Tichys Einblick
Diesmal von 50 auf 35, nächstes Mal auf O?

Bei Anne Will nichts Neues – dennoch eine entlarvende Stunde

Keine Antworten auf die Sorgen der Bürger. Das lag natürlich einmal mehr daran, dass bei der Auswahl der Gesprächspartner keine fundiert kritischen Stimmen zugelassen werden und Christian Lindner die Stunde der Opposition verschlafen hat.

Screenprint ARD / Anne Will

Talkshows in den öffentlich-rechtlichen Sendern sind zur Zeit besonderer Aufmerksamkeit wert. Denn selten ist das Vertrauen der Deutschen in die Politik und die Führung des Landes so im Sinkflug begriffen wie in diesen Wochen – und das Parlament, der Ort der Debatte, tagt nur in Ausnahmefällen und im Nachhinein, ohnehin beherrscht von einer übermächtigen Koalition und dann noch zwei Oppositionsparteien, die zahm sind. Eine schlechte Ausgangslage für die Demokratie, eine gute für Talk-Formate. Welche Antworten werden also gegeben, wie professionell erfüllen die Talk-Ladies ihren Job? Fungieren sie weiter als Lautsprecher des Kanzleramts oder sind sie Anwalt ihrer Zuschauer. Die meiste Zustimmung dürfte gestern Abend bei Anne Will die Frau vom Spiegel erfahren haben, indem sie trocken und auf den Punkt feststellte: „Das Land wurde in der Corona-Frage im letzten Jahr nicht regiert, sondern es wurde herumlaviert.“ Der Spiegel kritisch? Schon das ist eine Meldung wert.

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Und siehe da, welch Überraschung, die Gastgeberin ging gleich ans Eingemachte. Gleich mehrfach ließ Anne Will aus dem Munde Merkels vernehmen, dass der Inzidenzwert von 50 Infizierten je 100.000 Einwohner eine Art Wasserscheide sei, nach deren Erreichen das Land wieder leben könne. Doch jeder weiß spätestens seit vergangener Woche, dass die neue Zauberzahl 35 ist, ja man sogar einen Wert unter 10 anstrebt.

Zumindest jetzt hätte man erwarten können, dass von Regierungsseite ein Wort des Bedauerns angesichts dieser offensichtlichen Irreführung in der Kommunikation gekommen wäre. Aber nein, die wirklich Weisen und Klugen machen bekanntlich nie Fehler, und wenn etwas schiefläuft, haben es die Untertanen nicht verstanden. Finanzminister Olaf Scholz murmelte etwas von, die Zahl 35 wäre doch bekannt gewesen, und verwies auf kleingedruckte Passagen des Infektionsschutzgesetzes. Schön wäre es gewesen, wenn Will an dieser Stelle mal nach dem Unterschied zwischen umfassenden Maßnahmen bei einer Inzidenz von 50 und lediglich weitgehenden Maßnahmen bei unter 35 zu gefragt hätte. Doch Fehlanzeige!

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Noch leichter als Scholz machte es sich Markus Söder, der Starkraftprotz aus Bayern. Getreu dem Motto, das schon Konrad Adenauer ab und an bemühte: „Was stört mich mein Geschwätz von gestern“, erklärte Söder, die 35 sei von vornherein klar gewesen, man habe sich nur nicht getraut, sie zu nennen, da man schlicht noch zu weit davon entfernt war. Wie er mit solcher Wortakrobatik das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen will, ist wohl nur mit fränkischer Schlauheit zu erschließen.

Nach diesem Smalltalk brachte dann FDP-Chef Lindner etwas mehr kritische Sachlichkeit in die Runde. Er hätte gern etwas über die Gründe für diverse Entscheidungen erfahren, z. B., warum gerade die Friseure jetzt wieder zur Schere greifen dürfen und andere aber ihre Tätigkeit nicht wieder aufnehmen könnten. Ihm fehle schlicht die Plausibilität im Handeln der Regierung. Ein Vorwurf, den die Grünen-Vorsitzende Baerbock gewohnt forsch aufgriff. Zwar hielt sie sich, wie seit langem eingeübt, mit direkten und scharfen Attacken gegen den gewünschten zukünftigen Regierungspartner CDU zurück, wies aber als erste deutlich auf die Belastung großer Teile der Bevölkerung hin und forderte ein wesentlich professionelleres Arbeiten bei Organisation und Durchführung von Beschlüssen. Ein Punkt, bei dem sie später in Sachen Schnelltests zur Selbstdurchführung noch einmal auf die erneut langsame und zögerliche Umsetzung hinwies. Es gehört schon Mut dazu, wenn der SPD-Kanzlerkandidat Scholz dann ausholend die schon so oft gehörten Worthülsen wie: „Wir sind da dran“, „Da fehlen noch die Zulasssungen, aber wir machen Druck“, „Da verlassen wir uns auf den Rat der Experten“, wiederholte. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, bei diesen Worten das bundesweite Lachen der verzweifelten Zuschauer ob solcher Chuzpe zu hören.

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Spannend wurde es für einen Moment, als die Grünen-Chefin den konkreten Vorschlag unterbreitete, schon in der nächsten Sitzungswoche einen Antrag der gesamten Opposition einzubringen, in dem all die kritischen Fragen, vor allem die nach einer wirklichen Strategie gestellt und die Antworten eingefordert werden. Jetzt hätte die Sendung Schlagzeilen machen können. Mal davon abgesehen, dass Frau Baerbock dabei nicht an die AfD gedacht haben wird, aber sie mit gemeint haben muss, allein schon eine gemeinsame Aktion von Grünen und FDP hätte die Spekulationen über Taktik und Strategie in einem Wahljahr in die Höhe getrieben. Immerhin haben die Oppositionsparteien mit AfD und Grünen gemeinsam erst kürzlich den Bundesfinanzminister in den Bundestag einbestellt. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit in einer parlamentarisches Demokratie. Aber nicht in der Merkel’schen. Scholz hat dies sichtlich als Akt der Majestätsbeleidigung empfunden. Doch leider griff Lindner diesen Ball nicht auf, wie der FDP-Chef überhaupt gestern Abend deutlich schwach wirkte und es an der sonst von ihm gewohnten Schärfe und Empathie fehlen ließ. So hat Lindner die Stunde der Opposition mal wieder verschlafen. Und dann war es auch schon vorbei, und es folgte der lockende Hinweis auf die sich anschließenden Tagesthemen.

Fazit: Antworten auf die Enttäuschung und Sorgen der Bürger wurden nicht gegeben. Das lag natürlich einmal mehr daran, dass bei der Auswahl der Gesprächspartner keine fundiert kritischen Stimmen zugelassen werden. Personen, die weder eigene politische Absichten verfolgen oder sich in irgendeiner Art von Abhängigkeitsverhältnissen von staatlichen Gnaden befinden, suchte man wie so oft vergeblich. Es gibt genügend Wissenschaftler, wie beispielsweise den Epidemiologen Prof. Klaus Stöhr, der ungeachtet einer Bitte des Ersten Bürgermeisters der Stadt Hamburg, Peter Tschentscher, nicht in die geheimnisvolle Kanzler-Beraterrunde vorgelassen wurde, was auch breit durch die Presse ging. Wahrscheinlicher Grund: Er hatte mehrfach öffentlich Zweifel am Vorgehen der Regierung in der Corona-Frage geäußert. Aber Diskussion, Debatte, Streitkultur? Fehlanzeige, nicht nur im Bundestag. Die Leerstelle wächst.

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