Tichys Einblick
Politsprachlicher Mainstream

„Menschen“ überall, „Deutsche“ kaum zu finden

Wer sind „Menschen, die hier ankommen“ (Innenministerin)? Reisende, Touristen? Nein, normaldeutsch: Flüchtlinge. Und „Menschen, die hier schon länger leben (Bundeskanzlerin Merkel, 2016)? Sind Deutsche. Aber warum werden Flüchtlinge im politischen Sprachgebrauch nicht mehr „Flüchtlinge“ genannt, und Deutsche nicht „Deutsche“?

IMAGO
Die Wörter „Deutsche“ und „Menschen“ sind schon im Althochdeutschen belegt und gehören zum Grundwortschatz der deutschen Sprache. Entsprechend häufig kommen sie im sprachlichen Alltag vor. Es fällt deshalb vielen Deutschsprechern auf, dass beide Wörter, vor allem in der Pluralform, politsprachlich anders verwendet werden als normalsprachlich: Die Volksbezeichnung „Deutsche“ tritt im herrschenden politischen Diskurs kaum mehr auf, und die Gattungsbezeichnung „Menschen“ wird immer häufiger verwendet.
„Die Deutschen“

In der 1990 neu formulierten Präambel des Grundgesetzes heißt es: „Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin … und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.“

Klingt das politisch nicht wie aus einer anderen Welt? Bezeichnungen wie „die Deutschen“ und „deutsches Volk“ gelten heute als antiquiert und werden in Partei-, Wahl- und Regierungsprogrammen vermieden (außer bei der AfD). Schon in den Wahlprogrammen 2017 von CDU/CSU, SPD, FDP, GRÜNE und LINKE kommen auf insgesamt 550 Seiten nur fünfmal „Deutsche“ vor, und diese leben „im Ausland“ oder stehen in einem vergangenheitsbezogenen Kontext: „Flucht kennen viele Deutsche aus ihrer Familien-geschichte“, lautet der einzige Beleg im Programm der GRÜNEN.
Der letzte Bundeskanzler, der ganz selbstverständlich „Wir Deutsche“ sagte, war Gerhard Schröder (1998-2005). Danach werden die Deutschen – immerhin das Staats- und Wahlvolk der Bundesrepublik Deutschland – regierungssprachlich zunehmend als „Menschen“, bezeichnet, oft mit einem erläuternden Zusatz: „Menschen in Deutschland, Menschen in unserem Land, Menschen mit deutschem Pass, die hier lebenden Menschen; Menschen, die (schon länger) hier leben; Menschen, die schon lange hier sind“ u. Ä. Die Medien, insbesondere das öffentlich-rechtliche Fernsehen, verbreiten diese Sprachregelung.

„Die Menschen“

Aber nicht nur Deutsche werden als „Menschen“ bezeichnet, das Wort eignet sich generell als sprachlicher Aufhänger zur Bezeichnung von Völkern und Personengruppen. Einige Beispiele aus einer heute-Sendung (1. 11. 2023, 19:00 Uhr):

● Menschen mit ausländischen Pässen“ (= Ausländer)
● Menschen, die Bezug zu Hamas haben (= Hamas-Anhänger)
● Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft (= Doppelstaatler)
● geflüchtete Menschen (= Flüchtlinge)
● Menschen mit palästinensischem Hintergrund “ (= Palästinenser).


Diese umständliche Ausdrucksweise bietet beim Reden einen praktischen Vorteil: Der Sprecher gewinnt Zeit zum Formulieren. Typisch hierfür ist folgende Äußerung von Innenministerin Faeser zu der kürzlich vom Bundeskabinett beschlossenen Lockerung des Arbeitsverbotes für Asylbewerber (O-Ton heute 1. 11.):

Es geht ja vor allem um die Menschen, die bereits hier sind äh die wir äh aus Integrations-gründen ähm äh glauben, frühzeitig in Arbeit zu bringen ist hilfreich äh weil man sich dann ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen kann in Deutschland, und es führt natürlich zur Akzeptanz in der restlichen Bevölkerung, wenn Menschen, die hierher kommen, auch arbeiten.

Die „restliche Bevölkerung“ meint hier die Deutschen; bei den „Menschen, die bereits hier sind“ bzw. „hierher kommen“ handelt es sich um Asylmigranten, politisch korrekt: Asyl-migranten und Asylmigrantinnen. Die Sammelbezeichnung „Menschen“ erspart das Gendern, es können sich alle Geschlechter angesprochen fühlen.

Die Geschlechtsneutralität des Wortes „Menschen“ hat sehr zu seiner Verbreitung in politisch korrekter Sprache beigetragen, kann aber nicht erklären, warum es auch als Ersatzform für „Deutsche“ dient; denn diese Volksbezeichnung– im Unterschied zu vielen anderen (Franzosen, Italiener, Polen usw.) – ist ebenfalls geschlechtsneutral (*Deutsch-innen wäre grammatisch falsch). Das sprachliche Verschwinden der Deutschen im heutigen politischen Mainstream muss also nichtsprachliche Gründe haben.

Du bist Mensch!

Die intensive Verwendung des Wortes „Mensch(en)“ kommuniziert dem Empfänger implizit eine Botschaft, nämlich: Du bist Mensch! Was heißt das politisch? Ein Staat, der seine Bürger nur mit „Menschen“ adressiert, verneint – zumindest sprachlich – deren Bürgerrechte; denn diese gehen über die Menschenrechte hinaus. Konkret: Die Deutschen sind nicht nur „Menschen in Deutschland“ – das sind die ansässigen Nichtdeutschen auch –, sondern laut Präambel des Grundgesetzes Träger der verfassunggebenden Gewalt, kurz: das Staatsvolk. Die Reduktion der Staatsbürger auf „Menschen“ bedeutet faktisch eine politische Entmündigung des Staatsvolkes.

Im nichtpolitischen Bereich hat die Botschaft „Du bist Mensch!“ eine andere Bedeutung. Zum Beispiel in der Religion: Das Christentum ist eine Menschheitsreligion, seine Lehre wendet sich an alle Menschen. Im Neuen Testament geht es um das Verhältnis von Gott und Mensch, und das zeigt sich sprachlich darin, dass „Mensch“ das dritthäufigste Substantiv ist, nach „Gott“ und „Herr“.

Auch in Goethes Werk (einschließlich Briefe) zählt „Mensch“ zu den häufigsten Substantiven (ca. 6 000 Belege). Verständlich; denn hier geht es um das Verhältnis von Mensch und Welt. Goethe prägte den Begriff „Weltliteratur“, die übernational für alle Menschen Geltung hat, und empfahl: „Der Deutsche kann und soll hier am meisten wirken“. Übrigens: Die nach ihm benannten „Goethe-Institute“, welche im Ausland die deutsche Sprache und Kultur unter den „Menschen“ verbreiten sollen, will das Außenministerium ab 2024 reduzieren.

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