Tichys Einblick
Wenn das Henri Nannen wüsste ...

Der sinkende „Stern“

Miserable Titelgeschichten, jämmerliche Themen, drittklassig umgesetzt: Der Niedergang der einst großen Zeitschrift "Stern" ist selbstverschuldet. Jetzt spart der G+J-Verlag Kernbereiche der Redaktion weg - die droht mit Streik.

imago images / Steinach

Der Musikdampfer ist leck geschlagen. Der Stern, einst von seinem Gründer Henri Nannen wegen seines Themenangebots für jedermann so getauft, beklagt nicht mehr nur ein defektes Bullauge im 12. Deck hoch über den Wellen, durch dessen marode Dichtung ab und zu Wasser von großen Brechern ins Innere tröpfelt. Inzwischen ist es ein veritables Leck – unterhalb der Wasserlinie. Noch halten die Schotten. Dass aber auch Giganten untergehen können, weiß die Welt seit der Titanic. Denn die Auflage als wichtigster Indikator ist nicht einfach nur auf Tauchstation. Das ist sie schon seit ein paar Jahren. Sie ist im steilen Sinkflug. Was ganz sicher nicht nur an den ohne Frage schwierigen Zeiten für Print-Produkte und der mächtigen Internet-Konkurrenz liegt. Sondern vor allem an der jämmerlichen Themenfindung, ihrer drittklassigen Umsetzung und den obendrein oft miserablen Titelgeschichten, bei denen sich das Papier eigentlich weigern müsste, damit bedruckt zu werden.

Lange vorbei sind die Zeiten, in denen am Hamburger Baumwall die Sturmglocken läuteten, sobald sich bei einer verkauften Gesamtauflage von 1,2 bis 1,3 Millionen jede Woche der Grossoabsatz (Kioskauflage) der magischen Zahl von 500.000 Exemplaren näherte. Und zwar von oben. Rutschte sie mal unter diese Marke, war Rambazamba im Verlag und der Chefredakteur schaute flugs in seinen Vertrag, wie viel Abfindung er im Falle seines Rausschmisses bekommt. Längst hat sich der Sinkflug rasant beschleunigt. So stark, dass man für die Ausgabe 52/2020 nur noch 96.451 Verkäufe am Kiosk zählen konnte. Anfang Januar soll sich diese Zahl Gerüchten zufolge sogar der 70.000er-Marke genähert haben. Rechnet man alles zusammen, Kioskauflage, Abos, Lesezirkel und sonstiges, dann kam das letzte Heft des Jahres 2020 auf genau 374.727 Stück.

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Die Lage ist mit dem Begriff „bitter“ nicht mehr korrekt beschrieben. Sie ist dramatisch. So dramatisch, dass das, was dossierB letztes Jahr bereits orakelte, nun Wirklichkeit geworden ist: Es werden am Hamburger Baumwall nicht mehr nur Klein-Ressorts gestrichen oder Groß-Ressorts untergeschoben. Wie es vor Jahren schon mit den jahrzehntelang eigenständigen Ressorts Sport, Reise, Auto, Medizin oder Deutschland aktuell (Sex and Crime) geschah. Diese Maßnahmen wurden von der jeweiligen Chefredaktion gerne mit dem Hinweis begründet, dass man wegen der flachen Hierarchie im Laden einfach weniger Ansprechpartner brauche. Dass die Themen der sogenannten Klein-Ressorts dadurch allerdings auch deutlich weniger Wucht in der wöchentlichen Themenmischung bekommen haben, war zweitrangig. Seit dieser Woche ist nun klar, dass es ab März auch den einstigen Kern trifft – das Politik- und Wirtschafts-Ressort (PoWi) in der Zentrale wird aufgelöst.

In der Verlagsmitteilung ist das natürlich freundlicher formuliert, indem man darauf verweist, dass dieses Ressort mit der Redaktion des Wirtschaftsmagazins Capital zusammengelegt wird, das passenderweise in Berlin sitzt. Gleichzeitig zieht Capital-Chefredakteur Horst von Buttlar in die Stern-Chefredaktion ein. Bloß: Capital ist ein Monatsblatt, der Stern erscheint wöchentlich. Stellt sich die Frage: Wer gewichtet und stemmt die in Frage kommenden Themen, die andauernd im Berliner Politikbetrieb anfallen? Und vor allem: Wer dreht sie Stern-gerecht weiter? Die flockige Einlassung des intern höchst umstrittenen Chefredakteurs Florian Gless dazu lautet so „Wir versprechen uns viel davon. 2013 ist Capital nach Berlin gezogen, seitdem gibt es in der Hauptstadt zwei G+J-Redaktionen, die auf ähnlichen und auch gleichen Themenfeldern arbeiten. Aber auch nach beinahe acht Jahren ist es uns so gut wie nicht gelungen, einen regelmäßigen Austausch zwischen den Teams zu erzeugen. Man agiert nebeneinander, nicht miteinander. Das halten wir für nicht mehr zeitgemäß. Großartiger Journalismus braucht immer wieder auch die breite Recherche, das Teamwork. Zusammen sind wir einfach stärker.“

