Tichys Einblick
Klartext zur Lage der Nation

»Wer seine Sprache nicht achtet und liebt, kann auch sein Volk nicht achten und lieben«

Unseren Politikern fehlt es auf beängstigende Weise an Sprachgefühl. Wem Sprachgefühl fehlt, dem mangelt es auch an Einfühlungsvermögen. Es schadet einem Land, wenn die erste Reihe seiner Politiker sprachohnmächtig ist – vom Bundespräsidenten bis zur Kanzlerin. Oder neuerdings bis zum Kanzler.

Wir haben keine Ahnung mehr von Sprache. Das stört uns auch nicht, denn die Sprache ist uns gleichgültig geworden und ob die Worte in guter oder schlechter Qualität daherkommen ebenfalls. Vor wenigen Jahrzehnten noch waren die Parlamente die Hohen Häuser des geschliffenen Wortes. Eine beachtliche Zahl von Volksvertretern beherrschte die freie Rede. Sie war eine Kunst, daher spricht man ja auch von Redekunst. Kunst kommt bekanntlich von Können. Doch Könner sind es längst nicht mehr, die sich im Deutschen Bundestag – oder erst recht in den Länderparlamenten – zu Wort melden. Die meisten verstecken sich hinter einem Schleier von Phrasen, weil ihnen der Mut zur klaren Aussage fehlt.

Da fällt mir ein Satz des Meisters der Sprache, Johann Wolfgang von Goethe, ein, dessen Aktualität atemberaubend ist: »Ich habe mich in meinem Leben vor nichts so sehr als vor leeren Worten gehütet, und eine Phrase, wobei nicht gedacht und empfunden war, schien mir an anderen unerträglich, an mir unmöglich.« (…)

Wann, bitte sehr, erleben wir im Reichstag von Berlin einen Redner, der uns wirklich überzeugt – durch freie Rede, mit leidenschaftlichen Sprachbildern, die Konfrontation suchend und den scharfzüngigen Schlagabtausch mit dem politischen Gegner? Diese Ödnis der Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit auf öffentlicher Bühne wie dem Parlament ist natürlich besonders tragisch, könnte sie doch Vorbildcharakter für alle politisch interessierten Menschen, vor allem aber für die junge Generation haben. (…)

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Ich finde, mein langjähriger Kollege Wolfgang Herles bringt es auf den Punkt: »Von Leidenschaft für Genauigkeit, Anschaulichkeit, Vielfalt, Eleganz, Sprachwitz, Frische keine Spur. Ja, wir müssen uns wehmütig an Helmut Schmidt, Franz Josef Strauß, Herbert Wehner, Richard von Weizsäcker und inzwischen auch an Joschka Fischer erinnern.« Ich habe keinen Anlass und keine Lust, es anders auszudrücken: Deutschlands Damen und Herren Parlamentarier misshandeln und missachten unsere Sprache. Sie ist ihnen nichts mehr wert, sie wird nicht mehr gepflegt, und was nicht mehr gepflegt wird, erreicht sehr schnell den Zustand der Vernachlässigung.

Heute müssen wir ertragen, wie unser politisches Personal eine riesige Phrasendreschmaschine ohne Unterlass füttert. Heraus kommen immer mehr Phrasen ohne Sinn. Wie wäre es mit den »tragfähigen Lösungen«? Die Phrase suggeriert uns Lösungen, die tragen. Wen tragen Sie? Jene, die sich die Lösungen ausgedacht haben? Was tragen Sie? Den Kompromiss, den alle mittragen können?

Es lohnt sich eigentlich nicht, über eine Interpretation nachzudenken nach dem Motto: Was hat sich der rhetorische Künstler wohl dabei gedacht? Nichts! Er spricht nichtssagend. Man könnte auch sagen, dass er leeres Stroh drischt. Oder dass er belanglos daherredet. Die Phrase ist eben ein Allgemeinplatz, der alles oder nichts bedeuten kann. Die Phrase ist Absicht. Sie sagt nichts und ist offen für fast jede Interpretation. (…)

Eine schreckliche Entgleisung der Sprache ist es auch, wenn unsere Volksvertreter ihre Wählerinnen und Wähler beispielsweise auf dem Weg zu Reformen »abholen« und »mitnehmen« wollen. Was wollen Sie uns eigentlich mit diesen beiden Begriffen sagen? In jedem Fall das Falsche. Wen ich abhole und mitnehme, den frage ich nämlich nicht lange. Über die verfüge ich, bringe sie auf meine Linie. Mit ähnlichen Worten könnte man eine Festnahme durch Polizeikräfte beschreiben. Abholen und mitnehmen – mit einem Quäntchen Geschichtsbewusstsein und etwas Sensibilität läuft es einem kalt über den Rücken. Verbinden wir mit diesen Worten nicht auch jenes Kapitel deutscher Vergangenheit, als Gestapo-Offiziere Menschen in Deutschland deportierten – sie abholten und mitnahmen auf Nimmerwiedersehen?

Was lehrt uns dieses Beispiel? Unseren Politikern fehlt es auf beängstigende Weise an Sprachgefühl. Wem Sprachgefühl fehlt, dem mangelt es auch an Einfühlungsvermögen. Damit ist Politik erst einmal zum Scheitern verurteilt. Es schadet einem Land, wenn die erste Reihe seiner Politiker sprachohnmächtig ist – vom Bundespräsidenten bis zur Kanzlerin. Oder neuerdings bis zum Kanzler.

