Tichys Einblick
Ahnungslos und blauäugig

Bei Anne Will: eine Runde der Hilflosigkeit angesichts von Russlands Krieg gegen die Ukraine

Merkels langjähriger außenpolitischer Intimus Heusgen hat nur eine blamable Begründung: Man habe sich eben in Putin getäuscht und auf die Traditionen langjähriger Entspannungspolitik gesetzt.

Screenprint: ARD/Anne Will

„Anne Will“ vereinte auch gestern Abend wieder eine Runde der Hilflosigkeit. Es ist einfach die Situation rund um Putins Krieg gegen die Ukraine mit mittlerweile weit über 3 Millionen Flüchtlingen, aus der es keinen sichtbaren Ausweg zu geben scheint. Weder die Bundesministerin der Verteidigung, Christine Lambrecht, noch der außenpolitische Sprecher der FDP, Alexander Graf Lambsdorff, oder der Ex-Merkelberater und heutige Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, die langjährige Nato-Strategin Stefanie Babst, aber auch die Exil-Ukrainerin und Publizistin Marina Weisband vermochten einen solchen aufzuzeigen. Was blieb, war das Zusammenkehren der Scherben aus jüngster und längerer Vergangenheit.

Anne Will begann die Debatte mit der unverzeihlichen, ja unfassbaren Selbstbeschädigung des deutschen Parlaments in der vergangenen Woche. Die Abgeordneten zeigten sich unfähig, auf die dramatischen und flehenden Bitten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit der nötigen Sensibilität und Empathie zu reagieren. Stattdessen gratulierte die Bundestagsvizepräsidenten Göring-Eckardt zwei Parlamentariern zum sechzigsten Geburtstag, um anschließend in die vorgesehene Tagesordnung ein. Fast hätte man glauben können, die Zuschaltung Selenskyjs aus dem unter Dauerbeschuss liegenden Kiew sei eine Sinnestäuschung oder die irrtümliche Einspielung aus einem Hollywoodfilm gewesen.

Ein beschämenderes Bild hätte das gewählte Forum der deutschen Nation nicht abgeben können. Ja, man habe einen Fehler gemacht und diesen erst im Nachhinein erkannt, reagierten im Gleichklang Lambrecht und Lambsdorff; denn es war die Ampel mit den Stimmen dieser beiden auch in menschlicher Unzulänglichkeit verbundenen Politiker, die das Verfahren bestimmt hat: „Fair“, wie Anne Will nun mal so ist, verschwieg sie die leidenschaftliche Intervention des Oppositionsführers Friedrich Merz (CDU), dessen Antrag auf eine sofortige Änderung der Tagesordnung und einer Debatte zur Selenskyj-Rede von den Ampel-Fraktionen niedergestimmt wurde. In diesem Moment wurde klar, wie die deutsche Politik zurzeit von den Ereignissen regelrecht gejagt wird, ohne sich selbst mental schon auf die stattfindende Zeitenwende eingestellt zu haben.

So ging es dann auch beim Stichwort „Embargo russischer Rohstoff-Importe“ weiter. Alle waren grundsätzlich dafür, sorgten sich aber um die Folgen eines sofortigen Stopps für die deutsche Wirtschaft. Dass dieser kommen müsse, stellte die Verteidigungsministerin aber unmissverständlich klar. Die Abhängigkeit von Russland müsse so schnell wie möglich beendet werden. Nur beim „Wie“ schweigt sie, wie alle Sofa-Strategen der Energiepolitik.

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Dann wurde es spannend: Anne Will wollte vom langjährigen außenpolitischen Intimus der Kanzlerin Merkel wissen, wie es dazu kommen konnte und warum die Dimension dieser Zwangslage erst jetzt erkannt wurde. Christoph Heusgen war seit 2005 der außen- und sicherheitspolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel und von 2017 bis zum Juni 2021 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen. Es ist verständlich, dass Heusgen, der seine gesamte Karriere bis hin zum Chef der international bekannten Münchener Sicherheitskonferenz Angela Merkel verdankt, hier nur mit einer blamablen Begründung antworten konnte. Man habe sich eben in Putin getäuscht und auf die Traditionen langjähriger Entspannungspolitik gesetzt.

Als ob es die Annexion ganzer Teile Georgiens durch Russland, das brutale Vorgehen gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen Tschetscheniens oder die Besetzung der Krim – um nur einige Beispiele zu nennen – niemals gegeben hätte. Das gilt auch für die immer stärker gewordene Unterdrückung jeglicher Art von Opposition im Reiche Putins und die Militarisierung der russischen Gesellschaft in verbaler und tatsächlicher Form. Auch dürfte Christoph Heusgen die warnenden Berichte der westlichen Nachrichtendienste über die Entwicklung in Russland kennen, die auf Weisung seiner Chefin mit dem Vermerk „streng geheim“ in den Schubladen des Kanzleramts versanken. Doch wie gesagt, wie sollte der arme Mann auch anders reagieren, um sich nicht dem Vorwurf der Illoyalität aussetzen zu müssen, auch wenn seine satte Pension davon nicht berührt wäre. Als Trost bleibt nur der vielleicht naive Glaube, dass die vielen ungeklärten Fragen zur Ära Merkel nicht für ewig unter dem Tisch gehalten werden können.

Eine kühle und sachliche Analyse der Lage brachte die langjährige Spitzenkraft der Nato, Stefanie Babst, in die Runde ein. Der militärische Konflikt um die Ukraine werde aus ihrer Sicht noch längere Zeit anhalten. Das Vorgehen Moskaus werde dabei an Härte noch zunehmen. Ein Grund dafür sei der unerwartete und gut organisierte Widerstand beachtlicher Teile der ukrainischen Bevölkerung. Damit habe Putin nicht gerechnet. Die Nato werde aber auch weiterhin nicht unmittelbar in den Konflikt eingreifen. Die aufkommende Frage, ob dies auch im Falle eines Einsatzes chemischer oder biologischer Massenvernichtungsmittel weiter gelten würde, wollte keiner der Teilnehmer abschließend beantworten. Fest stehe nur, dass jeder Angriff auf das Gebiet der Nato zu einer unmittelbaren Reaktion des Bündnisses führen werde.

Eine Haltung, die bei Weisband, deren Kompetenz die familiäre Herkunft aus der Ukraine ist, ein bitteres Resümee auslöste. „Wenn alle weiter zusehen, wird es im kommenden Winter oder spätestens im darauffolgenden keine Ukraine mehr geben. Der Westen würde damit all seine Bekenntnisse zu seinen Werten für die Welt selbst zerstören“.

Den Vorwurf mangelnder deutscher Unterstützung durch Waffenlieferungen wies die Verteidigungsministerin entschieden zurück. Dass man nicht darüber spreche oder die Dinge nicht im Fernsehen zeige, sei im Interesse der an den Maßnahmen unmittelbar Beteiligten unabdingbar. Die russische Aufklärung, also Spionage, sei äußerst aktiv und bemühe sich, jede Art militärischer Bewegung im Zusammenhang mit der Ukraine zu erfassen. Kryptisches Ende einer hilflosen Runde.

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