Tichys Einblick
Deutschland, ein Sommernachts-Albtraum

Arbeitgeberchef bei Anne Will: „Wir wissen gar nicht, welche Feuer wir zuerst austreten sollen“

Die Gäste von Anne Will wirken wie von Sorgen geplagte Menschen morgens im Bett: Die Gedanken schießen kreuz und quer durch den Kopf, ab und an schiebt das Unterbewusstsein ein Happyend vors innere Auge, doch letztlich ringen sie nur noch dem schrecklichen Aufwachen einige Minuten ab.

Screenprint: ARD / Anne Will

Es gibt nicht viele lichte Momente bei Anne Will. Marcel Fratzscher verbraucht gleich am Anfang einen: In Deutschland gab es schon vor dem Ukraine-Krieg eine „Einkommensarmut“, sagt der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Außerdem hätten 30 Prozent der Bevölkerung kein Erspartes, mit dem sie auf Preiserhöhungen für Strom reagieren könnten. Wie das passieren konnte in einer der reichsten Industrienationen der Welt und wie wir aus dieser Situation rauskommen? Diesen Fragen widmete sich spontan die Sendung von Anne Will. War ein Spaß. Es ist Anne Will. Da geht es darum, was auf den Karteikarten der Moderatorin steht. In dem Fall Energiemangel, Preisobergrenzen und der Weiterbetrieb der Atomkraftwerke. Und damit es weder überraschend noch interessant wird, passiert das in Form des Austauschs von politischen Plattitüden.

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Damit wäre Anne Will eigentlich schon zu Ende erzählt. Doch der Erkenntnisgewinn liegt nicht in den Aussagen der Gäste. Er offenbart sich in den Widersprüchen, in die sie sich verstricken. In ihrer Hilflosigkeit. Da ist zum Beispiel jener besagte Fratzscher, ein Vordenker der deutschen Wirtschaft. Er fordert zusätzliche 100 Euro im Monat für Personen, die Sozialleistungen beziehen. Und was mit Geringverdienern sei, fragt Will nach. Na ja, so würden ja schon 8 Millionen Menschen von den 100 Euro profitieren. Und die Geringverdiener gingen leer aus? Auf die Frage war Fratzscher offensichtlich nicht vorbereitet – für die solle es auch Geld geben, aber man müsse darauf achten, dass nicht profitiert, wer es nicht nötig habe. Wenn so die Vordenker aussehen, erklären sich die Ergebnisse danach.

Apropos schlechte Ergebnisse. Will hat wieder ihren liebsten Christdemokraten eingeladen: Jens Spahn. Er steht ebenso für die Versäumnisse der Merkel-Regierung wie für den planlosen Neustart der CDU. Nur mit der Tradition Ludwig Erhards hat Spahn indes weniger am Hut: Bei Will fordert er, den Gaspreis zu deckeln. Einen „Basisbeitrag“ solle es geben, auf den sich die Verbraucher verlassen könnten. An dieser Stelle ist Arbeitgeber-Chef Rainer Dulger zu nennen, der den zweiten lichten Moment der Show hat, als er sagt: „Wir wissen gar nicht, welche Feuer wir zuerst austreten sollen.“ So viele schwere Probleme kämen gleichzeitig zusammen.

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Vor dieser multiplen Fehlerlage lohnt es sich, die Vorschläge von Spahn und Fratzscher weiterzudenken. Nach den beiden müsste der Staat zusätzliches Geld in die Hand nehmen. Angesichts ohnehin schon defizitärer Kassen müsste er die Arbeit zusätzlich mit Steuern belasten. Gleichzeitig müsste der Staat zusätzliche Verwaltung aufbauen. Dadurch entsteht zusätzlicher Reibungsverlust. Vor allem aber müsste der Staat zusätzliches Personal einstellen. Alleine 2021 hat er schon 125.000 neue Stellen geschaffen. Bürger, die wiederum im Handwerk fehlen, das zu wenige Leute hat, um so viele Häuser zu dämmen, Solaranlagen zu installieren oder Windräder aufzustellen, wie es nötig wäre, um erneuerbare Energien auszubauen, wobei wir auch nachhängen. Gäbe es dann noch Fratzschers Bonusgeld für Transferempfänger, dann kämen Personen mit 2.000 Euro Einkommen in die Situation, dass sie am Ende weniger haben, wenn sie arbeiten gehen, als wenn sie Hartz IV beziehen. Entscheiden sie sich für mehr Geld und weniger Arbeit, wird der Arbeitskräftemangel noch schlimmer. Dulger hat recht. Es sind viele Feuer auszutreten.

Aber die Gäste wirken nicht mal so, als ob sie auch nur ein einziges Feuer austreten könnten – eher so, als ob sie brennende Späne noch weiter in die Landschaft schießen. Das zeigt sich schon beim einfachen Thema, Atomkraftwerke länger laufen zu lassen. Da stellte sich nun raus, dass entgegen den Aussagen von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) die Betreiber der Atomkraftwerke doch angeboten haben, Brennstäbe zu besorgen. Was Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang dazu zu sagen hätte, wäre interessant gewesen. Doch für grüne Politiker hat Anne Will eine Schutzzone geschaffen, in der die keine heiklen Fragen zu fürchten haben.

