Tichys Einblick
Die Welt im Provinzstadel

Die wichtigste Frage bei Anne Will: Lügt Gabriel?

Der Ulf lobte den Michael, der Michael den Ulf, der Peter den Michael, der Norbert alle zusammen. Die wichtigste Frage: Lügt Gabriel? Das wichtigste Accessoire: rosa Söckchen. Bei Anne Will hatten sich alle lieb. Piep.

Screenprint: ARD/Anne Wil

Es gibt eigentlich nur zwei Existenzgründe für eine Polit-Talkshow. Entweder werden in der Sendung die angesagten Politiker des Tages präsentiert, die der Zuschauer aus erster Hand erleben will, (Beispiel, der kettenrauchende Helmut Schmidt) oder es wird ein Streitgespräch zu wichtigen Themen geführt – im Idealfall erhalten Pro und Contra Waffengleichheit. In diesem Sinne war der Abend bei Anne Will irgendetwas völlig anderes.

Denn Norbert Röttgen (immer wieder Sonntags bringt er sich bei Will in Erinnerung), Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt, Sevim Dağdelen von der Linkspartei, Michael Roth (SPD), „Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt“ und „Menschenrechtsaktivist“ Peter Steudtner, sie waren alle einer Meinung: Toll, dass Deniz Yücel frei ist.

Der, um den es gehen sollte, fehlte „aus verständlichen Gründen“, dafür lobte sein Chefredakteur Poschardt des Freigelassenen „immer brillante Texte“. Warum er aus dem Gefängnis kam? Weil die Türken gemerkt haben, „dass wir das in Deutschland nicht hinnehmen wollten“. Und er versprach: „Wir werden weitermachen!“ An dem Platz, auf dem bislang in allen unter seinem Oberkommando stehenden Publikationsmitteln „Free Deniz!“ stand, wird „ab morgen ‚Free Them all!‘ stehen, bis alle Journalisten und Menschenrechtler freigelassen sind“. Ein Auflagenraketenehrenmann.

Zur Sachlage. Urplötzlich, nach einem Jahr, öffneten sich die Gefängnistore für den Mann mit den zwei Pässen. Die türkische Staatsanwaltschaft hatte dem Gericht endlich ein Anklagepapier auf drei Seiten vorgelegt, in dem sie 18 Jahre fordert, und das Gericht hat den Angeklagten daraufhin aus der U-Haft entlassen. Weil er einen Wohnsitz außerhalb der Zugriffsmöglichkeiten der türkischen Justiz hat? Eine Logik, die wir nicht nachvollziehen können, schließlich sind wir in rechtlichen Dingen so unkundig wie unser Heiko. Die türkischen Machthaber jedenfalls erklären, die Freilassung sei eine reine Justizangelegenheit. Unsere Medien hingegen sind des Lobes voll für Sigmar Gabriel, der auch spornstreichs eine wichtige Konferenz zum Ukraine-Konflikt sausen ließ, um, wie einst Genscher auf dem Balkon, die Ausreise des Welt-Mannes in den Redaktionsräumen der Welt zu verkünden.

Warum war er nicht bei Anne Will, um sich sein Lob im TV abzuholen? Nicht mal zugeschaltet aus Goslar oder einem Hotelzimmer? Neue Bescheidenheit? Dafür nahm Will mit Michael Roth Vorlieb, der ein wenig wie Steinmeier mit Bart und Hornbrille aussah, und vor allem durch rosa Söckchen, rosa Manschettenknöpfen und rosa Pünktchen auf der Krawatte auffiel. Was wollte er damit sagen? Ein geheimes Erkennungszeichen des Seeheimer Kreises? Inhaltlich verplapperte er sich nur einmal, das allerdings deutlich. Zunächst erzählte er von „großartiger Teamarbeit“, lobte „die Unabhängigkeit der türkischen Justiz“. Und er wiederholt, wie sein Chef Siggi, es habe „keine Deals, keine Absprachen, auch nicht hintenrum“ gegeben. Dann lobte Ulf den Michael, der Michael den Ulf, der Peter den Michael, der Norbert alle zusammen. Am Ende sollte der Eindruck entstehen, dass die Türken nach einem Jahr hartnäckigster Arbeit der Bundesregierung endlich Gnade vor Recht (wenn Roth denn Recht hat) ergehen ließ. Leider rutschte Rosa-Roth dann irgendwann heraus, dass er im Sommer „nicht einmal mehr eine Antwort auf seine SMS erhalten“ habe. Also recht eingeschränkt, die diplomatischen Möglichkeiten.

Da liegt das Panzer-Argument schon näher. Erdogan fährt deutsche Leopards und braucht Ersatzteile. Einerseits, weil seine Offensive wohl nicht so gut läuft, wie er sich das Blitzkrieg-mäßig vorgestellt hatte. Andererseits plant er nicht nur ein türkisches Auto, vom Motor bis zum Spoiler aus türkischer Produktion, sondern auch einen eigenen Panzer, der Altay heißen soll. Dafür benötigt er leider ebenfalls deutsche Patente.

Sevim Dağdelen kann sich jedenfalls „nur schwer vorstellen, dass er nix bekommen hat“. Übrigens habe Gabriel selber im Spiegel einen Zusammenhang von Deniz und Leo hergestellt (Wenn, dann). Poschardt, der wohl fürchtet, dass sein engagierter Autor freiwillig in den Knast zurückkehrt, wenn er erfährt es habe einen schmutzigen Deal gegeben: „Meinen Sie, dass Gabriel lügt?“ Neeeiiin, niiieeemaals, wollten wir ihm schon zurufen, als Sevim elegant erklärte, das fiele vielleicht unter „offizielle Sprachregelung“. Und Roth empört: „Da gibt es keinen Interpretationsspielraum.“ Sein Argument: Dann hätte die Freilassung ja schon früher stattfinden können.

Bingo! Die Panzerersatzteile und künftige Wahlkampfauftritte Erdogans in Deutschland sind eher ein Kollateralnutzen der Affäre. Nein, wir sollten die deutsche Außenpolitik der Ära Merkel nicht überschätzen. Inzwischen fürchtet die Welt zwar den Mahner und Warner vom AA, auch wenn er Geschenke bringt. Beziehungsweise sie ist schwer genervt vom deutschen Gutmenschenwesen, an dem alle sollen genesen. Aber diplomatische Erfolge gibt es für unsere Diplomaten nur noch gegen Bares. Da pfiff der Wind wohl eher woanders her. Es wurde durchaus der Einsatz von Altkanzler Gerd erwähnt, dabei aber vergessen, wessen Angestellter der Mann heute ist.

„Peter Steudtner, Sie sind Menschenrechtsaktivist“, stellte Will ehrfürchtig fest, „wussten Sie, was auf Sie zukommt in der Türkei, dass Sie im Gefängnis landen könnten?“ „Wir wussten, in welchem Bereich wir aktiv sind und konnten essentielle Dinge vermitteln“, entgegnete sanft der Gefragte. Schade, wir wissen immer noch nicht, was einen Menschenrechtsaktivisten von einem ausländischen Agenten unterscheidet. Kommt wohl aufs Land an, in dem er aktiv ist. Jedenfalls hat Peter („Ich bin noch der gleiche Peter“) nach drei Monaten Knast jetzt viele neue Freunde und schlug der Bundesregierung unter gerührtem Beifall des Publikums vor, überhaupt keine Waffenverkäufe mehr zu tätigen. Als ob die das zu bestimmen hätte.