Tichys Einblick
Fußballeuropameisterschaft

Die „Mannschaft“ – oder: das euphoriefreie Turnier

Wieso kommt zu dieser Fußball-Europameisterschaft nicht die geringste Begeisterung auf? Vielleicht weil die Nationalmannschaft so ist wie diese Gesellschaft. Von Felix Hackmann

Manager Oliver Bierhoff und Bundestrainer Joachim Löw

IMAGO / MIS

Es ist wieder EM. Aber da ist nicht diese leichte Euphorie, die solch ein wunderbares Turnier, diese Zusammenkunft der Kulturen, vertreten von ihren talentiertesten Fußballern, einst mit sich brachte. Früher wurde ein Sommer durch dieses Fußballfest besonders und glanzvoller.

Diese EM ist nicht das leichte Sommerkleid, in das man sich voller Wohlgefühl schmiegt, das aufregend ist und ungewiss zugleich, das Hoffnung spendet, die Lust über sich hinauszuwachsen, Größe zu zeigen, ein Held zu werden, in Angesicht derer, die es auf dem grünen Rasen vorzeigen.

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Natürlich, die außergewöhnlichen sportlichen Leistungen werden auch diesmal vollbracht werden. Und die Medien werden sie zeigen und versuchen, daraus Heldengeschichten zu machen. Das übliche Geschnatter. Der Fan wird sich begnügen. Er wird Tipprunden anleiern und in den Kantinen wird besprochen, was man am Abend zuvor bestaunen durfte. Große Lieben gibt man nicht so einfach auf, auch wenn man weiß, dass sich ihre Beschaffenheit verändert hat.

Das sommerliche Gewand ist ein sperriger Apparat geworden, durchleuchtet und kalibriert für Sekundärinteressen. Spieler werden in ihm automatisch zu Söldnern, zu sportlichen Aushängeschildern einer Weltelite, in deren Sprache sie eigentlich „Fußballer:innen“ heißen müssten. Diese Spieler, die Figuren auf der Bühne, die man den Kindern noch als Helden verkaufen kann, schmiegen sich an dieses System wie eine streunende Katze ihren Kopf an der Stoßstange eines Autos. Keiner tanzt aus der Reihe – so sind sie eben, die Bedingungen der Gegenwart.

Der alberne Müller kann blödeln und der Hummels kann sich als ein wenig gescheiter als die anderen inszenieren. Die Restlichen spielen einfach Fußball und funktionieren. Sie spielen in einem faulen System, dem in Wahrheit keine Institution, keine Football Association vorsteht, sondern eine Geisteskrankheit, die ein Verlust der menschlichen Tugendhaftigkeit an sich ist. Müller und Co. können dort spielen, weil sie keine Helden sind.

Wahre Fußballhelden gibt es nicht mehr, solche, die etwas mitbrächten, das aus ihrer Disziplin entspringt und erwächst, und dann letztlich die Kraft hat, darüber hinaus zu strahlen, Menschen zu vereinen und animieren, Helden, die für das Gute spielen, um die Geschichte zum Positiven zu wenden, der Evolution ihrer Landsleute, die eben der Heldenreise ihrer Nationalspieler verhaftet und verwandt sind, und durch die sich eine Gesellschaft weiterentwickeln kann, wie 1954 und 1990. Es gibt sie nicht mehr. Nicht hier, aber wohl auch nicht anderswo.

Für wen spielt ein Manuel Neuer bei dieser EM? Für Deutschland jedenfalls nicht. Was soll das schon sein? Und wüsste er, was es ist, würde er es nicht wiedererkennen. Er würde die missliche Lage sehen, vielleicht würde er weinen und die „Mannschaftskluft“ von sich reissen und den „Homeground“ verlassen, in dem sich die Mannschaft aufhält. Aber nichts von alledem. Keine Identifikation mit freiem Geist und Fallibilismus.

Sie spielen, sie gewinnen, sie kriegen einen Pokal, sie singen „Campeones“ und tanzen und schubsen sich über den Rasen. Ein bisschen Urlaub und Instagram, dann spielen sie Bundesliga, und gewinnen wieder und singen wieder „Campeones“ und dann gewinnen sie die Champions League und dann singen sie wieder „Campeones“ und dann…

Neulich sah ich eine NDR-Dokumentation über die EM 1996 und ertappte mich bei einem Gedanken. Während sich die Bilder vor mir abspielten, dachte ich, wie schön wäre es, wenn die Welt einmal so sein könnte:
Klinsmann mit seinem blonden Schopf, der mittelgescheitelte Bobic, Steffen Freund mit dem Deutschlandhütchen, selbst Bierhoff liegt rauchend in der Wanne. Das waren Individualisten und die ließen sich nicht von irgendjemanden in ein System pressen. Die sagten ihre Meinung, wenn es drauf ankam, überhaupt hatten sie eine. Aber gleichsam fügten sie sich dem Konzept von Berti Vogts und bildeten eine Mannschaft, die trotz einiger Verletzungssorgen Europameister wurde und Gastgeber England bezwang.

Fußball-Nationalmannschaft
Löws Rücktritt war die richtige Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt 
Ich erschrak über mich selbst und stoppte das Video. Das, wovon ich mir wünschte, dass es einmal die Zukunft sein könnte, war die Vergangenheit. Die uneitlen Frisuren, die vollen Stadien, da schwappte so ein Geist von Freiheit herüber, das Gegenteil von Zwang, Leichtigkeit, der ungelenke Charme der Neunziger. Die deutschen Spieler hatten etwas, das man vielleicht Würde oder Vornehmheit nennen könnte, vielleicht sogar Charisma. Das waren nicht die klandestinen Söldner von heute. Das waren einfache Fußballer, die ihre Wurzeln kannten. Sie vereinten ein Land, eine Nation um sich, für dessen Werte sie selbst einstanden. Kapitän Klinsmann war selbst in der Backstube der Eltern in Stuttgart großgeworden.

Heute verbringen die Spieler ihre Jugend in Leistungszentren. Was würde dabei herauskommen, wenn man sie fragte, wie Deutschland sein sollte?
Wahrscheinlich wünschten sie sich genau den zerreißenden, entwurzelten Raum auf der Erde, der einst Deutschland war, in dem sich Menschen tummeln, die um ihre Existenz kämpfen müssen, während sie sich ihrer Grundrechte entledigt sehen.

„Die Mannschaft“ ist ein Propagandavehikel dieser gesichtslosen Gesellschaft von heute (und vor allem von morgen). Es fühlt sich nicht gut an, dieser Mannschaft zuzujubeln, auch wenn die Liebe zum Spiel noch brennt.

1996 sangen sie übrigens nicht „Campeones“, da sangen sie: „Egidius, rück die Kohle raus, dudai, dudai! Egidius, rück die Kohle raus, dudai dudaiey“

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