Tichys Einblick
Unwort des Jahres: "Remigration"

Das Unwort des Jahres ist ein sprachpolizeiliches Eigentor

„Remigration“ wurde zum Unwort des Jahres 2023 gekürt, obwohl es die Medien erst ab Januar 2024 beherrschte. Mehr PR konnte sich der „Identitäre“ Martin Sellner nicht wünschen.

IMAGO / Christian Ohde
Eine Testfrage vorweg: Was ist der Unterschied zwischen dem Orwellschen Big-Brother-Wahrheitsministerium und der „Sprachkritischen Aktion Unwort des Jahres“? Antwort: Ein himmelweiter, denn im Big-Brother-Wahrheitsministerium wirken keine Professoren und als Gast-Juror kein ehemaliger CDU-Generalsekretär mit.

Nun also trat die „Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres“ zum 32sten Mal in Aktion. Am Montag, 15. Januar, verkündete sie: Unwort 2023 Platz 1: „Remigration“; Unwort 2023 Platz 2: „Sozialklimbim“; Unwort 2023 Platz 3: „Heizungs-Stasi“.

Diese „zivilgesellschaftliche“ Aktion (so Wikipedia) tut sich überhaupt immer wieder willkommenspolitisch hervor. In früheren Jahren kürte sie folgende Wörter zum jeweiligen Unwort: Pushback, Abschiebeindustrie, Sozialtourismus, Rückführungspatenschaften, Überfremdung.

Bleiben wir also bei „Remigration“. Dazu schreibt die selbsternannte Sprachgouvernante:

„Der Ausdruck Remigration ist ein vom lat. Verb remigrare (deutsch ‚zurückwandern, zurückkehren‘) abgeleitetes Fremdwort. Das Wort ist in der Identitären Bewegung, in rechten Parteien sowie weiteren rechten bis rechtsextremen Gruppierungen zu einem Euphemismus für die Forderung nach Zwangsausweisung bis hin zu Massendeportationen von Menschen mit Migrationsgeschichte geworden. Die Jury kritisiert die Verwendung des Wortes, weil es 2023 als rechter Kampfbegriff, beschönigende Tarnvokabel und ein die tatsächlichen Absichten verschleiernder Ausdruck gebraucht wurde. Der aus der Migrations- und Exilforschung stammende Begriff, der verschiedene, vor allem freiwillige Formen der Rückkehr umfasst (darunter die Rückkehr jüdischer Menschen aus dem Exil nach 1945), wird bewusst ideologisch vereinnahmt und so umgedeutet, dass eine – politisch geforderte – menschenunwürdige Abschiebe- und Deportationspraxis verschleiert wird.“

Der diesjährige Gastjuror Ruprecht Polenz (seine „Expertise“ siehe unten) fügte hinzu: „Der harmlos daherkommende Begriff Remigration wird von den völkischen Nationalisten der AfD und der Identitären Bewegung benutzt, um ihre wahren Absichten zu verschleiern: die Deportation aller Menschen mit vermeintlich falscher Hautfarbe oder Herkunft, selbst dann, wenn sie deutsche Staatsbürger sind. Nach der Wahl zum Unwort des Jahres sollte diese Täuschung mit Remigration nicht mehr so leicht gelingen.“

Nur am Rande, liebe Scholzens, Eskens, Lindners, Baerbocks, Habecks und Co., geht in euch, besinnt euch, denn nun ist bewiesen: Auch ihr seid „rechts“, ja rechtsextrem: In eurem Koalitionsvertrag vom 8. Dezember 2021 lesen wir auf Seite 112 den Satz „Wir starten eine Rückführungsoffensive, um Ausreisen konsequenter umzusetzen …“ Ihr habt hier einfach nur volksnah, quasi deutschtümelnd, formuliert, denn „Remigration“ hätte – außer vielleicht Polenz – keiner verstanden.

Sprachpolizei à la Orwells Wahrheitsministerium

Zurück zum Vergleich mit Orwell: Die seit 1991 agierende (agitierende?) Unwort-Aktion wird seit 2021 von folgenden Sprachwissenschaftlern (pardon: Sprachwissenschaftler*/_I:nnen?) Constanze Spieß (Sprecherin, Uni Marburg), Kristin Kuck (Uni Magdeburg), Martin Reisigl (Uni Wien), David Römer (Uni Kassel) und der Journalistin Alexandra-Katharina Kütemeyer (Frankfurter Rundschau) betrieben. Diesmal kam als Gast-Juror Ruprecht Polenz dazu: Der X- bzw. Twitter-König war im Jahr 2000 für acht (!) Monate unter der CDU-Vorsitzenden Merkel CDU-Generalsekretär, heute ist er einer der mutigsten Antifa- und Anti-AfD-Kämpfer.

