Tichys Einblick
Neuer „Dresscode“ im Bundestag

Mit oder ohne Krawatte – das ist auch eine politische Frage

Die Bundestagswahl 2021 ergab nicht nur eine neue Mehrheit für die Politik, sondern auch für die Kleiderordnung: Waren nach der Wahl 2017 noch fast zwei Drittel der männlichen Abgeordneten Krawattenträger, sind es jetzt nur noch zwei Fünftel. Was sind die Ursachen dieses Stilwandels?

IMAGO/Pacific Press Agency

Der neue Deutsche Bundestag zählt 736 Abgeordnete, 479 Männer und 257 Frauen. Ihre selbstgeschriebenen Kurzbiographien nebst Portraitfoto (Brustbild) findet man alphabetisch aufgelistet im „Kürschner“ (genauer: Kürschners Volkshandbuch, Deutscher Bundestag, 20. Wahlperiode, Januar 2022). Dieses Standardwerk erscheint jeweils zu Beginn einer Wahlperiode und wird dann etwa halbjährlich aktualisiert.

Bei den Portraitfotos im Kürschner fällt sofort auf, dass das Outfit der weiblichen Abgeordneten viel variabler ist als das der männlichen. Die Männer trugen jahrzehntelang eine Art Uniform: weißes Hemd, (Anzug-)Jacke und Krawatte. Das änderte sich 1983, zu Beginn der 10. Wahlperiode des Bundestags – allerdings noch nicht bei den Parteien: Von den damaligen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP trug jeweils nur ein einziger Abgeordneter keine Krawatte, bei der SPD waren es immerhin schon neun (5 Prozent), darunter ein 39-jähriger Rechtsanwalt aus Hannover, Gerhard Schröder, der den oberen Hemdknopf offen ließ.

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1983 zog eine neue Partei, die Grünen, erstmals in den Bundestag ein, die sich als politische „Alternative“ zu den Parteien verstand. Ihre männlichen Abgeordneten präsentierten sich auch im Outfit alternativ: Sie trugen Rollkragenpullover, Bomberjacke, oben offenes Hemd und schmückten sich mit Schal oder Halstuch, aber – von drei Ausnahmen abgesehen, darunter der spätere Innenminister Otto Schily – nicht mit Krawatte. Mit der fehlenden Krawatte wollten die Grünen deutlich machen, „wie stark unsere Ansichten von den Ihren abweichen“, erklärte ihr Abgeordneter Klaus Hecker (Süddeutsche Zeitung vom 20. Mai 1983). Es ging also nicht um das Kleidungsstück „Krawatte“, sondern dessen politischen Symbolwert: Die – an sich funktionslose – Krawatte stand für die bürgerliche Gesellschaft und deren Werte Leistung, Professionalität und Respekt.

Um die Jahrtausendwende lockerte sich der Krawattenzwang: Die Gründergeneration der New Economy machte ein krawattenloses, legeres Outfit zu ihrem Markenzeichen. Aus dem gesellschaftlichen Muss zur Krawatte wurde allmählich ein Kann. Dieser Entwicklung folgte auch die Politik, wo heute im internationalen Bereich Krawatte zwar weiter Pflicht ist, aber ansonsten bei immer mehr Anlässen abgelegt wird, weil sie nicht mehr zum Bild einer „dynamischen“ und „authentischen“ Persönlichkeit passend erscheint. Eine Reihe von Bundestagsabgeordneten, die sich im Kürschner 2017 noch mit Krawatte präsentierten, erscheinen deshalb im Kürschner 2021 krawattenlos – zum Beispiel der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn, der sich nun „oben ohne“ abbilden lässt.

Trotzdem ist die Krawatte im Bundestag 2021 noch kein Auslaufmodell. In zwei Fraktionen, CDU/CSU und AfD, trägt sie noch die Mehrheit (rund 60 Prozent) der männlichen Abgeordneten. Bei SPD und FDP bilden die Krawattenträger zwar eine Minderheit, aber eine beachtliche (über 30 Prozent); bei der Die Linke sind sie nur noch eine kleine Minderheit (17 Prozent, einschließlich des Fraktionsvorsitzenden) und bei den Grünen eine verschwindende (4 Prozent). Zu Details vgl. die Statistik am Ende des Beitrags.

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Insgesamt hat sich im Bundestag 2021 unter den männlichen Abgeordneten die Zahl der Krawattenträger gegenüber 2017 von 64 Prozent auf 41 Prozent verringert. Die Hauptursache für diesen starken Rückgang ist politisch, genauer: das Ergebnis der Bundestagswahl vom 26. September 2021. Bei der Wahl verloren die krawattenaffinen Parteien, nämlich CDU/CSU und AfD, kräftig an Stimmen; die krawattenkritischen gewannen (mit Ausnahme der Kleinpartei Die Linke). Dies führte dazu, dass bei SPD, Grünen und (in geringerem Umfang) FDP zahlreiche jüngere Abgeordnete über die Landesliste erstmals in den Bundestag kamen. Die zehn jüngsten männlichen Abgeordneten (Jahrgänge 1994 bis 1998) gehören alle diesen drei Parteien an, und keiner trägt Krawatte. Zum Vergleich: Von den zehn ältesten Abgeordneten – übrigens nur Männer (Jahrgänge 1941 bis 1951) – ist keiner Mitglied der Grünen, und die Mehrheit (sechs) mit Krawatte.

„Mit oder ohne Krawatte?“ – das ist heute für die meisten Männer keine Grundsatzfrage, sondern eine Frage des Ermessens: Es hängt von den Umständen ab, wobei sich in den letzten Jahrzehnten die Formalitätsstufe für die Krawatte im Sinne eines kulturellen Upgrading nach oben verschoben hat. Je formeller die Situation, desto eher wird Krawatte angezogen. Diese Regel befolgen auch die Bundestagsabgeordneten (m): Der Abgeordnete Olaf Scholz (SPD), der im Kürschner locker mit offenem Hemdkragen erscheint, bindet sich als Bundeskanzler für amtliche Anlässe selbstverständlich eine Krawatte um.

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