Tichys Einblick

Der Tod des Exzentrikers

Exzentriker gedeihen in ungleichen Gesellschaften, die Ungleichheit als normal oder sogar als wünschenswerten Zustand empfinden. Wo Gleichheit als höchstes gesellschaftliches Gut gilt, haben Exzentriker keinen Platz. Mit der heute so endemischen egoistischen Sucht auffallen zu wollen, sollte Exzentrizität unter keinen Umständen verwechselt werden.

Der von Nietzsche zutiefst verachtete Philosoph und Ökonom John Stuart Mill schrieb einst, dass es überall dort Exzentriker gebe, wo starke Charaktere beheimatet seien. Daher ist es wahrscheinlich nicht überraschend, dass sich heute Exzentrizität in dramatischem Niedergang befindet, insbesondere in einem ihrer früheren Hochburgen, dem Vereinigten Königreich. Das moderne Leben ist weder für starke Charaktere noch für Exzentriker besonders förderlich.

Der wahre Exzentriker sucht nicht die Öffentlichkeit, folgt nicht dem eitlen Wunsch, um jeden Preis bemerkt zu werden, um so aus der großen Menschenherde hervorzustechen. Der wahre Exzentriker benimmt sich in einer Art, die zwar als bizarr erscheinen mag, aber er tut es nicht deshalb, weil er den Drang verspürt, anders zu sein, sondern weil er tatsächlich anders ist. Er verhält sich so, weil dies für ihn die natürliche Verhaltensweise ist. Wenn die Welt das für sonderbar hält, so ist das ein Problem der Welt. Die Welt ist aus dem Takt, nicht er.

Wenn es stimmt, dass Exzentriker unter den starken Charakteren zu finden sind, so lohnt es sich zu fragen, welche sozialen und anderen Bedingungen für die Entstehung von starken Charakteren förderlich sind. Im Falle von Großbritannien stammt ein großer Teil der bemerkenswertesten Exzentriker aus der Aristokratie – und ebenso trifft es zu, dass ein großer Teil der Aristokraten exzentrisch war. Und da die Aristokratie eine so machtvolle kulturelle Anziehungskraft auf die ganze Gesellschaft ausgeübt hat (sie tut es heute nicht mehr, ganz im Gegenteil), gediehen dort starke Charaktere und Exzentriker gleichermaßen. Die Exzentrizität sickerte von der geistigen wie auch der erblichen Aristokratie von oben nach unten durch.

Wer zur Aristokratie gehörte, war in Großbritannien über eine lange Zeit von einer merkwürdigen Mischung aus ererbten Privilegien und Aufstieg durch Leistung bestimmt. Die meisten aristokratischen Titel waren nicht uralt, sie waren vielmehr Anerkennung für die Leistungen eines Vorfahren in einer nicht allzu fernen Vergangenheit. Manche Adelstitel entstammten dem Umstand, dass monarchische Eltern illegitime Kinder zeugten, andere waren tatsächlich Belohnungen für wahre, herausragende Fähigkeiten. John Churchill, der erste Herzog von Marlborough, war der Sohn eines Kleinadligen, der durch politischen Scharfsinn und militärische Genialität den höchsten sozialen Rang gerade unterhalb des königlichen erobern konnte. Die Institution der Aristokratie war in Großbritannien ein Katalysator der sozialen Mobilität.

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Der Sinn des Aristokraten für sein Geburtsrecht auf Respekt, Gehorsam und die Freiheit zu tun, was er wollte, oder was er für das Beste hielt, entwickelte sich sehr schnell, egal wie flach die Wurzeln seines Adelstitels gewesen sein mochten. Er war ein Modell der Freiheit, die sich jeder wünschte, und viele nahmen an, dass es sich lohnte, auf ein ähnliches Leben zu hoffen und es zu imitieren. Natürlich hatte diese Freiheit auch ihre finstere Seite: dass man nämlich andere Menschen verächtlich und grausam behandeln konnte, ohne auf ihre Gefühle Rücksicht nehmen zu müssen. Die grausame aber auch amüsante Seite der aristokratischen Exzentrizität zeigte Lord Berners, der einmal seinen Hund aus dem Fenster warf, um ihm das Fliegen beizubringen, und eine Notiz auf dem Turm seines Landhauses mit dem Text anbringen ließ: „Wer von diesem Turm Selbstmord begeht, tut es auf eigene Gefahr“.