Das Orwellsche Wahrheitsministerium (schön zweideutig abgekürzt mit „Mini-Wahr“) hat solche Expertise und Kompetenz nicht zu bieten. Allerdings wird auch dort an einem Wörterbuch der „Neusprache“ gearbeitet. Und zwar nicht nur einmal pro Jahr an einem einzigen Un-Wort, sondern täglich. Ein gewisser Mr. Syme tut das für Big Brother. Er sagt zur Hauptfigur des Romans, zu Winston Smith, einmal: „Wir geben der Neusprache ihren letzten Schliff … Wir merzen jeden Tag Worte (es müsste eigentlich übersetzt heißen: „Wörter“, JK) aus … Siehst du denn nicht, dass die Neusprache kein anderes Ziel hat, als die Reichweite der Gedanken zu verkürzen? … Es ist lediglich eine Frage der Wirklichkeitskontrolle. … Die Revolution ist vollzogen, wenn die Sprache geschaffen ist … Es wird überhaupt kein Denken mehr geben … Strenggläubigkeit bedeutet: nicht mehr denken – nicht mehr zu denken brauchen. Strenggläubigkeit ist Unkenntnis.“

Folge ist dort – aber auch hier und heute: Wer nicht politisch korrekt denkt und spricht, wer im Orwellschen Sinn ein „Gedankenverbrecher“ ist, wird zur Zielscheibe der „Gedankenpolizei“, er wird der „Herrschaft des Verdachts“ (Hegel) unterstellt, oder er wird im Sinne des Big Brother „vaporisiert“, verdampft, das heißt, er findet in der Meinungsbildung nicht mehr statt.

Deswegen hat der Archivar Winston Smith in George Orwells „1984“ die Aufgabe, Geschichte ständig umzuschreiben, damit sie sich den jeweils aktuellen politischen Wünschen fügt. Geschichtspolitik nennt man so etwas: In „1984“ mit einem Ministerium für Wahrheit, das schön zweideutig mit „MINIWAHR“ abgekürzt wird. Orwell – der eigentliche Erfinder von PC! Im Sinne von Umerziehung am wirksamsten jedenfalls sind die Sprach- und Gesinnungsdiktate der „political correctness“ (PC). Das ist das Erbe von 68, auch wenn „PC“ als Begriff erst Ende der 1980er Jahre geprägt wurde.

Sprachpolizei à la Unwort-Aktivisten

Was aber tut die „Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres“? Sie will eine Schweigespirale und schließlich ein Denkverbot anleiern. Denn schließlich neigt der Mensch dazu, nichts zu sagen, wenn er annimmt, dass er sich damit außerhalb des angesagten und öffentlich-rechtlichen Merkel’schen „Mainstreams“ stellt. Die Folge ist, dass sich „veröffentlichte“ Meinung qua „Schweigespirale“ durchsetzt.

Tagtäglich geht es dabei um die korrekte Verwendung von „PC“-Hui- und um die Vermeidung von PC-Pfui-Begriffen. Siehe Hui-Begriffe: Aus (Wirtschafts-)Flüchtlingen werden Zuziehende, Schutzsuchende, Schutzbefohlene. Alle haben sie als Bereicherung zu gelten. Angesagt ist zudem „virtue signalling“: Seht her, ich bin tugendhaft, ich vermeide Pfui- und Tabu-Wörter wie Flüchtlingsströme, Flüchtlingskrise, Flüchtlingschaos, Remigration … Die Deutschen sollen offenbar – wie in der DDR – wieder zu einem „Volk von Flüsterern“ werden.

Riesen PR-Erfolg für die Identitären

Welch ein professorales, sprachpolizeiliches Eigentor! Ein Bumerang! Die Wahl des Wortes „Remigration“ ist ein PR-Erfolg ohnegleichen für Martin Sellner, der den Ausdruck seit Jahren im Rahmen der von ihm initiierten „Identitären Bewegung Österreich (IBÖ)“ propagiert. Sellner wäre auch nicht Sellner, wenn er den Spieß nicht sofort umdrehte und auf seinem Telegram-Kanal jubelte. Im Februar 2024 wird sein neues Buch erscheinen. Titel: „Remigration – ein Vorschlag“. Von seinen jetzt gewiss höheren Buchhonoraren kann er ja die „Unwort“-Jury – mit Kamerabegleitung – mal zu einem feudalen Abendessen in die ehemalige Adlon-Villa in Potsdam einladen. Zeit wird die Jury haben, denn „Remigration“ ist erst im Januar 2024 aufgetaucht. Für 2024 hat die Jury also nichts mehr zu tun.

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