Tichys Einblick
Nach Relotius noch ein Spiegel-Skandal

Das System „Spiegel“: Flaggschiff des moralisierenden Haltungs-Journalismus

2019 beschädigte der Relotius-Skandal das Ansehen des "Spiegel", nun gesteht das Magazin ein, vor 27 Jahren mit einer höchst fragwürdigen Titelgeschichte ein politisches Beben ausgelöst zu haben, für die es sich nun entschuldigen musste. Beide Skandale sind nur die Spitze eines Eisbergs. 

"Der Spiegel", Verlagsgebäude in Hamburg

imago images / Jürgen Ritter

Macht korrumpiert. Nicht immer, aber immer wieder. Das gilt auch für mächtige Medien. Der Spiegel, seit Jahrzehnten das politisch wohl einflussreichste Leitmedium in Deutschland, hat seine Macht oft missbraucht. Das jüngste Eingeständnis des Magazins, 1993 mit einer Titelgeschichte auf windiger, äußerst dünner Grundlage den Innenminister Rudolf Seiters (CDU) und die Sicherheitsbehörden fälschlich und folgenreich für einen Mord an dem RAF-Terroristen Wolfgang Grams in Bad Kleinen mitverantwortlich gemacht zu haben, demonstriert, welche dramatischen Ausmaße und Folgen ein solcher Machtmissbrauch zuweilen hat. 

Der Rücktritt von Seiters und der vorzeitige Schritt in den Ruhestand von Generalbundeanwalt Alexander von Stahl waren nur die spektakulärsten Folgen der Spiegel-Story. Der Vertrauensverlust der Bevölkerung in die deutschen Sicherheitsbehörden lässt sich nur erahnen. Der alltägliche Machtmissbrauch des Magazins ist in der Regel weniger Aufsehen erregend, er ist subtiler, kleinteiliger und gewöhnlicher. 

Das System Spiegel besteht im Grunde schon immer aus einer gefährlichen Koexistenz von erstklassigem Qualitätsjournalismus mit hohem investigativem Aufwand und hervorragenden Autoren einerseits und einem oft parteiischen, skandalisierenden und sensationsheischenden Tendenzjournalismus andererseits. Zuweilen, wie im Fall des vielfach ausgezeichneten Spiegel-Starautors Claas Relotius, der bis 2018 Dutzende emotional-reißerischer Geschichten voller Lügen und Erfindungen im Blatt platzierte, kommt es sogar zu einer erstaunlichen Vermischung der beiden Ebenen. 

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Die jüngste Veröffentlichung eines akribischen Berichts über die Titelgeschichte zum GSG-9-Einsatz und das Eingeständnis, „auf Basis einer mangelhaft geprüften und falschen Aussage einen journalistischen Fehler begangen“ zu haben, ist für den Spiegel trotz des vieljährigen Abstands durchaus ehrenwert und keineswegs selbstverständlich. Die Fehlerkultur der deutschen Medien steckt allgemein noch in den Kinderschuhen. Selbstkritik gehört traditionell auch nicht zu den Stärken des Hamburger Magazins – die Bereitschaft dazu ist nach den gravierenden Fehlleistungen der Redaktion, die beim Relotius-Skandal erschreckend deutlich wurden, sichtlich gewachsen. 

Der Autor der Bad Kleinen-Story, Hans Leyendecker, heute bei der Süddeutschen Zeitung (SZ), zeigte sich pikiert. Er habe sich oft genug für die zu wenig überprüften Quellen entschuldigt; die Frage der Spiegel-„Aufklärungskommission“ an ihn, die damalige Quelle offenzulegen, sei eine „Bankrotterklärung der heutigen ‚Spiegel‘-Macher“, denen Quellenschutz wohl nichts bedeute. Hans-Werner Kilz, 1993 als Spiegel-Chefredakteur Leyendeckers Boss (und später bei der Süddeutschen wieder), bezeichnete den Bericht zornig als „Machwerk“.

Die Selbstgerechtigkeit der beiden Journalisten angesichts der gravierenden politischen Folgen ihrer sehr fragwürdigen Geschichte, bei der schon die widersprüchlichen Darstellungen Leyendeckers über seine Quellen höchst irritierend sind, verblüfft niemanden, der das Selbstverständnis und das Sendungsbewusstsein des Magazins kennt. 