Natürlich ist es einfacher, exzentrisch zu sein, wenn man reich ist, aber Reichtum ist weder eine notwendige, noch eine ausreichende Bedingung. Reichtum ist keine ausreichende Voraussetzung, weil die Reichen sich nicht als solche zu erkennen geben müssen. Wir leben in paradoxen Zeiten: In dem Maße, wie der finanzielle Abstand zwischen den Reichen und Armen wächst, fühlen sich die Reichen verpflichtet – zumindest in der Öffentlichkeit –, dem Geschmack der Armen zu folgen, unabhängig davon, ob sie den teilen. Warren Buffet bevorzugt Cherry Cola und isst wie ein arbeitsloser amerikanischer Stahlarbeiter, Mark Zuckerberg läuft in Jeans und T-Shirts herum. „Die Reichen sind anders“, sagte Ernest Hemingway zu Scott Fitzgerald. „Ja“, antwortete der, „die haben mehr Geld als wir“.

So lange die Reichen sich darauf beschränken, mehr Geld zu haben und es für Dinge auszugeben, für die es der Rest der Menschheit auch ausgeben würde, dürfen sie es unbehelligt behalten. Sie dürfen sich aber nicht in irgendeiner Weise verschieden zeigen – zumindest nicht in der Öffentlichkeit.

Reichtum also ist nur ein Förderer der Exzentrizität in einer ungleichen Gesellschaft, die Ungleichheit als normal oder gar als löblichen Zustand der Dinge akzeptiert. Nur in einer solchen Gesellschaft konnte Lord Lionel Rothschild furchtlos sein Sechsergespann von Zebras zum Buckingham Palast lenken. Er tat es nicht, weil er die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte (das hatte er nun wahrlich nicht nötig), sondern weil er Aufmerksamkeit für seine zahmen Zebras wollte. Er musste sich nicht entschuldigen, indem er mit den Massen fraternisierte. Er trug die größte Sammlung zoologischer Arten zusammen, die ein einzelner je zusammengetragen hatte, unter anderem 2.250.000 Schmetterlinge. Seine Nichte Miriam war die größte Floh-Expertin weltweit. Sie erbte das Interesse an Flöhen von ihrem Vater, der starb, als sie erst 15 war, und seinerseits 500 neue Spezies beschrieben hatte. Bank und Flöhe. Könnte es einen merkwürdigeren Spannungsbogen geben? Die selbstlose Erforschung von etwas, was die meisten Leute für pure Esoterik halten würden, was jedoch trotzdem zum intellektuellen und geistigen Reichtum der Menschheit beiträgt, kommt häufiger in Gesellschaften vor, in denen nicht alles im Namen der sozialen Gerechtigkeit gerechtfertigt werden muss – was ja heute der wichtigste Maßstab allen Handelns ist.

Wahre Exzentrizität existiert heute noch in kleinen Enklaven, aber sie wird in dem Maße immer seltener, wie extravagant egoistisches und exhibitionistisches Verhalten immer mehr den öffentlichen Raum erobert. Lassen Sie mich von einigen wenigen Beispielen aus einem schwindenden Teil der Welt berichten, in dem ich mich gerne aufhalte und in der ich viel Zeit verbringe: aus der Welt der antiquarischen Bücher.

