED/PDS/Linken hinterher – die Wähler nehmen da lieber das Original. Und sie läuft den Grünen hinterher – auch hier nehmen die Wähler lieber das Original. Etwas eigenes hat die SPD nicht mehr im Angebot.

Orakel: 

Die SPD fällt nicht mehr auseinander, sie hat das schon hinter sich. Die Sozialdemokraten sind Geschichte.

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Die FDP ist gespalten: Angepasste vs. Bürgerliche. Montagabend, in einem Berliner Ortsverein der FDP (mehr sage ich nicht, um meine Quelle zu schützen). Ein Teilnehmer berichtet: „Die Einen sagen: ‘Das in Thüringen, das ging ja gar nicht.‘ Die Anderen sagen: ‘Das hätten wir durchhalten müssen.‘ Verhältnis etwa 65 zu 35 Prozent. Schlimmer Streit!“

Die Partei ist gespalten in Angepasste und echte Bürgerliche. Man darf vermuten, dass in der gescheiterten Stadt Berlin der Anteil der Angepassten auch in einem FDP-Ortsverband höher ist als anderswo. In Baden-Württemberg und im Osten dürfte das Verhältnis ungefähr bei Hälfte-Hälfte liegen.

Orakel: 

Die Partei bricht demnächst auseinander. Die Angepassten behalten die Marke, die echten Bürgerlichen suchen sich eine neue politische Heimat.

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Die Linke ist gespalten: SED-Nostalgiker vs. Sozialdemokraten. Stellvertretend für diesen Konflikt steht der Krieg zwischen Katja Kipping und Sarah Wagenknecht: Alt-Kader und Neo-Stalinisten auf der einen, tendenziell sozialdemokratische Reformer auf der anderen Seite.

Orakel: 

Es sieht so aus, als würden die SED-Nostalgiker gerade gewinnen. Die Reformer werden die Partei trotzdem nicht verlassen – wo sollen sie auch hin? Das tote Pferd SPD mag niemand mehr reiten.

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Die AfD ist gespalten: „Flügel“ vs. Marktwirtschafter. Im Berliner Landesverband der AfD ist der „Flügel“ zwar in der Minderheit, aber trotzdem aktiv. Im Büro des „Flügel“-Vormanns im Berliner Abgeordnetenhaus steht eine Björn-Höcke-Tasse. Das allein sagt viel darüber aus, was der „Flügel“ im Kern ist: eine Art Höcke-Sekte.

Außer durch einen für Außenstehende relativ befremdlichen Personenkult (die AfD-Jugend in Thüringen hat ernsthaft erwogen, sich in „Höcke-Jugend“ umzubenennen; bitte beachten Sie dazu unseren aktuellen Anhang) und dem „völkischen” Gehabe zeichnet sich die Gruppierung durch ein – sagen wir mal: distanziertes Verhältnis zur Marktwirtschaft aus. Arbeitet man sich durch Aussagen von „Flügel“-Leuten und durch Publikationen im entsprechenden Milieu, dann kommt man zu dem eindeutigen Schluss, dass es hier nicht nur keine marktwirtschaftliche Grundüberzeugung gibt, sondern eine veritable Ablehnung der Marktwirtschaft als ökonomisches Prinzip der Gesellschaftsorganisation.

Das ist schlicht unvereinbar mit den Positionen des Co-Bundesvorsitzenden Jörg Meuthen – der Mann ist Wirtschaftswissenschaftler und überzeugter Anhänger der Marktwirtschaft.

Orakel: 

Der Außendruck durch den politischen Gegner schweißt die verschiedenen AfD-Teile trotz inhaltlich unvereinbarer Positionen noch zusammen. Das hält aber nicht ewig. In naher Zukunft wird die Partei eine einheitliche Haltung zur Marktwirtschaft definieren müssen. Dabei werden sich die starken ostdeutschen Verbände durchsetzen – also die Gegner der Marktwirtschaft. Danach fällt die AfD auseinander.

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Fazit:

Erstens – das politische Führungspersonal ist relativ bedeutungslos. Die CDU, die FDP und die AfD werden auseinanderbrechen, unabhängig von den Leuten an der Spitze. Kein Vorsitzender kann die inneren Widersprüche ausgleichen, die jetzt an die Oberfläche durchstoßen. Und niemand wird die SPD wiederbeleben können.

Zweitens – es entsteht gerade ein riesiges, heimatloses Wählerreservoir. Und zu jeder Nachfrage bildet sich ein Angebot. Es wird also noch vor den nächsten Bundestagswahlen eine neue, bürgerliche Kraft entstehen – die der Nicht-Merkel-CDU, der FDP und dem marktwirtschaftlichen Teil der AfD das Potential absaugt.

Und jetzt freue ich mich auf all die Kommentare, die da kommen werden.

Anhang:

Eine dringende Bitte erreichte uns vom Anwalt der Jungen Alternative, Thüringen. Man habe nicht  erwogen, sich in Höcke-Jugend umzubenennen. Wir übernehmen diese Richtigstellung.

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