Nein, Sie haben sich nicht verlesen. Er sprach tatsächlich von „großartigem Journalismus“. Wer das einst renommierte Blatt in den letzten Jahren aufmerksam verfolgt hat, dürfte wenig gefunden haben, was diesem Qualitätsmerkmal entsprochen hat. Auch schreiberische Brillanz, ehedem eine Bastion des Blattes, findet man nur noch selten. Vielmehr geht es bei stetig sinkender Auflage und parallel dazu ebenso rückläufigen Anzeigenumsätzen ums Sparen, Zusammenstreichen und Zusammenlegen. Wie jetzt mit der Capital-Fusion. Geradezu peinlich mutet da das Geschwurbel von Co-Chefredakteurin Anna-Beeke Gretemeier zu dem Vorgang an. Sie sagte: „Wir alle wissen, dass zeitgemäßer Journalismus vor einer doppelten Herausforderung steht: Er muss mit gleichbleibenden oder geringeren Mitteln mehr und bessere Arbeit leisten. Denn die Anforderungen unserer Leserinnen und Leser an Sorgfalt und Expertise wachsen in einer immer unübersichtlicheren Welt.“ Ob sie das eigene Blatt jemals gelesen hat?

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Klar, wir wissen, solch gestanztes PR-Geklingel überdauert den Tag nicht und soll bloß die unerfreulichen Vorgänge vernebeln. Geht es doch jetzt ans Eingemachte: um breit angelegten Personalabbau. Laut Gless und Gretemeier würde man nun mit den betroffenen Kollegen in Hamburg Gespräche darüber führen, wie es weitergeht. Wer sich angesichts dieser Dramatik noch Hoffnungen auf einen Verbleib macht, muss mit dem Etikett klarkommen, ein Amateur zu sein. Schließlich geht es um Entlassungen oder Abschiede mit ein paar Dollar in der Hand. Angesichts der stetig sinkenden Auflage glaubt der Verlag, dass der Stern im Verhältnis zu den Verkäufen zu viele Leute an Bord hat. Wie zu hören ist, dürfen sich 17 Redakteure aus Hamburg auf acht Stellen in Berlin bewerben. Wer gnadenhalber genommen wird, muss dann allerdings damit rechnen, dass er oder sie für weniger Geld weiter wurschteln darf.

Obwohl die Verantwortlichen wissen, dass Journalismus Geld kostet, und guter Journalismus sogar viel Geld, meinen manche Beobachter, dass es inzwischen der einzige Unternehmenszweck des Verlages sei, Geld zu sparen. Dabei müsste man genau das Gegenteil machen, das, was an den Wirtschaftsfakultäten der Unis seit Jahrzehnten gelehrt wird: In der Krise Geld in die Hand zu nehmen und in ein Produkt zu investieren. Dazu muss man allerdings daran glauben. Nur dann gibt es eine Chance auf Zukunft, die jedoch leider selten genutzt wird. Denn in normalen Zeiten, wenn ausreichend Geld in den Kassen liegt, kann jeder investieren. Doch das Gebot, in der Krise Geld auszugeben, gilt in der Praxis gemeinhin als blauäugig nach dem Motto: Träum weiter! So darf man vermuten, dass die Bosse im Verlag wohl den Glauben an das einstige Mega-Magazin verloren haben und nur deshalb vorerst die Ampeln weiter auf Grün stehen, weil damit immer noch ein paar Millionen im Jahr verdient werden.

Jetzt also die Einheit mit Capital. Und morgen? Ganz einfach, nach dem längst laufenden personellen Aderlass lässt sich die Capital-Methode vielleicht so ausweiten: Demnächst dürfte der Wissenschaftsbereich des Stern von Geo kommen, Gesellschaftsthemen von Gala, Frauenthemen von Brigitte, Kinder-Geschichten von GeoLino, Küchenstories von Essen+Trinken, Kriminalfälle von Crime und sonstiges Story-Geplänkel womöglich von View.

