Tichys Einblick
Weder sakrale noch simple Figur

Sophie Scholls Weg in den Widerstand

Die historische Figur Sophie Scholl lässt niemanden gleichgültig. Klaus-Rüdiger Mai hat sich mit seinem jüngsten Werk weniger ihrer Biografie gewidmet als vielmehr eine detailreiche Studie über ihre Person, ihre Zeit und die Wirkung des Nationalsozialismus vorgelegt.

Mit ihrer Lebensgeschichte erzwingt Sophie Scholl geradezu Reaktionen – von Sakralisierung über Verkitschung. Den intellektuellen Tiefpunkt erreichte der Bayerische Rundfunk 2021 mit seiner „Ich bin Sophie Scholl“-Veroperung auf Instagram: Dort lebte die junge Frau zwar irgendwie im Jahr 1943, informierte aber gleichzeitig ihre Follower auf Instagram über die Pläne der Widerstandsgruppe Weiße Rose, als ob es auf Instagram ein Leben im Geheimen gäbe.

Der ARD-Sender verteidigte die Groteske als Versuch, Sophie Scholl heutigen Jugendlichen, wie es im PR-Deutsch heißt, „nahezubringen“. Darin, dass die Serie zwangsläufig den Nationalsozialismus banalisierte, erkannten die Nahebringer kein Problem. Genauso verstörend war die Einlassung des Autors Max Czollek, der Sophie Scholl in die Rubrik „ideologisch fragwürdige Leute“ einordnete und ihr vorwarf, dass sie in den Anfangsjahren der NS-Zeit als BDM-Führerin ebenso wie Millionen andere Deutsche zu den Verehrern Hitlers gehörte.

Zum 80. Todestag Sophie Scholls legt Klaus-Rüdiger Mai nun ein Buch vor, das sie weder zur sakralen noch zur simplen Figur macht und insbesondere ihre frühen Jahre als jugendliche Nationalsozialistin ausleuchtet, um zu erzählen, wie sie zu der jungen Frau wurde, die zusammen mit ihrem Bruder Hans, Christoph Probst, Alexander Schmorell und Willi Graf das Regime auf Leben und Tod herausforderte. Mit „Ich würde Hitler erschießen. Sophie Scholls Weg in den Widerstand“ legt Mai weniger eine Biografie vor als vielmehr eine detailreiche Studie über die Person, ihre Zeit und die Wirkung des Nationalsozialismus, der Scholl erst anzog, um sie und ihren Kreis dann radikal abzustoßen.

Manche Bücher machen ihr Glück mit wenigen Sätzen. Die kurze Stelle, Mais Leitmotiv für den Essay, lautet: „Denn es findet sich dort kein Widerstand, wo zuvor keine Liebe existiert. Vielleicht beginnt sogar aller Widerstand mit Liebe.“ Für Scholl gab es drei Fixpunkte, die alle auf ihre Weise mit Liebe in Verbindung standen: ihr Gottvertrauen, ihre Bindung an das Land – und ein Selbstvertrauen, wie es sich zu allen Zeiten nur bei wenigen findet.

Machtübernahme vor 90 Jahren
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Sie und die anderen Mitglieder der winzigen Widerstandsgruppe sahen das deutsche Volk durch den Nationalsozialismus korrumpiert, aber nicht als Ganzes verloren. Auf einem ihrer insgesamt sechs Flugblätter heißt es: „Obgleich wir wissen, daß die nationalsozialistische Macht militärisch gebrochen werden muß, suchen wir eine Erneuerung des schwerverwundeten deutschen Geistes von innen her zu erreichen.“

Mai widmet einen größeren Teil seines Essays der Frage, was Sophie und Hans Scholl am Nationalsozialismus anzog. Er skizziert kenntnisreich den antibürgerlichen, egalitären Impuls der NS-Bewegung, der besonders auf Jugendliche wirkte, auch weil seine Jugendorganisationen geschickt an die älteren bündischen Organisationen anknüpften.

Daraus ergibt sich auch der frühe Bruch mit der Ideologie. Hans Scholl organisiert als HJ-Führer seinen Bereich heimlich nach dem Vorbild der erst 1929 gegründeten „Deutschen Jugend vom 1.11.“, einer elitären, aber nicht autoritären Truppe, als deren Ideal das „freie Ich“ galt. Ende 1937 verhaftet die Gestapo Sophies Bruder Werner und ihre Schwester Inge; auch Hans Scholl, damals schon Soldat, kommt in Haft. Der Vorwurf lautet „bündische Umtriebe“. Hans Scholl kommt zwar nach kurzem Gefängnisaufenthalt frei, aber die Geschwister brechen mit dem Regime.

Bei ihrer Gestapo-Vernehmung 1943 nennt Sophie Scholl dieses Ereignis als Auslöser ihrer Oppositionshaltung und lässt den minimalistischen Satz folgen, Hitlers Regime habe „die geistige Freiheit des Menschen in einer Weise eingeschränkt, die meinem inneren Wesen widerspricht“. Detailreich zeichnet der Autor nach, wo Sophie Scholl nach Antworten sucht. Sie interessiert sich für die als „entartet“ gebrandmarkten Künstlerinnen Paula Modersohn-Becker und Renée Sintenis, liest heimlich Thomas Manns „Zauberberg“. Später wird ihr auch die Äußerung vorgeworfen: „Wer Heine nicht kennt, kennt die deutsche Literatur nicht.“ Und sie wendet sich zwar nicht der Kirche, aber dem Glauben zu  – Mai nennt es „konfessionsloses Christentum“.

Mais Buch handelt am Beispiel Scholls von einem zeitlosen, also immer hochaktuellen Thema: dem Verhältnis des Einzelnen zum Druck des Kollektivs. „Wer vom Ich zum Wir will“, heißt es, „befindet sich auf dem Weg zur Diktatur. Aber der Weg vom Wir zum Ich führt hinaus.“ Und ganz nebenbei rehabilitiert Mai so den inflationierten Begriff „Haltung“.

Klaus-Rüdiger Mai, „Ich würde Hitler erschießen“. Sophie Scholls Weg in den Widerstand. Bonifatius Verlag, 192 Seiten, 18,00 €.


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