Tichys Einblick

Bayern: „Fastenbier“-Anstich und Politiker-„Derblecken“ am Nockherberg

Mindestens einmal jährlich muss sich die Polit-Prominenz zur „Fastenbier“-Zeit das „Derblecken“ gefallen lassen und sich in Interviews über's „Derblecktwerden“ amüsiert zeigen. Also den Kakao, durch den sie gezogen wurden, auch noch austrinken.

Screenshot Bayrischer Rundfunk

In Bayern gehen die Uhren anders. Das wissen die meisten Nicht-Bayern. Die einen erkennen das neidvoll an, die anderen schauen hochmütig darauf herab. Anders als andernorts ist auf jeden Fall die Art und Weise, wie man in Bayern an drei Tagen des Jahres dicht um den Aschermittwoch herum mit Politikern umgeht. Das macht den Bayern kein anderes deutsches Land nach, auch wenn sich an einem dieser drei Tage manchmal – geduldet in sprichwörtlicher „Liberalitas Bavaria“ – ein nicht-bayerischer oder nicht-fränkischer Gast einschleicht: beim Veitshöchheimer Fasching, beim Politischen Aschermittwoch in Städten Niederbayerns und bei der Starkbierprobe auf dem Nockherberg in München. Und dann im gleichen Zeitraum einige hundert Mal draußen im Freistaat.

Jetzt war wieder „Nockherberg“. Nockherberg ist eine Straße, die nach einem früheren Bankier benannt ist, der dort ab 1789 ein Sommerhaus besaß. Und noch ein wenig weiter in Landeskunde: Das Starkbier wurde als eine Art Grundnahrungsmittel mit einem Alkoholgehalt von 7 bis 8 Prozent gebraut, um die in der Fastenzeit reduzierte Kalorienaufnahme auszugleichen.

Starkbierprobe hieß vor allem bei streng fastenden, aber bierbrauenden Mönchen ursprünglich: Das Bier als „flüssiges Brot“ musste so gehaltvoll sein, dass die Bierbank – ausgeschüttet auf dieser – beim Aufstehen an den Lederhosen der darauf Sitzenden kleben blieb. Aber die Bezeichnung „Biersirup“ wäre natürlich eine Beleidigung. Aus einer Tradition heraus, die ins 18.Jahrhundert zurückreicht, bekam der Landesfürst nach dem Anstich des ersten Fasses den ersten Krug Bier zu kosten. Heute ist der “Landesfürst“ der aktuelle amtierende bayerische Ministerpräsident. Wie eh und je bekommt er den Steinton-Krug („Keferloher”) vom Braumeister mit den Worten überreicht: „Salve pater patriae! Bibas, princeps optime!“ („Sei gegrüßt, Landesvater! Trinke, bester Fürst!“) Und bis zu drei Millionen Zuschauer verfolgen den Akt und das Politspektakel im Bayerischen Fernsehen, das den Anstich erstmals 1982 übertrug.

Dieses Jahr wird es das letzte Mal gewesen sein, dass Horst Seehofer der „Prinzeps“ am Nockherberg war. Wie immer folgten auf die Begrüßung – politisch und manchmal persönlich an die Schmerzgrenze gehend – Festrede und Singspiel. „Politiker-Derblecken“ nennt man das.

Festrede und Singspiel standen 2018 ganz besonders unter dem Eindruck des Wechsels an der Spitze der bayerischen Landesregierung, ein wenig auch der Koalitionsverhandlungen und der Kabinettsbildung in Berlin. Im großen Saal der Brauerei dabei zu sein, ist für die führenden Landespolitiker und manche Gäste aus der Bundespolitik (fast) alles. Fast! Denn das Allerschlimmste ist, wenn man nicht „derbleckt“ wird und den Akteuren auf der Bühne keine Erwähnung wert ist. Dann ist man zumindest in Bayern ein politisches Nullum. Also nimmt man das „Derblecken“ nach außen lächelnd mit und klatscht sich als „Derbleckter“ selbst auf die Schenkel.

Nur gelegentlich kommt es vor, dass ein führender Politiker „beim nächsten Mal“ aus Verärgerung nicht mehr kommt. Dass mehr noch als Seehofer diesmal Markus Söder, der „Prinz Charles“ Bayerns, im Zentrum stand und zusammen mit seinem Noch-Chef am meisten abbekam, war zu erwarten. Andere, wie Claudia Roth, Anton Hofreiter, die neue bayerische SPD-Frau Kohnen usw. wurden zwar erwähnt oder auch von einem Double gespielt, aber sie waren eher Komparsen.

