Tichys Einblick
Was ein Linker von Konservativen lernen kann

Schwarz ist das neue Rot

Warum der Journalist und SPD-Experte Holger Fuß sich heute als „linkskonservativ“ bezeichnet und beim linksliberalen Mainstream eine Erstarrung beobachtet.

A man looks at Rene Magritte's 'La Reproduction' painting at the 'Surreal Things' exhibition

CHRIS YOUNG/AFP/Getty Images

Seit ich politisch denken kann, bin ich ein Linker. In dem provozierend unpolitischen Beamtenhaushalt, in dem ich aufwuchs, paarte sich gesellschaftliches Desinteresse mit einer Ignoranz gegenüber Humor und Lebendigkeit und gerann zu dieser erstarrten Bürgerlichkeit, die bis zum Fall der Berliner Mauer das mittlere Maß der westdeutschen Gesellschaft repräsentierte. Der Vater brütete, die Mutter beschwichtigte, die kollektive Traumatisierung der Nachkriegsdeutschen fand auch hier in der Fixierung auf materiellen Wohlstand ihre Kompensation. Gefühle wurden beschwiegen, gelacht wurde selten.

Die Eltern wählten CDU, deshalb war das rechtskonservative Lebensgefühl für mich lange Zeit mit emotionaler Erstarrung assoziiert. Ein lebenshungriger Teenager hatte damals kaum eine andere Wahl, als seine Sehnsüchte nach Wildheit, geistiger Nahrung und persönlicher Selbstentfaltung im weitestgehend links apostrophierten Milieu zu stillen.

Konservatives Lebensgefühl: „Emotionale Erstarrung“

Als ich erstmals wählen durfte, wurde Helmut Kohl zum Kanzler gewählt und blieb es 16 Jahre lang. Während der schwarze Riese regierte, konnte ich es mir intellektuell in der Opposition gemütlich machen. Die Fronten waren klar, Gut und Böse präzise adressiert. Die Grünen waren die Kirche des ökologischen Erwachens, in der eine pazifistische Grundmelodie georgelt wurde, und für mich als Kriegsdienstverweigerer zur Heimstatt wurde. Die SPD verkörperte die Infanterie von sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Erneuerung. Beide Parteien bildeten für mich als rotgrünem Wechselwähler eine politische Familie, die Lordsiegelbewahrer einer besseren Welt. Bollwerke gegen Spießertum, Dummheit, Ausbeutung und das Ruinieren unseres Planeten.

Über das Ende einer Volkspartei
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Es war eine behagliche Zeit und ein gutes Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Als Gerhard Schröder von Helmut Kohl das Kanzleramt übernahm und auf einmal Rot-Grün regierte, fand die Ära der Selbstgefälligkeit ihr jähes Ende. Nur zögerlich gestand ich mir ein, dass die Sozialdemokraten und die Grünen meine Ideale verrieten. Der Ausstieg aus der Atomenergie, dieser unbeherrschbar irren Technik, die bis heute ihre Endlagerung nicht gelöst hat, wurde über weitere zwanzig Jahre verzögert. Die unter Kohl begonnene Privatisierung staatlicher Institutionen eskalierte zu einer neoliberalen Euphorie im sozialdemokratischen Phrasengewitter. Und der Sozialstaat wurde mit der Agenda 2010 förmlich auf den Kopf gestellt.
Sozialdemokraten und Grüne verrieten ‚linke‘ Ideale

In die Wirtschaft zog eine Hire-and-Fire-Mentalität ein, Lohnabhängige wurden zu Arbeitsplatz-Nomaden, ein Niedriglohnmarkt wucherte heran, Hartz IV wurde zu einem bürokratischen Moloch, der die Zweidrittelgesellschaft vorantrieb. Als Schröder abgewählt wurde, war Deutschland nicht wiederzuerkennen. Eine Angstkultur hatte sich etabliert, wer noch Arbeit hatte, lebte mit der Drohung, sie zu verlieren.

Überfällige Reformen wurde dieser Zivilisationsraubbau genannt. Das soziale Klima gefror und zu verdanken hatten wir das den Linken. Meinen Leuten! Noch heute reibe ich mir die Augen, wenn ich zurückdenke. Ich blieb ein Linker, aber ich wurde heimatlos.

Inzwischen ist mir deutlich, wie sehr das Linkssein seine Seele verloren hat. Fortschrittlichkeit ist zum leeren Selbstzweck verkommen, zu einer ziellosen Verachtung des Alten und einer Vergötzung des Neuen. Stillstand und Rückschritt sind Schreckbegriffe in progressiven Milieus, die zugleich verdrängen, dass ihre kulturelle Innovationsversessenheit weder der Gemeinschaft noch den einzelnen Menschen eine substanziell positive Perspektive auf ein humaneres Leben verheißt.

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Warum der Konservatismus die Zukunft ist
Stattdessen sorgt eine derart programmierte kollektive Mentalität für die notwendige marktkonforme Dynamik, die der globale Turbokapitalismus für seine Wachstumsillusion benötigt. Es ist kein Zufall, dass eine Gesellschaft sich fortwährend freizügiger reformiert, Sitten, Bräuche und Traditionen über Bord wirft, Begriffe wie Heimat, Familie und Geschichte entwertet, die Menschen vereinzelt – und zugleich immer mehr Lebensbereiche kommerzialisiert und ihre unbehausten Insassen dem Konsumismus überlässt. Das Weihnachtsfest ist nurmehr winterliche Kulisse für eine Umsatzorgie des Einzelhandels. Die Kaufhäuser sind besser besucht als die Kirchen.
Atomisierung des Menschen und Kommerzialisierung

Ich begriff: Alles Liberale mündet irgendwann ein in die neoliberale ökonomische Verwertbarkeit und wird käuflich. Diese Entwicklung haben wir den Linken zu verdanken. Was Jürgen Habermas Ende der sechziger Jahre eine gesellschaftliche „Fundamentalliberalisierung“ nannte, fand ihre Erfüllung nicht etwa im Kommunismus, sondern im Konsumismus. Der Alt-Achtundsechziger Peter Sloterdijk sagte vor 15 Jahren dazu: „Im Lichte der heute gemachten Erfahrungen bedeutet das die Freigabe aller Dinge fürs Neu-Design und für den Verbrauch. Man hat mehr Demokratie gewagt, um mehr Konsum zu wagen. Alle Wege von ‚68 führen letzten Endes in den Supermarkt.“

Wem dies nicht gefällt, wer das Leben nicht den Kaufleuten überlassen, wer den Wertekosmos, den uns der biblische Gott überliefert hat, nicht dem schnöden Mammon übereignen will, kommt nicht umhin, über eine Neuerfindung des Linksseins nachzudenken. Und wie alles im Leben, was integer und authentisch ist, muss auch dieser Neuentwurf widerspruchsvoll sein. