Tichys Einblick
20-jähriges Jubiläum des Tatorts aus Münster:

Tatort – Ein Hochamt alter weißer Reaktion?

Es muss wohl bei so viel Diversität Gegengewichte geben, die im öffentlich-rechtlichen Programm dafür sorgen, dass eigentlich als „abgehängt“ geltende Zuschauergruppen noch einschalten. Der sonntägliche Krimi eignet sich prächtig, um das öfter mal zu üben.

ARD/WDR TATORT: Ein Freund, ein guter Freund

© WDR/Martin Valentin Menke

Die Quote stimmte beim Tatort aus Münster immer, Narrenfreiheit ist garantiert. Kommissar Thiel (Axel Prahl) und sein streitbarer Männerfreund und Vermieter Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) sind schon seit Jahren die Quotenrenner.

In der aktuellen Folge trifft sich zunächst eine Riege aus Münsterländer Akademikern, um den Abschied von Zweien aus ihren Reihen zu feiern: Rechtsanwalt Friedhelm Fabian (Jan Georg Schütte) und seine Frau Veronika (Proschat Madani), lange beste Freunde von Ka-Eff Boerne, emigrieren nach Guatemala. Nach der feucht-fröhlichen Party, zu der auch Assistentin „Alberich“ Silke Halle (ChrisTine Urspruch) und Kommissar Thiel sowie Frau Staatsanwältin Klemm (Mechthild Großmann) eingeladen sind, erwacht man unsanft in der Realität des mörderischen Tagesgeschäfts: Der bekanntermaßen in die unsauberen Geschäfte des örtlichen Paten verstrickte Anwalt Nikolas Weber (Hadi Khanjanpour) wird erschossen aufgefunden. Thiel, dank Übersetzungs-App auch des Italienischen mächtig, macht sich gleich auf, um die Unterweltgröße zu befragen.

Stereotype werden – manchmal etwas platt – bedient

Mafiaboss Nino Aqostini (Claudio Caiolo) macht seinem Berufsstand alle Ehre: La Famiglia residiert in einer standesgemäß protzigen Villa mit Pool und Toscana-Kitsch. Manch einer mag da Parallelen zu kürzlich konfiszierten Immobilien von Berliner Lokalgrößen ziehen, aber wir befinden uns im Münsterland, wo sich alteingesessene italienische Kriminelle von der Sorte tummeln, die Kopien des „David“ von Michelangelo im Garten haben und sich schon Sorgen machen, wenn selbst als unzuverlässig eingestufte Geschäftspartner nicht standesgemäß und stilvoll eingerichtet sind.

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Nino Aqostini wird allen Vorurteilen gerecht, macht mit übertrieben südländischem Akzent platte Witze über seinen abrupt aus dem Leben gerissenen Rechtsberater („…hebt wohl sein Telefon nicht mehr ab“), spendiert dabei dem Commissario einen von Mamma zubereiteten Café und hat natürlich selbst um vier Uhr nachts ein Alibi: „Wie viele Zeugen hätten Sie denn gerne?“ Aber selbst wenn er seine Bodyguards mit italienischen Flüchen herumkommandiert, mit 70er-Jahre Speedo-Badehose und dicker Zigarre im Pool sitzt und mit Metallkugeln Löcher in Zimmeraquarien wirft: Den Mord an seinem Anwalt, das wird zum Schluss klar, hat er nicht auf dem Kerbholz.

Vorher wirft das Drehbuch von Benjamin Hessler geschickt eine Nebelkerze in Form der Entführung des gerade noch so gefeierten Busenfreundes von Professor Boerne; obwohl man meinen könnte, Aquostini steckt dahinter, sind es doch andere, die den windigen Anwalt entführen und seine Frau erpressen. Fabian hatte, ganz Ehrenmann, das spätere Opfer und seinen Partner als Strohmänner benutzt, um zwar an den Mafialohn für seine Verteidigungsschriften zu kommen, selbst aber eine reine Weste zu behalten. Dafür wollten sich nun der Vater (Uwe Rohde) des überlebenden, aber im Dienste der Mafia drogenabhängig gewordenen Partners (Hendrik Heutmann), und die frühere Sekretärin (Katja Danowski) schadlos halten. Zum guten Ausgang klicken die Handschellen bei diesen Beiden sowie bei Boernes Jugendflamme Veronika für den Mord an dem jungen Anwalt.

Woher nur kommt die Faszination des Münster-Tatorts: Liegt es an der Unverfrorenheit, mit der Kommissar Thiel auch nach all den Dienstjahren noch einem verdächtigen Mafiosi Gewalt androhen kann: „Ich würde mich natürlich freuen, wenn Sie sich weigern würden … denn dann könnte ich gemäß § 84 StPO Zwang ausüben.“? Ist es die mittlerweile familiäre Atmosphäre, in der Thiel Staatsanwältin Klemm Küsschen werfend verabschiedet, Assistent Schrader (Björn Meyer) ihn gar mit „Mutti“ anspricht und Professor Boerne ihn „Liebling“ nennen darf?

Alle Jahre wieder Glottertal
ZDF Neo lässt mit der Schwarzwaldklinik die BRD wieder auferstehen
Oder ist es – dem Eindruck der Bilder zufolge – das hartnäckige Festhalten an gewissen, völlig aus der Zeit gefallenen Schlüsselszenen, die beim Betrachter ein wohliges Gefühl der Vertrautheit, nicht nur mit dem altbekannten Kriminalisten-Team, sondern mit der Atmosphäre längst vergangener Zeiten auslösen? Nicht ein-, sondern zweimal hat der altehrwürdige Plattenspieler (in der Wohnung Thiel sowie bei Anwalt Fabian) einen Auftritt, und gleich zweimal stehen böse „Verbrenner“ im Rampenlicht: Papa Thiel liest seinen Filius mitten in der Nacht von der konspirativer Übergabe auf dem Friedhof mit knatternd-brummendem Diesel-Daimler Modell 124 auf, und der neueste fahrbare Untersatz des Star-Pathologen Boerne ist ein nicht weniger klassischer Karmann-Ghia aus den 60er Jahren.

Wie Mario Thurnes erst kürzlich bei TE über die Auferstehung der Uralt-Serie „Schwarzwaldklinik“ bei ZDF-Neo schrieb: „… die Serie hat aber ihren Reiz für Nostalgiefans. Die alten Wagen zu bestaunen, ist fast genauso schön, wie sich in den Flair der alten Bundesrepublik zu versetzen.“ Bei dem Furor, mit dem ARD und ZDF sich dem Thema neuer Diversität und Vielfalt widmen, muss einfach ab und zu auch mal etwas kühles Wasser in den Kessel Buntes gekippt werden.

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