Das selbsternannte „Sturmgeschütz der Demokratie“ hat sich ohne Zweifel mit blendend recherchierten Enthüllungen, Reportagen und Hintergrundgeschichten auch um die politische Kultur in Deutschland verdient gemacht. Der Spiegel ist zu einer gewichtigen Institution für das Land geworden. Allerdings zeigt auch der Skandal um die Berichterstattung in Bad Kleinen, dass die Scharfschützen des Magazins oft genug Unschuldige ins Visier nahmen, und nicht selten – wie auch hier – enormen Schaden angerichtet haben.

Abgesehen von solch spektakulären Fällen befindet sich der Platzhirsch der politischen Medien in Deutschland schon seit langer Zeit auf einem gefährlichen, abschüssigen Pfad. Der sprachlich eigenwillige, überheblich wirkende Spiegelstil, Einseitigkeit und Übertreibungen und die große Neigung zum Skandalisieren begleiten den Spiegel von der ersten Ausgabe an. In Deutschland hat wohl kaum ein Medium so früh und in diesem Ausmaß die feine, extrem wichtige Grenze zwischen dem journalistischen Beobachter und Analysten hin zum politischen Akteur überschritten und verletzt. 

Bad Kleinen 1993 und das "Spiegel"-Desaster
Hans Leyendecker bleibt sein eigener Zeuge
Je öfter und flächendeckender Spiegel-Geschichten einen politischen „Spin“ bekamen, bei denen allein schon mit einer subjektiven Wortwahl und dem Duktus der Story Politiker und politische Sichtweisen entweder hochgejubelt oder niedergemacht wurden, desto mehr litten die journalistischen Standards. In Gesprächen mit Spiegel-Journalisten konnte man den Eindruck gewinnen, dass sie die Empörung von Politikern über Parteilichkeit und Unfairness des Blatts oft als Bestätigung ihrer Arbeit werteten.  

Einen deutlichen Schub hin zum emotionalen, sensationsheischenden Boulevardjournalismus bekam das Magazin 1994 mit Spiegel Online (SPON). Mit diesem modernen, blendend gemachten Internet-Auftritt wurde SPON umgehend im Web das politische Leitmedium Nr. 1 in Deutschland. Inzwischen ist die Konkurrenz – Focus und Bild-Zeitung – bei der Reichweite erfolgreicher – bei den Eliten von Politik, Wirtschaft und Kultur ist SPON vermutlich nach wie vor die bei weitem einflussreichste Medien-Website. 

Kritik an dem publizistischen Lebenswerk von Rudolf Augstein gab es schon immer. Hans-Magnus Enzensberger bemängelte 1957 den Spiegel-Stil als „Masche“ und „die Koketterie mit der eigenen Gewitztheit“. Das Blatt sei kein „Nachrichten-„ sondern ein „Story-Magazin“, das oft nur spekuliere und mutmaße, oft mit „inquisitorischem Charakter“ Material gegen Politiker sammle. „Nicht Richtigkeit, sondern Unangreifbarkeit“ sei entscheidend, als falsch gelte nur, was juristisch erfolgreich angefochten werden könnte. 

Mit diesem Pfund wuchert der Spiegel besonders gerne. Schließlich genießen Medien dank der im Grundgesetz garantierten Presserechte auch Narrenfreiheit. Während im Staat die Gewaltenteilung, unabhängige Institutionen und Medien den Machtmissbrauch verhindern können, kennen Medien keine Kontrolle. Die darf es in einer Demokratie auch nicht geben. Es ist alles erlaubt, was nicht gegen Gesetze verstößt. Seriöser Journalismus zeichnet sich deshalb durch besonderes Verantwortungsgefühl aus. Bei diesem Maßstab kann man dem Spiegel kaum gute Noten zubilligen. “Die Ideologie des Spiegel ist nichts weiter als eine skeptische Allwissenheit, die an allem zweifelt außer an sich selbst,” lästerte Enzensberger schon vor mehr als 60 Jahren. Es hat sich kaum etwas geändert.

Von jeher beklagen viele Politiker die Gier der Medien nach Sensationen, die Parteilichkeit, Aggressivität und Hemmungslosigkeit von Journalisten. Seitdem die digitale Revolution die Medienlandschaft kräftig aufwühlt und das Internet eine weltweite Kakophonie von Informationen und Meinungen beschert, ist es für Politiker und andere gesellschaftliche Protagonisten nur teilweise leichter geworden. Zwar haben die Medien das Monopol der Zugangs zur Öffentlichkeit verloren, auch Politiker und Parteien können sich direkt an die Bürger wenden. Dennoch haben die wichtigen Leitmedien in aller Welt, wie der Spiegel in Deutschland, vor allem dank ihrer traditionellen Vertrauenswürdigkeit, eher noch einen zusätzlichen Machtgewinn verbuchen können. 