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Hin und wieder besuche ich zwei Buchhändler in Wales. Eine Antiquarin verkauft Bücher in ihrem Haus, der andere Händler in einem winzigen Geschäft. Sie ist sowieso schon eine Seltenheit in der Welt der antiquarischen Bücher, denn diese Welt ist fast ausschließlich männlich. Sie kauft viel mehr Bücher ein, als sie je wird verkaufen können. Sie sammeln sich deshalb in ihrem Haus und drängen sie auf einen immer kleineren Raum zurück. Die Berge ihrer Bücher sind in permanentem Wachstum begriffen wie ein Monster aus einem Horrorfilm, dessen Raumgewinn nicht aufzuhalten ist. Sie ist der Tatsache vollkommen bewusst, dass man sie eines Tages tot und mumifiziert unter den Bücherbergen auffinden wird. Ihre Nachbarn ahnen nichts von den Vorgängen im Haus. Aber für sie ist das die einzige vorstellbare Lebensweise.

Den zweiten Antiquar besuche ich meistens nicht, um Bücher zu kaufen, sondern um mich zu vergewissern, dass sein kleines Unternehmen in dieser sicherheitsversessenen, regulierten und vereinheitlichten Welt immer noch existiert. Er häuft seine Bücher in Berge übereinander auf, so, dass beim Entnehmen eines Buches die ganze fragile Struktur zusammenzubrechen und den Interessenten wie eine Lawine unter sich zu begraben droht. Nur wenn man ein Buch von ganz oben nimmt, ist man in Sicherheit, und so kommt es, dass sich das Angebot in den vielen Jahren, in denen ich den Laden immer wieder besucht habe, kaum geändert hat. Das Geschäft ist so klein, dass man sich nur seitwärts, mit eingezogenem Atem in der Schlucht zwischen Bücherbergen bewegen kann. Ich brauche kaum hinzuzufügen, dass er – wenn überhaupt – nicht groß im Geschäft ist.

Das Auffallendste an diesem Laden ist, wie der Besitzer darüber herrscht. Er sitzt an seinem Schreibtisch in einer winzigen Ecke mit einem kleinen zufriedenen Lächeln im Gesicht, ganz offensichtlich ahnungslos über die Absurdität der Situation. Er ist ein wahrer Exzentriker, denn er ist davon überzeugt, dass seine Geschäfts- und Lebensführung absolut normal, und jede andere seltsam sei. Es ist für mich beruhigend, dass bisher keine Behörde auf die Idee gekommen ist, ihn aufgrund von Sicherheitsproblemen schließen zu lassen – allein das Aufwirbeln des angesammelten Staubes durch das Betreten des Ladens dürfte eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit bedeuten.

Der dritte Buchhändler aus meinem Bekanntenkreis hasst und verachtet seine Kunden dermaßen, dass er sich öfter weigert, ihnen etwas zu verkaufen. Er fragt sie aus, warum sie das ausgewählte Buch überhaupt haben wollten, und sollte er die Gründe nicht für ausreichend gut befinden, was häufig der Fall ist, verkauft er es ihnen nicht. Wenn er von seinen Kunden insgesamt genug hat, vertreibt er sie mit lauter Musik von Arnold Schönberg. Das wirkt meistens schneller als Tränengas. So wird man nicht reich. Er ist furchtbar, aber ich habe das Gefühl, dass er unbewusst zur Heiterkeit des Lebens beiträgt.

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Ein anderer Buchhändler, nicht weit von diesem entfernt in einer ärmeren Gegend angesiedelt, ist ein Anhänger von Enwer Hodscha, dem kleinen albanischen Stalin. Für ihn war Albanien als einziges Land ein Leuchtturm für die ganze Menschheit. Seine Anstrengungen, die unverdaulichen Memoiren Enwer Hodschas seinen Kunden nahezubringen, waren unermüdlich. Keine Zurückweisung konnte ihn entmutigen. Es machte ihn wütend, dass alte Bibeln besser weggingen als die Werke Hodschas, obwohl er nicht aufhörte zu erklären, dass Religion das Opium des Volkes sei.

