Tichys Einblick

Die Ukraine-Krise und die Lehren aus der Geschichte des Kalten Krieges

Der Ausgang der Ukraine-Krise ist ungewiss. Sicher ist nur, dass die einst verlässliche Geschlossenheit des Westens nicht mehr unbedingt gegeben ist. Dennoch kann man aus der Geschichte für die Gegenwart lernen.

Grenzposten am Checkpoint Charlie in Berlin während des Mauerbaus 1961

IMAGO / Sabine Gudath

Am Wochenende überschrieb die Süddeutsche Zeitung ihren Aufmacher-Artikel auf Seite eins mit der knappen Botschaft: „Ein Krieg wird wahrscheinlicher“. Gemeint ist damit, der in Europa nicht mehr für möglich gehaltene Angriff eines Staates auf einen anderen Staat mit dem Ziel, diesen zu besetzen und dem eigenen Territorium einzuverleiben. Ein klarer Bruch des Völkerrechts, vergleichbar mit dem deutschen Einmarsch in den Rest der Tschechischen Republik 1938 und dem gemeinsamen Deutsch-Russischen Angriff auf Polen 1939. Für wirklich möglich gehalten hatte das wohl niemand. 

Doch es ist bittere Realität. Putin scheint bereit und entschlossen, seinen Traum von der Schaffung eines slawischen Imperiums in den Dimensionen der früheren Sowjetunion zu verwirklichen. Diesmal geht es um den noch nicht von Russland beherrschten Teil der Ukraine. Gelingt Putin dieser Coup, befürchten die Bewohner der baltischen Republiken Estland, Litauen und Lettland bald die Nächsten zu sein. Und auch in Polen erinnern die aktuellen Vorgänge an die realen Albträume aus der geschichtlichen Erfahrung. 

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Die eigentlich historisch bedeutsame Dimension des Geschehens besteht in Putins Absicht einer Art Neuauflage des Abkommens der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges vom Februar 1945 in Jalta auf der Krim, in dem die Aufteilung Europas in Einflussgebiete beschlossen und diese festgelegt wurden. Später entwickelte der sowjetische KP-Chef Breschnew die Doktrin der begrenzten Souveränität sozialistischer Staaten im sowjetischen Machtbereich, nachdem der Versuch eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz 1968 in der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Paktes niedergeschlagen worden war. 

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts und dem Sieg der Demokratie in den ehemaligen Staaten des Ostblocks wurde auch diese Form des modernen Kolonialismus Teil der Geschichte. Seine versuchte Wiederbelebung durch Russland ist Ausdruck imperialen Denkens vergangener Jahrhunderte und sollte für immer der Vergangenheit angehören. Doch die russische Führung denkt in klassisch, imperialistischen Kategorien und lebt in einer alten Welt. Die Sowjetunion berief sich dabei auf ihre historische Mission, die von Marx und Lenin entwickelte Vision, eines „Paradieses auf Erden“, das heißt: den Kommunismus kämpferisch durchzusetzen. Nach dem kläglichen Scheitern dieses ideologischen Irrglaubens, trat an dessen Stelle der alte russische Nationalismus der schon die Herrschaft der Zaren über Jahrhunderte kennzeichnete. 

Niemals kann der Westen – und ganz besonders seine Führungsmacht USA – einem solchen Anspruch zustimmen. Geschähe dies, käme es einem Freibrief für Aggressionen und militärische Abenteuer jeder Art gleich. Putin und seinem Nachfolger zuzugestehen, über die Bündniszugehörigkeit eines Landes und damit über die Souveränität ganzer Völker zu bestimmen, hieße, das Völkerrecht, entstanden aus den grausamen Erfahrungen zweier Weltkriege für obsolet zu erklären. Genau dies aber will Moskau und hält ohne jede Kompromissbereitschaft auch nach ersten Gesprächen an seiner Position fest. Es unterstellt dabei eine Gefahr für die Existenz seines staatlichen Bestehens, wenn Nachbarstaaten einem anderen Bündnis mit demokratischen Werten angehörten. 