Für diejenigen, die sich als Opfer von Kampagnen und Diffamierungen der Medien empfinden, ist es dagegen noch schwerer geworden. Während US-Präsident Donald Trump, reich und medienerfahren, vehement und durchaus erfolgreich den Kampf mit den Medien seines Landes aufnahm, haben Politiker normalerweise kaum diese Option. Es ist meist von vorneherein ein ungleicher Kampf. Das erklärt, warum Politiker heute nur sehr selten Medien kritisieren, sich vor jeder „Medienschelte“, mag sie noch so unberechtigt sein, hüten. (Am meisten profitieren davon heute die öffentlich-rechtlichen Sender mit ihrem oft schamlosen Tendenz-Journalismus, beispielsweise wenn es um Trump oder das Klima geht.) 

Der ehemalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck berichtete von seinem „Gefühl der Hilflosigkeit“, als der Spiegel 2006 berichtete, er fordere weitere Steuererhöhungen. Das löste größte Unruhe in der großen Koalition und auch in der SPD aus, dabei sei das Zitat völlig aus dem Zusammenhang gerissen und sinnentstellt interpretiert worden, so Beck. Seine Versuche, die Aussagen zu erklären und zu relativieren, seien gescheitert. „Ich habe das einfach nicht aus der Welt gekriegt.“ 

Als er sich später in einem Redaktionsgespräch beim Spiegel über die unfaire Art beschwerte, habe der Autor ganz offen geantwortet: „Ich werde mir doch meine Geschichte nicht kaputtrecherchieren.“ Kein Redakteur des Magazins am Tisch habe damals reagiert. Viele Politiker haben mit dem mächtigen Spiegel ähnliche Erfahrungen gemacht. Spiegel-Autoren missachten besonders gern das ungeschriebene, überragend wichtige Gebot eines guten Journalismus, nämlich fair und differenziert über Politiker und andere gesellschaftliche Protagonisten zu berichten. 

Mehr als 60 Jahre nach den nüchternen Betrachtungen Enzensbergers über den Spiegel scheint kaum etwas von seinen Einsichten überholt. Vieles ist eher noch schlimmer geworden. Vor allem die politische Einseitigkeit – wenn es beispielsweise um Israel, Nahost oder deutsche Sichtweisen rechts von der nach links verschobenen Mitte geht – hat zugenommen. Bei der Berichterstattung über Donald Trump kann man schon fast von Hass sprechen – ein Titelbild zeigte im Februar 2017 den US-Präsidenten mit einem Messer und dem blutigen Kopf der Freiheitsstatue in den Händen. Viel schlimmer ist allerdings seit vielen Jahren die gesamte US-Berichterstattung des Blatts, die oft genug von einem scheinbar tiefsitzenden Anti-Amerikanismus geprägt ist. 

TE unter NGO-Beschuss
Der Kampf um die Pressefreiheit geht in die nächste Runde
Der langjährige Spiegel-Online-Autor Marc Pitzke mit Sitz in New York darf sich wohl rühmen, mit fast jeder seiner Geschichten die angeblich tiefe Verdorbenheit Amerikas zu entlarven. Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo phantasierte vor wenigen Wochen sogar einen rechtsextremem Umsturz in den USA herbei, sollte Trump die Wahl verlieren. Dieser setze dann „auf Eskalation durch die rechtsextremen bewaffneten Kräfte“. Nicht einmal der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden, der durchaus fürchtet, Trump könnte mit allerlei juristischen Mitteln versuchen, eine Wahlniederlage zu verhindern, unterstellt, dass Trump mit Hilfe rechtsradikaler Milizen das Weiße Haus verteidigen werde. 

Wie ein roter Faden zieht sich seit Jahrzehnten der Tenor durch viele Spiegel-Stories, die USA seien eine kaputte, gewalttätige Gesellschaft, politisch mehr oder minder korrupt, finstere Lobbygruppen von Konzernen, insbesondere der Rüstungsindustrie diktierten eine aggressive, rücksichtslose Kriegspolitik. Mit dem ersten schwarzen Präsidenten der US-Geschichte, dem politischem Pop-Star Barack Obama, war das Magazin nachsichtiger. Die Berichte über die Präsidenten Jimmy Carter, Ronald Reagan, George W. Bush und Trump waren fast immer geprägt von Geringschätzung, Misstrauen und Ablehnung bis hin zu Verachtung und Hass. 