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Sie ist nicht nur in den Reihen der Politik zu beobachten, sondern auch in anderen vermeintlichen oder tatsächlichen Elitezirkeln. Allgemeinplätze und verbale Schleiertänze sind auch in Kreisen der Medien und der Wirtschaft weit verbreitet. Und das nicht erst seit gestern. Als der Journalist Hans Habe vor vielen Jahrzehnten an der Münchner Journalistenschule unterrichtete, sah er im Gemeinplatz einen der ärgsten Feinde journalistischen Ausdrucks. Seinen Studenten verdeutlichte er dies in vier exemplarischen Sätzen, herausgegriffen aus den Kommentaren einer einzigen Woche. Sie lauteten:

»Wir müssen Vernunft walten lassen!«
»Es ist hoch an der Zeit, dass auch die andere Seite gehört wird!«
»Nur die Überprüfung aller Argumente wird ein endgültiges Urteil gestatten.«
»Hüten wir uns, vorzeitig den Stab zu brechen.«

Gegen keinen dieser Sätze, so Hans Habe zu den angehenden Journalisten, sei etwas einzuwenden. Nur die Gegenprobe beweise ihre totale Leere. Man sollte doch den Leitartikel sehen, der dafür eintritt, keine Vernunft walten zu lassen; der gesteht, die andere Seite nie anzuhören; der behauptet, sich ohne Überprüfung aller Argumente ein endgültiges Urteil zu bilden; der rät, über diesen oder jenen vorzeitig den Stab zu brechen.

Täglich aber findet man Meinungsartikel, die feststellen, dass nur kommende Ereignisse zeigen werden, was man von den Ereignissen zu halten habe. Um das zu wissen, braucht man keine Zeitung zu lesen. Das Selbstverständliche ist ein überflüssiges Möbelstück der journalistischen Innenarchitektur; das Überflüssige ist der Feind der Flüssigkeit.

Wie in so vielem kommt auch in unserer Sprache Gedankenlosigkeit und Schlampigkeit zum Ausdruck. Heute gehören Worte zum Alltag, die mich zornig machen. »Anmieten« ist so ein Wort. Einfach so dahingesagt, ohne Sinn und Verstand. Wollen Sie auch eine Wohnung anmieten? Ich dachte eigentlich, Sie mieten ein neues Zuhause von jemandem? Zahlen Sie künftig Miete oder Anmiete?

Wen oder was hinterfragen Sie eigentlich? Warum nicht einfach fragen? Was, Sie können das nicht nachvollziehen? Sie meinen damit, dass Sie etwas nicht verstanden haben? Genau das nämlich bedeutet obiges Wortmonster.

Sie meinen, wir hätten kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem? Vielleicht stimmt das ja. Aber was wollen wir denn damit sagen? Was heißt umsetzen? Es geht doch nicht darum, Umsatz zu machen. Es geht viel einfacher: nämlich eine Idee in die Tat umsetzen – oder noch einfacher: machen, tun, entscheiden, zu einem Ende bringen. Jedes dieser Worte ist klarer und eindeutiger als das unsägliche Umsetzen.

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Ich finde, wir haben unserer Sprache ziemlich zugesetzt. Besonders beliebt ist die Sprache der Verschleierung, um die Leute im Ungewissen zu lassen. Besonders viel Gewalt tut man unserer Sprache in den Hochburgen der Bürokratie, den Behörden, Ministerien und in Brüssel an. Die Missbildungen unserer Sprache breiten sich wie ein hässlicher Ausschlag von Jahr zu Jahr weiter über unserem Land aus. Wir lassen es geschehen.

Luther ist längst begraben. Von ihm stammt der deutsche Hauptsatz: Schaut dem Volk aufs Maul und redet ihm nicht nach dem Mund.

Unsere Sprache ist es doch auch, die Auskunft gibt über unseren Geisteszustand. Mut, Selbstvertrauen und Empathie finden ihren Ausdruck in einer klaren Sprache. Umgekehrt drückt sich Unsicherheit auch in der Art und Weise zu sprechen aus. Wer sich seiner Sache nicht sicher ist, wer glaubt, sich bei jeder Gelegenheit rückversichern zu müssen, und wer nur daran denkt, wie ankommen könnte, was er oder sie zu sagen hat, der sieht sich selbstverständlich gezwungen zu vernebeln, zu verschleiern, zu verwässern, zu verundeutlichen, im Ungewissen zu bleiben und zu lassen.

Ein solcher Mensch wird sich, sollte noch ein Platz frei sein, auf einem der zahllosen Allgemeinplätze niederlassen, genau dort also, wo schon all die anderen Sprachschädlinge sitzen. »In der Sprache ist eine Armut eingetreten, die bei unseren Kindern ganz eklatant wird… Sprache als bloßes Transportmittel büßt ihre schöpferische Qualität ein«, hat das wortmächtige Kulturgenie August Everding einmal gesagt.

Fix und fertig liegen die Phrasen in den Gehirnfächern. Ein kleiner Anlass, ein Kurzschluss der Gedanken – und heraus flitzt der Funke der Dummheit, sagt Kurt Tucholsky. Wer etwas zu sagen hat, der sagt es auch und zwar in klaren Worten, die nichts verbergen wollen. Dort, wo Sprache lange eine Tugend war und daher heute eine besondere Verpflichtung wäre – im Land der Dichter und Denker.


Gekürzter Auszug – unter Verwendung eines Zitats von Ernst Moritz Arndt als Beitragstitel – aus:
Sigmund Gottlieb, So nicht! Klartext zur Lage der Nation. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 300 Seiten, 24,00 €.


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