Stattdessen darf Lang ihr Programm zur Atomkraft abspulen. Die helfe nicht. Da sie Strom produziere und keine Wärme. Nun verstromt Deutschland Gas, das wiederum für die Wärme-Erzeugung eingespart werden könnte. Diese Einsparung ist so dringend notwendig, dass Habeck in seiner Verzweiflung die Bürger sogar dazu aufruft, weniger zu duschen und mit kaltem Wasser zu putzen. Angesichts dieses Zusammenhangs wirkt Langs Argumentation am Thema vorbei, ausweichend und vielleicht sogar ein wenig dümmlich. Doch von dieser Konfrontation bleibt Lang in der grünen Schutzzone Anne Will verschont.

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Einmal droht Lang zu stolpern. Es könnten Situationen entstehen, in denen eine Laufzeitverlängerung möglich sei. Das wäre eine Schlagzeile. Eine grüne Vorsitzende hält die Laufzeitverlängerung für möglich. Ob sie das wirklich sagen will, hilft die Grünen-Nanny Will der Nachwuchspolitikerin zurück aufs Gleis. Nein. Natürlich nicht. Habeck würde jetzt einen Stresstest für die Kraftwerke durchführen lassen und dann folgen so viele Eventuells, dass die Gefahr einer für Grüne negativen Schlagzeile abgewehrt ist. Zumal noch Wills liebster Christdemokrat hilft: Der Stresstest sei ja nur ein Trick Habecks, um Zeit zu gewinnen und im Winter sagen zu können, jetzt sei die Verlängerung nicht mehr möglich, prognostiziert Spahn. Die Will-Dramaturgie ist wieder hergestellt – Grüne gegen und CDU für Atomkraft.

Fratzscher ist es, der für die erhellenden Momente sorgt. Im Guten wie im Schlechten. Die Inflation solle man nicht dramatisieren. Jeder Euro, der mehr ausgegeben werde, sei ja auch ein Euro, der anderswo mehr eingenommen werde. So was gilt in Deutschland als Wirtschaftsexperte. Gut. Man könnte ihm unterstellen, er hätte sagen wollen, dass der Staat mitten in der schweren Krise den Bürgern so viele Steuern abnimmt wie noch nie und ihnen davon was erlassen könnte. Doch das sagt er halt nicht.

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Für Fratzscher scheint die deutsche Wirtschaft ein geschlossenes System zu sein. Demnach profitiere die Wirtschaft von der Inflation und müsse die Arbeitnehmer in Form von höheren Löhnen daran beteiligen. Um es in seinem Bild zu sagen: Wenn die WIrtschaft den mehr eingenommenen Euro wieder zurückgibt, ist die Inflation nicht so schlimm. Deswegen sieht er in höheren Löhnen kein Anheizen der Inflation. Das ist politisch sehr gewollt, übersieht aber die kleine Tatsache, dass der Euro nicht unbedingt von Kunde zu Unternehmen zu Arbeitnehmer wandert, sondern auch abfließt. Etwa ins Ausland. Gut, das muss man als Wirtschaftsforscher auch nicht bedenken.

„Allein seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Deutschland 16,72 Milliarden Euro für Gas, Öl und Kohle nach Russland überwiesen“, zitiert die Bild Daten. Sie stammen aus einer Untersuchung des „Centre for Research on Energy and Clean Air“. Auch die steigenden Ausgaben für Rohstoffe haben dafür gesorgt, dass Deutschland im vergangenen Monat zum ersten Mal seit 30 Jahren eine negative Handelsbilanz hatte. Also mehr Geld ins Ausland gezahlt als dort erwirtschaftet hat. Das ist aber noch nichts gegen das Szenario, dass es im Winter an Energie mangeln könnte, um gleichzeitig Wohnungen zu beheizen und Industrie zu betreiben. Die bisherigen Rituale, von denen auch Anne Will lebt, ziehen dann nicht mehr: Steuererhöhungen fordern oder „Wohltaten“ für die Bürger, der Staat, der eingreifen soll oder das Unternehmen, das ja die Löhne erhöhen könnte.

Noch sind es diese Rituale, an denen sich die Gäste von Anne Will festklammern. Die alte Rezepte beschreien, wie ein Albträumender im Schlaf nach Hilfe ruft. Die sich vorm Aufwecken fürchten. Noch drei Tage, bis sich entscheidet, ob Putin das Gas wieder fließen lässt oder nicht. Was dann passiert? Die Sendung von Anne Will lässt dazu keine Schlüsse zu. Das kann sie nicht mehr leisten. Sie ist im Moment nur gut dafür, vorzuführen, wie hilflos und planlos die Beteiligten sind. Wie schon seit langem. Sonst wäre es in einem bisher reichen Land nicht zu „Einkommensarmut“ und fehlenden Rücklagen gekommen, ohne dass es in der wichtigsten politischen Talkshow bemerkt worden ist.

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