Ach so, nicht zu vergessen: Künftig wird der Stern auch nicht mehr über eine eigene Dokumentation verfügen, die die Fakten prüft. Fortan wird eine Zentral-Dok installiert. Gleiches gilt auch fürs Lektorat, damit ist die Textpflege gemeint. Früher gab es beim Stern mal drei Textchefs, die akribisch um Worte feilschten und krumme Texte gerade gebogen haben. Auch vorbei. Es wird wohl ein Zentral-Lektorat für alle Blätter des Hauses gebildet werden. Geleitet werden diese beiden Bereiche, Dokumentation und Lektorat, von Norbert Höfler. Der ehemalige Stern-Mann, dort selbst einst langjähriger PoWi-Chef, dann New York-Korrespondent und nach seiner Rückkehr Autor im PoWi-Ressort, hat kürzlich als eine Art Ober-Administrator für die Redaktionen gerade noch die Kurve ins Verlagsmanagement gekriegt.

Letze Meldung: Nach einer Vollversammlung der Redaktion (etwa 140 Leute) am Donnerstag wurde beschlossen, die Geschäftsführung aufzufordern, diese Ressortschließung PoWi zurückzunehmen. Sollte das nicht geschehen, wird ein Streik erwogen.

Capital-Chefredakteur Horst von Buttlar gilt als zuverlässiger und ernsthafter Kollege, dem linkes Gewäsch ein Graus ist. Sein Verdienst ist es, die Marke Capital gerettet zu haben. Denn die Geschichte ist – freundlich formuliert – wechselhaft. 1962 gegründet erlebte die Zeitschrift unter ihrem Chefredakteur und späteren Herausgeber Johannes Gross, einem der legendären Nachkriegsjournalisten vom Range eine Henry Nannen oder Rudolf Augstein einen Höhenflug und verkaufte rund 300.000 Exemplare. Capital war dick wie ein Brett, und die Briefkastenschlitze limitierten den Umfang. Er war so erfolgreich, dass Gross sogar Stern-Chefredakteur werden sollte.

Das im Jahr 1983. Zusammen mit Peter Scholl-Latour sollte er die Herausgeberschaft und Chefredaktion des stern übernehmen, dessen vorherige Leitung nach dem Debakel um die gefälschten Hitler-Tagebücher ihre Sessel räumen musste. Dazu kam es jedoch nicht: Nach tagelangen Protesten der Belegschaft, die einen politischen Rechtsruck des Magazins fürchtete, verzichtete Gross darauf, den Posten anzutreten. Höhepunkt des Widerstands gegen Gross bildete eine öffentliche Kundgebung in Hamburg vor mehr als 2.000 Journalisten und Sympathisanten, eine bis heute in der deutschen Medienlandschaft einmalig gebliebene Protestaktion gegen die missliebige Personalentscheidung eines großen Verlagshauses.

Die Beziehung von Stern und Capital ist also durchaus von gegenseitiger Abneigung gekennzeichnet. Gross hatte keine gleichrangigen Nachfolger bei Capital. Zunächst durfte Ralf-Dieter Brunowsky das Blatt ruinieren. Wo Gross feinsinnig war, erwarb sich Brunowsky einen Ruf als tumber Holzhacker. Es war ein Abstieg vom großen Intellektuellen und einem großen Blatt zum geistig Schlichten. Für das biblische Linsengericht half Brunowsky mit Sonderausgaben mit, die Aktie der Telekom hochzujubeln und seine Leser zu verarmen. Der glänzende Ruf als Wirtschaftsblatt war lädiert. Nach ähnlich schlichten Chefredakteuren wurde das Blatt zusammen mit der Financial Times Deutschland (FTD), Impulse, Börse-Online und Capital in einer Gemeinschaftsredaktion geführt – vom heutigen SPIEGEL-Chefredakteur Steffen Klusmann. Dabei wurden die eher konservativen Wirtschaftsblätter zu Gunsten der linksliberalen FTD ausgeblutet und ausgebeint. Das schien der endgültige Ruin des Traditionsblattes Capital, ehe es Horst von Buttlar aus der Gruner+Jahr Gulaschkanone rettete und wieder eigenständig führte. Jetzt kommt es zu einer Art Revers Take-Over, und wieder zu einer Gemeinschaftsredaktion. Solche Gemeinschaftsredaktionen sind reine Spar-Aktionen, die die journalistische Identität zerstören.

Derzeit meldet Capital eine ständig schrumpfende Auflage von 45.808 Abos, die zum Teil noch aus der Ära Gross stammen und 6.255 verkauften Exemplaren am Kiosk. Buttlar hat es auf Rentabilität getrimmt und Wirtschaft durch modernen Lifestyle ergänzt und streckenweise ersetzt. Die Auflage klingt mäßig, ist aber insgesamt deutlich mehr, als etwa Erzkonkurrent Wirtschaftswoche noch auf die Waage bringt: Sie verkauft rund 4.100 Exemplare am Kiosk.

Zum Vergleich: Das Print-Magazin Tichys Einblick verkauft rund 9.300 Exemplare am Kiosk. Es hat niemand die Absicht, die Wirtschaftswoche zu kaufen.


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