Dann kam der erste der beiden Höhepunkte: Die 40-minütige Festrede der Kabarettistin Luise Kinseher, alias „Mama Bavaria“ und als solche die strenge und gleichermaßen gütige Mutter vor allem aller bayerischen (CSU-)Politiker. Als erste begrüßte sie den „amtierenden und den gefühlten bayerischen Ministerpräsidenten“. Zu „Horst“ meinte sie: „Du bist in Bayern mittlerweile so beliebt wia a Preiß. Und als neuer Bundesinnenminister bist du jetzt für alles zuständig außer für Tiernahrung.“ Dass Seehofer demnächst auch Bundes-Heimatminister werden solle, würden die Oberlausitzer schwer verdauen: „Kaum ist der Russe weg, kommt der Bayer.“ Ansonsten meinte Seehofers Mama: „Du gehst jetzt als Rentner mit Merkel in eine Rentner-WG. Lange habt ihr euch die Zähne gezeigt, jetzt legt ihr sie gemeinsam in ein Glas.“ Seehofers Nachfolger Söder gab sie mit: „Wieso möchtest du auf einem Stuhl sitzen, an dem du so lange gesägt hast?“ Zu Dobrinth meinte sie, er sei der „Erfinder scharfer Platzpatronen“. Und die CSU insgesamt charakterisierte sie als Partei, in der es kein #metoo, dafür aber ein „you not“ gibt. Über die FDP „wusste“ Mama Bavaria mit Blick auf Kubicki: Den musste man importieren, weil die FDP sonst in Bayern gar nicht mehr sichtbar wäre. Ansonsten ging es politisch ziemlich dezent zu. Ausfälle gegen die FDP als Aussteiger aus Jamaika blieben ebenso weg wie Ausfälle gegen die AfD, die im übrigen mit niemandem erkennbar vertreten war. Am Ende wurde Luise Kinseher nach diesem ihrem achten und letzten Auftritt als „Mama Bavaria“ mit stehendem Applaus verabschiedet. Einen solchen hatte sie zuvor nie genossen. Sie trat freiwillig ab und meinte, mit ihr und mit Seehofer gehe eben eine Ära zu Ende.

Dann folgte ein eineinviertelstündiges Singspiel – ebenfalls sehr auf Seehofer und Söder zugeschnitten. Die Doubles waren – wie schon in den Jahren zuvor – den Originalen sehr ähnlich geraten. Ein Westernsaloon gab den Rahmen für die parteiübergreifenden „Glorreichen Sieben“ ab – mit Überraschungsgast Uschi Glas, die sich als Apanatschi wie damals in Winnetou-Filmen der 1960 Jahre aufgebrezelt hatte. Aber auch Apanatschi konnte „El Marco“ nicht die Schau stehlen. Er hatte – wie realiter vor wenigen Monaten bei einer JU-Veranstaltung – seine Claqueure mit den „El-Marco“-Tafeln mitgebracht. Hoppy-Rider (alias Anton Hofreiter) gab samt Patronengürtel den Mann mit Humor als seiner Wunderwaffe. Die virtuelle SPD-Frau Kohnen meinte: „Wir können uns unsichtbar machen“. Söder griff zur Gitarre und sang: „Radle, trampe, reite, doch bitte such das Weite! Sieh es ein, alter Horst, du musst jetzt gehen.“ Der Horst aber will es nicht lassen: „Ich wollte ja noch die dritte Startbahn bauen … und verhindern.“ Und dann kam auch noch „Merkel“ – diesmal als Saloon-Lady, die die Männer seit zwölf Jahren am ausgestreckten Arm um den Verstand bringt.

Nun, es ist selbst für manchen Bayern und zumal für einen Nicht-Bayern nicht leicht, der Festrede und dem Singspiel zu jeder Minute zu folgen. Man braucht Zeit (mit Nachgeplänkel insgesamt mehr als fünf Stunden), man braucht gewisse landeskundliche Kenntnisse, und man braucht als Nicht-Bayer phasenweise einen Simultandolmetscher. Wer sich aber wenigstens in die drei Stunden Aufführungen im Festsaal hineinvertieft, bekommt ein wenig bayerisches Psychogramm geboten. Und wer es denn richtig politisch haben will, der macht danach noch zwei Stunden „Evaluation“, das heißt Nachbesprechung mit Moderatoren und Spitzenpolitikern, mit.