Dass dies eine reine Schutzbehauptung ist, erklärt sich allein aus der Tatsache, dass im Westen niemand die Absicht eines Krieges gegen Russland auch nur haben kann. Allein die für einen solchen Kraftakt notwendige mentale Befindlichkeit der Gesellschaften des Westens sowie die fehlende Geschlossenheit bei unterschiedlichen Interessen innerhalb der westlichen Hemisphäre und nicht zuletzt die nicht vorhandene militärische Stärke schließen das aus. Auch im Kreml weiß man das genau. 

Aber wie in jeder Diktatur wird auch das Denken der russischen Eliten im Wissen über die Illegitimität ihrer Herrschaft und der damit verbundenen Angst vor der Anziehungskraft der Demokratie das außenpolitische Agieren beeinflussen. 

Heißt das nun, dass russische Panzer jeder Zeit in die Ukraine hineinrollen werden? Russische Bomber und Jagdflugzeuge den Luftraum über der Ukraine und dem Baltikum beherrschen oder sogar die russischen Mittelstreckenraketen vom Typ SSC-8 mit nuklearen Sprengköpfen, die vertragswidrig in Kaliningrad (Königsberg) stationiert sind, scharf gemacht werden? Die Erfahrungen der Nachkriegszeit haben gleich mehrere Male gezeigt, dass dies nicht gegeben, ja sogar nicht wahrscheinlich sein muss. 

Nur drei Jahre nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland stand die Welt bereits wieder vor einem möglichen Krieg in Europa. Über elf Monate hatten die Sowjets die Westsektoren des geteilten Berlin für jegliche Warenlieferungen über die Transitstrecken oder die Wasserwege aus den Westzonen blockiert. Ziel war die Rücknahme der Währungsreform in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren Berlins. Gleichzeitig wurde die Energieversorgung für die Westberliner unterbrochen. Ein Teil der Stadt mit etwa 2,5 Millionen Einwohnern sollte buchstäblich ausgehungert und dadurch in die Knie gezwungen werden. Die Folge war eine Art Schockstarre. Kurzzeitig wurde sogar erwogen, die Stadt aufzugeben und die Bevölkerung, falls sie dies wolle, aus den Westsektoren nach Niedersachsen umzusiedeln, um dort ein neues freies Berlin zu gründen. 

Das solche Überlegungen nicht weiter verfolgt wurden, ist dem amerikanischen Hohen Kommissar, General Lucius D. Clay, zu verdanken. Dieser machte dem amerikanischen Präsidenten Truman in einem stundenlangen Telefonat klar, dass es in diesem Falle besser für die USA sei, gleich ganz aus Europa zu verschwinden, denn niemand mehr würde auf die Solidarität Washingtons zukünftig noch vertrauen. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis das kommunistische Russland seine Herrschaft auf ganz Europa ausgedehnt haben würde. Gleichzeitig schlug Clay dem US-Präsidenten die Versorgung der Stadt aus der Luft vor. Obwohl dies viele für unrealistisch hielten, entschieden sich die amerikanische und die britische Regierung für diesen Weg. 

Vom 24.06.1948 bis zum 12.05.1949 landeten 277.000 Flugzeuge in Berlin-Tempelhof und schon bald auf dem nur in 6 Monaten(!) ausgebauten Flughafen Tegel – die Stadt konnte versorgt und gehalten werden. Stalin musste einlenken. Zudem hatte er das Gegenteil erreicht von dem, was er wollte. Aus Besatzern, die noch vor wenigen Jahren ihre Bombenschächte über Deutschland öffneten, hatte die Luftbrücke Beschützer und Freunde gemacht. 

Dies war aber nur die erste Berlin-Krise. Die Stadt entwickelte sich tatsächlich zu einer „Insel der freien Welt inmitten des roten Meeres“ und damit, so auch der spätere amerikanische Präsident Kennedy, einem „Pfahl im Fleisch des Kommunismus“. Viele der über drei Millionen Flüchtlinge aus der DDR und Ostberlin gelangten über das offene Fenster Berlin (West) in die Freiheit. Das „Berlin-Problem“ wurde zunehmend zur Existenzfrage für die DDR. 

Im Herbst 1958 stellte Stalins Nachfolger Chruschtschow das erste von insgesamt sechs Berlin-Ultimaten. Moskau forderte die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs dazu auf, die Stadt mit ihren Truppen innerhalb von sechs Monaten zu verlassen. Geschähe dies nicht, werde man das Problem im Sinne des Staates lösen, auf dem West-Berlin läge – gemeint war die DDR. Dahinter stand die unausgesprochene Drohung einer militärischen Lösung. Der Westen aber blieb auch dieses Mal hart. 

