Tichys Einblick
Die Glosse über Kapitän Kobra

Auf einem Narrenschiff durch die Corona-Krise

Die Geschichte einer mysteriösen Seereise des Narrenschiffes Deutschland – mit einer Kapitänin, nickenden Bootsmännern, vielen Leichtmatrosen – und einem Scherz am Ende.

IMAGO / STPP

Alles begann so ruhig und friedlich wie immer. Der Tanker „Deutschland“ tuckerte in ruhiger See vor sich hin. Die Meisterschaft der erfahrenen und altgedienten Kapitänin bestand darin, möglichst nirgendwo anzuecken. Allen anderen Schiffen ringsherum ein freundliches Gesicht zu zeigen und dennoch alle über ihren Kurs im Unklaren zu lassen. Die Mannschaft, die nur im Flüsterton sprechen durfte, fühlte sich geborgen und akzeptierte selbst die ungewöhnlichsten Entscheidungen, so zum Beispiel die Generatoren über Bord zu werfen, um sich nur noch auf Wind und eine kleine Solarzelle auf Deck zu verlassen, wobei dies noch nicht mal die merkwürdigste Anordnung war. Es war ganz so, wie in dem alten Schlager: „der Papa wird’s schon richten“ – nur, dass es sich hier eben um eine Mama handelte.

Doch eines Morgens schlug die Stimmung plötzlich um: hoher Wellengang, stürmische See und dichter Nebel. Fassungslos las die Chefin die Warnung vor giftigen Substanzen in der See, die durch die Havarie eines Riesentankers entstanden sei. Sofort befahl sie, die für diesen Fall vorgesehenen Gesichtsschilde auszuteilen. Einer der kränklichen und eingeschüchtert wirkenden Bootsmänner teilte ihr mit zitternder Stimme mit, dass man diese schon lange nicht mehr mit sich führe, aber in der Mannschaft schon nach ihnen gefragt würde. Nun zeigte sich die immer wieder überraschende Reaktionsfähigkeit. Die Chefin, nennen wir sie Kobra, zischte: „Die Schilder selbst sind Gift“. Beruhigt hielten jetzt alle ihre Gesichter in die schäumende Gischt. Gleichzeitig setzte der Funker im Oberdeck SOS-Notrufe ab: „Schilder gesucht – zahlen jede Summe.“ Schon bald konnte die Mannschaft sich vor Lieferungen von Schiffen aus aller Herren Länder nicht retten. Jetzt hieß es plötzlich: „Absolute Schilderpflicht!“, „Alle unter Deck und Gesprächsverbot!“.

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So richtig sinnvoll erschien das Keinem. Selbst dann nicht, als die immer-nickenden Bootspersonen, allesamt über Nacht zu Professor*innen geworden, wortreich die tiefen Wahrheiten der Kobra erläuterten. Und tatsächlich tauchten bei einem, wenn auch kleinem Teil der Mannschaft Krankheitssymptome auf. Ja, es gab sogar Todesfälle. Doch auch jetzt wieder wusste die Chefin, worauf es ankommt. Einer der Professor*innen verteilte Wunder-Apps, die festhielten, wer, wo, wann und wen angesteckt haben könnte. Doch leider erwies sich die Freude als verfrüht. So laut die Wunderteilchen ausgegeben worden waren, so leise und verschämt sammelte man sie auch wieder ein. Total-Flop! Mittlerweile war aber auch das Meer wieder ruhiger geworden, so dass auch die verschiedenen Decks wieder betreten werden durften.

Die absolute Schildpflicht aber blieb. Genauso durften auch die jüngsten Matros*innen nicht zusammenkommen. Auch an Anlegen oder gar Vergnügungen in einem Hafen war nicht zu denken. Irgendwie schienen die auf der Brücke an ihrer Macht und dem Gehorsam der Personenschaft Gefallen gefunden zu haben. Nur so ist zu erklären, dass nun ohne erkennbare Gründe, die „Zügel“ immer wieder angezogen wurden, wie es einer der Bootsmänner, genannt der stahlharte Markus, treffend formulierte. So ging es jetzt über eine längere Strecke. Doch die auf der Brücke wussten genau: Ohne Action beginnen die Leute nachzudenken. Mitten in die sich ausbreitende Tristesse schlug die Nachricht: „Es ist ein Impfstoff unterwegs“ wie eine Bombe auf das Oberdeck ein. Alle sollten am nächsten Morgen um 6 Uhr auf dem Zwischendeck antreten, streng nach Dienstgrad und Alter. Und so geschah es natürlich auch.

Die Sonne ging auf, die Morgenbrise wehte. Schon bald wurde es Mittag – was nicht kam, war der Impfstoff. So ging es tagelang weiter. Irgendwie, so hieß es, habe man sich beim Berechnen des Kurses vertan, wodurch die Impfdosen in unterschiedlichen Mengen überall an den fernen Küsten und Meeresarmen unterwegs sein, nur nicht in ihrer Nähe. Da die Brücke aber aus einer eingeschworenen und voneinander abhängigen Crew bestand, wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Ganz im Gegenteil: „Im Großen und Ganzen läuft alles prima“, tönte es von oben herab.

Weiter abwarten, sei die Devise. Und siehe da, der heiß ersehnte Impfstoff kam, auch wenn sich dabei die Serie Pleiten, Pech und Pannen fortsetzte, schien es aufwärts zu gehen. Auf der Brücke sah man der Entspannung der Mannschaft mit Unbehagen zu, zumal Denunzianten, von denen es jede Menge gab, von Anzeichen ersten Unmuts berichteten. Wieder wusste Kobra Rat. Jetzt musste der totale Lockdown her. Alle ab ins Unterdeck. Die Schutzschilder auch im Schlaf aufbehalten. Außerdem drohe noch Schlimmeres, man könne nur noch nicht darüber reden.

Doch auf der Brücke ging Bedrohliches ganz anderer Art ein. Ein sehr zuverlässiger Spitzel berichtete, dass es den aufrührerischen Elementen gelungen sei, Verbindung mit einem Kontrollschiff der Reederei aufzunehmen und Beschwerde über die Zustände an Bord einzulegen. Schon sehr bald sei mit dessen Erscheinen zu rechnen. Doch es kam noch schlimmer. Vor einiger Zeit hatte Kobra die Aufnahme einer großen Zahl von Schiffbrüchigen angeordnet, die jetzt eng zusammengepfercht am Boden des Schiffes kauerten. Dort sei die Seuche tatsächlich offen ausgebrochen.

Kobra erschrak und es fuhr aus ihr heraus: „Auf keinen Fall darf das an Bord bekannt werden. Alles Gerede ist ab sofort zu unterbinden, und noch wichtiger: Jetzt muss Druck abgelassen werden, und zwar noch vor dem Eintreffen des Disziplinar-Schiffes.“ Mit einem Mal zogen die Bootsmänner lachend durch die Gegend und riefen: „April, April – Alles nur ein Scherz. Es ist ein Wunder geschehen, die Krankheit ist besiegt. Schluss mit Lockdown.“ Das Leben, wenn auch nicht gleich in vollen Zügen, kehrt zurück. Und hier muss die Geschichte eine Pause machen. Denn genau an diesem Punkt befindet sich die „Deutschland“. Fortsetzung folgt.

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