Merkwürdigerweise hatte er viele wertvolle Bücher in seinen Regalen, aber er war als Marxist der Überzeugung, dass der innere Wert wichtiger als der Marktwert sei. Er glaubte daran, dass der Preis nichts mit Angebot und Nachfrage zu tun habe, und so absurd es auch war, er lebte tatsächlich nach diesem Prinzip. Die Preise seiner Bücher richteten sich danach, welchen intrinsischen, nicht kommerziellen Wert er ihnen zumaß. Wenn ich ihm sagte, dass ein Buch, das ich kaufen wollte, mindestens hundertmal so viel Wert sei wie der von ihm verlangte Preis, bestand er weiterhin auf den niedrigeren Preis. So konnte ich das Beste von beiden Welten genießen: ein Schnäppchen und das Bewusstsein, mich anständig benommen zu haben.

Er weigerte sich standhaft, das Internet zu befragen, da er überzeugt war, dass sowohl das Internet als auch Computer generell Instrumente der Bourgeoisie seien, um das Proletariat zu versklaven. Seine einzige Konzession an das Gesetz von Angebot und Nachfrage war ein Band mit dem Titel Current Book Prices in einem Regal über seinem Schreibtisch, herausgeben vor dreißig Jahren. Aber niemals ist er so weit gesunken, ihn zu konsultieren.

Ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich seinen politischen Helden abscheulich finde. Ich hatte Albanien in einer Zeit besucht, die er von der Ferne aus sicherlich als die gute alte Zeit bezeichnet hätte. Es herrschte dort eines der schlimmsten, barbarischsten kommunistischen Regime. Ich erzählte ihm das nie, weil es mir so sinnlos erschien. Man hätte genauso gut über Moralphilosophie mit einem islamistischen Selbstmordattentäter debattieren können.

Und trotzdem war ich froh, dass es ihn gab. Sein Überleben schien mir damals, vor etwa 15 Jahren, ein Zeichen dafür zu sein, dass unsere Freiheit zwar eingeschränkt wurde, aber alles in allem immer noch intakt war. Heute sind zwei der hier vorgestellten Buchhändler nicht mehr aktiv, und die anderen zwei werden sicherlich nicht lange überleben. Sie werden nicht durch andere Exzentriker ersetzt werden – sie werden einfach aufhören zu existieren.

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In meiner Laufbahn als Arzt habe ich miterlebt, wie der Beruf so weit standardisiert wurde, dass Ärzte zu fast charakterlosen Akteuren wurden. Sie folgen alle den gleichen abgestandenen Ideen, oder vielmehr Orthodoxien, sie wagen es kaum, aus der Reihe zu tanzen. Und wenn ja, können sie sich von ihrer Karriere verabschieden. Obwohl schon das Auswahlverfahren für das Medizinstudium so angelegt ist, dass es den Konformismus honoriert, und deshalb würde kaum noch ein Arzt der Versuchung nachgeben, aus der Reihe tanzen zu wollen.

Die Verflachung des Charakters, der die Exzentrizität verhindert, bringt natürlich einige sehr banale Vorteile mit sich. Wenn sie schon verhindert, dass keine Größen entstehen, so schützt er uns vor der Herausbildung von Monstern (obwohl sich das Böse eher verbergen lässt als der Besitz von ausnehmenden Talenten). Die Mittelmäßigkeit zu klonen ist einfacher, als die Dinge laufen zu lassen und sich auf die natürliche Vielfalt der Menschheit zu verlassen. Wenn alle aus der gleichen Gussform stammen, weiß man wenigstens, was man zu erwarten hat. Oder zumindest kann man behaupten, alles getan zu haben, um Pannen zu vermeiden. Wie hoch die Opportunitätskosten sind, wenn alle die gleichen Tugenden besitzen, werden wir nie erfahren.

Noch sind die Menschen nicht genetisch modifiziert, um gleich zu sein. Aber auch sonst führen viele Wege zu Einförmigkeit. Wenn Exzentrizität, wie John Stuart Mill sagte, das Zeichen für einen starken Charakter ist, so könnte man heute in einer Abwandlung sagen, sie sei ein Zeichen dafür, ob wahre Freiheit herrscht oder auch nicht. Gut sind die Vorzeichen nicht.