Der Spiegel, der als erstes seriöses Medium in Deutschland unbekümmert dem Trend der Skandalisierung, Emotionalisierung, Personifizierung und Boulevardisierung folgte, wurde unter den deutschen Medien zum Vorreiter und Flaggschiff des moralisierenden Haltungs-Journalismus. Fast bei jeder Geschichte signalisieren die Autoren dem Leser mehr oder minder subtil,  wer gut und wer böse ist, wer die richtigen, wer die schlechten Argumente hat. Wenn aber jeder Bericht und jede Reportage gleichermaßen auch Kommentare sind, ohne dass dies auch erkennbar ist, dann werden fundamental journalistische Standards verletzt. Irgendeine Form von Scham scheinen diese Journalisten nicht zu haben – sie sind schließlich davon überzeugt, dass sie immer wissen, wer gerade Held, Täter oder Opfer ist. 

Bei vielen Themen – wie Klima, Migration/Flüchtlinge, Israel/Nahost oder „Rassismus“ – demonstrieren Spiegel-Schreiber eine von grüner und linker Weltsicht geprägte „Haltung“, was in der Regel den bewussten Verzicht auf Distanz, Nüchternheit und Objektivität bedeutet. Zumindest hat der Spiegel Konsequenzen aus dem Relotius-Skandal gezogen: Seit Jahresbeginn gibt es eine Ombudsstelle, die sogar anonyme Hinweise auf Unregelmäßigkeiten in der redaktionellen Arbeit ernst nehmen will. 

Zugute halten kann man dem Magazin auch, dass es immer wieder auch Ausnahmen von der tendenziösen Generallinie gab und gibt. Seit dem Relotius-Skandal könnte man sogar den Eindruck gewinnen, dass bei einigen Redakteuren ein selbstkritisches Nachdenken begonnen hat. Eine ausführliche, sauber recherchierte und faire Geschichte über die übel diffamierte Schriftstellerin Monika Maron im Oktober, erstaunlich kritische Beiträge über die SED-Spuren bei den Linken oder den Grünen-Chef Robert Habeck im Sommer könnten als Belege dafür angesehen werden. 

Der Spiegel konnte sich immer viel mehr leisten als andere Medien. Politiker und Journalisten hatten gleichermaßen einen enormen Respekt vor der Macht des Leitmediums aus Hamburg mit seinen investigativen Möglichkeiten und seinen vielen ausgezeichneten Journalisten und Autoren. Fast jeder deutsche Auslandskorrespondent in den Metropolen der Welt hat schon mehrfach die Erfahrung gemacht, dass Anfragen der Zentralredaktionen mit den Worten begannen: „Der Spiegel berichtet, dass ….“. 

Als dpa-Auslandskorrespondent im Nahen Osten, in Afrika, in Italien und den USA habe ich immer wieder sowohl die enorme Macht als auch die gravierenden Macken dieses einflussreichen Mediums erlebt. Dabei ist ein erstaunliches Phänomen zu beobachten: Spiegel-Korrespondenten waren zwar fast überall angesehen und geachtet, obwohl fast jeder Kollege anderer deutscher Medien – ebenso wie Diplomaten und Wirtschaftsvertreter aus Deutschland – über aufgebauschte Spiegel-Stories, über üble Verdrehungen und Übertreibungen, nicht selten auch falsche Fakten und Daten zu berichten wusste. Denn viele Geschichten, wenngleich mit vielen Quellen, gut und professionell geschrieben, waren unseriös zugespitzt, aufgeblasen, einseitig oder dramatisierend. Paradoxerweise durchschaute man die Spiegel-Masche vor Ort ganz genau, gestand dem Magazin aber doch insgesamt zu, informativ und bereichernd zu informieren. 

Eine persönliche Bemerkung zum Schluss: Es ist bitter für mich, das alles zu schreiben. Seit etwa 50 Jahren bin ich ein treuer Spiegel-Leser. In vordigitalen Zeiten begab ich mich in selbst abgelegenen Hauptstädten Afrikas oder Asiens schon kurz nach der Ankunft auf die Suche nach dem Magazin, meist gab es jeweils nur einen Buchladen mit ausländischen Titeln. Deutsche Diplomaten oder das Goethe-Institut waren meist knausrig, wenn es um das begehrte Blatt ging. Die Lektüre des Spiegel beim Abendessen im Hotel war dann fast schon ein Ritual, auch ein Brückenschlag zur Heimat, das Blatt bot Hintergründe und Orientierung in Zeiten, in denen es noch keine Informationsfluten gab. Heute kann ich weltweit SPON lesen – ich tue es immer seltener.  

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