Im Juni 1961 trafen sich Chruschtschow und Kennedy in Wien. Im Mittelpunkt des Gipfels stand wieder die Berlin-Krise. Bei seinem Abflug nach Washington sagte Kennedy vor Journalisten: „Ich befürchte, es wird ein kalter Winter.“ Nach seiner Ankunft in den USA formulierte er für die Zukunft der drei West-Sektoren Berlins drei Essentials: 

Erstens: Die Anwesenheit der Westalliierten in Berlin ist garantiert.

Zweitens: Der Zugang zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik     Deutschland bleibt ungehindert erhalten.

Drittens: Die Freiheit der Westberliner muss garantiert werden.

Nur eines sagte Kennedy nicht. Indem er auf den Vier-Mächte-Status für ganz Berlin nicht einging, dokumentierte er, dass die Essentials damit nur für den Westteil der Stadt galten. 

Viele Deutsche waren am Tag des Mauerbaus – dem 13. August 1961 – erstaunt und enttäuscht über die zurückhaltende Reaktion der USA. Sie konnten nicht verstehen, dass die USA damit die Mauer akzeptierten und bedachten dabei nicht, dass alles andere einen dritten Weltkrieg bedeutet hätte. Bei nüchterner Betrachtung stand fest, dass die Sowjetunion auch diesmal mit ihrer Berlin-Politik gescheitert war. Das eigentliches Ziel, das aus seiner Sicht eitrige Geschwür West-Berlin zu beseitigen, hatte Chruschtschow aber nicht erreicht. Erneut hatten Nervenstärke und Geschlossenheit des Westens den Frieden gesichert, wenn auch zulasten der Ostdeutschen, für die die DDR endgültig zu einem Gefängnis wurde. 

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Nur kurze Zeit später wiederholte sich das Ganze vor den Toren der USA in der Karibik. Die Russen versuchten, auf der unter Herrschaft des kommunistischen Diktators Castro und von der Sowjetunion abhängigen Insel Kuba, Nuklearraketen zu stationieren. Kennedy verhängte eine Seeblockade. Sowjetische und amerikanische Kriegsschiffe standen sich auf Schussweite gegenüber. Die Welt hielt den Atem an. Die Führung des amerikanischen Militärs drängte den Präsidenten zum Einsatz atomarer Raketen. In buchstäblich letzter Sekunde rief Kennedy seinen Gegenspieler im Kreml an. Über den Wortlaut dieser Unterredung ist bis heute nichts bekannt. Kennedy sagte später, dies sei das wichtigste Telefonat seines Lebens gewesen. Es sei um das Schicksal von Millionen Menschen gegangen. 

Im Ergebnis drehten die sowjetischen, mit Raketen für Kuba geladenen Schiffe, ab. Kennedy zog seinerseits zur Gesichtswahrung Moskaus amerikanische Kurzstreckenraketen aus der Türkei ab, die für das strategische Gleichgewicht aber ohne jede Bedeutung waren. Die Kuba-Krise hatte wohl mehr noch, als die beiden vorangegangen Berlin-Krisen, die Welt an den Abgrund der Vernichtung geführt.

Und schließlich – in den siebziger und achtziger Jahren – unternahm die Sowjetunion einen letzten Versuch, die Dominanz über Westeuropa zu erlangen und zugleich die Europäer unter militärischen Gesichtspunkten von den USA zu trennen. Als Erster machte der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt, bei einem sicherheitspolitischen Forum 1974 in London, auf eine neue Art sowjetischer Mittelstreckenraketen aufmerksam. Mit Nuklearsprengköpfen bestückte Raketen, deren Reichweite ausschließlich auf Westeuropa beschränkt war. Bislang waren entlang des „Eisernen Vorhanges“ durch Europa „lediglich“ nukleare Gefechtsfeldwaffen stationiert worden. Gegen die gewaltige konventionelle Übermacht des Warschauer Vertrages hatte der Westen immer die Wahrscheinlichkeit eines sogenannten „First Strike“, den Einsatz atomarer Langstreckenwaffen von den USA aus, als Reaktion auf einen Angriff angedroht. Dies hätte zweifellos einen Zweitschlag der UdSSR ausgelöst. Es galt damals die Devise: „Wer zuerst schießt, der stirbt als zweiter!“

So merkwürdig das für viele heute auch klingen mag, der Frieden war nur durch die Androhung gegenseitiger Vernichtung zu garantieren. Man war der Meinung, dass aufgrund der Höhe an menschlichen Verlusten infolge eines kommerziellen Krieges die USA, um der Erwartung der eigenen Bevölkerung zu entsprechen, um den Einsatz der „Long Johnnies“, also von Langstreckenatomwaffen, nicht herumkommen würde. Im Falle der SS-20-Raketen allerdings befürchtete vor allem der Deutsche Schmidt, dass die USA bei deren begrenztmn Einsatz – unter bewusster Schonung der US-Einrichtungen in Deutschland – die USA vor der letzten Konsequenz der Bündnissolidarität zurückschrecken könnten. Allein der Zweifel daran machte die Verteidigungsdoktrin der NATO unglaubwürdig. Schmidt nannte es „Die Raketenlücke“ in der westlichen Strategie einer flexiblen und abgestuften Kriegsführung. 

Die Folge davon waren einerseits der NATO-Beschluss zur Stationierung einer neuen Raketen-Generation unter amerikanischer Hoheit – bekannt als Pershing 2 – in der Bundesrepublik. Die Antwort darauf war das Entstehen einer, wie heute nachgewiesen, von Moskau und Ostberlin gelangten Propaganda-Offensive im Westen, die unter der Selbstbezeichnung „Friedensbewegung“ durch Massenmobilisierung und dem „Druck der Straße“ diese Absicht verhindern sollte.   

Helmut Schmidt konnte sich mit seiner Position letztlich in seiner eigenen Partei nicht durchsetzen und musste zurücktreten. Sein Nachfolger Helmut Kohl (CDU) setzte die Nachrüstung gegen die überwiegende Meinung der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland durch. Auch dieser Versuch Moskaus erwies sich als gescheitert. Und auch diesmal war es die Standhaftigkeit der USA und letztlich der Bundesrepublik, dass Moskaus Strategie erneut nicht aufging. Was damals noch niemand ahnte, war, dass das von selbst eingeleitete Wettrüsten die Kräfte der Sowjetunion überforderte. Am Ende blieb nur die Bankrotterklärung des Sowjetsystems als Ganzem. Eine Folge davon war schließlich auch die Wiedervereinigung Deutschlands. 

Ob eine solche Strategie des Westens auch heute noch erfolgreich wäre, ist keineswegs sicher. Das westliche Bündnis ist bei Weitem nicht mehr so geschlossen wie in den Zeiten des sogenannten „Kalten Krieges“. Wesentlich stärker als früher und ganz besonders nach dem Ende der Kanzlerschaft des überzeugten Atlantikers und Antikommunisten Helmut Kohls, treten ideologische, aber auch interessenpolitische Gegensätze zwischen den USA und dem wiedervereinigten Deutschland zutage. Ihren ersten Höhepunkt erreichten diese bei der Absage Deutschlands für eine Beteiligung an den amerikanischen Kriegen im Nahen und Mittleren Osten. Die Entfremdung setzte sich in den 16 Jahren der Merkel-Kanzlerschaft fort und dürfte unter der neuen Regierung Scholz noch größer werden. Frankreich verfolgt eine eigene Agenda mit einem Führungsanspruch für Europa. Großbritannien hat sich mit dem Austritt aus der EU stillschweigend auch aus der sicherheitspolitischen Verzahnung gelöst und demonstriert bei jeder Gelegenheit seinen traditionellen Zusammenhalt mit Washington. 

Wirkliche Partner finden die USA heute nur noch in den jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas und vielleicht in Teilen Skandinaviens. Italien, Spanien und Portugal verfolgen ebenfalls nicht mit Washington identische Interessen. Die Erinnerungen an den Alltag im sowjetischen Herrschaftsbereich sind verblasst und das rückblickende Interesse daran vielfach auch nicht erwünscht. Dies hängt nicht zuletzt mit der gewachsenen Dominanz klassischer und neuer Spielarten linker Ideologien im Westen Europas zusammen. Von daher ist eine Prognose über die weitere Entwicklung dieses alten und sogleich neuen Ost-West-Konfliktes nicht möglich. 

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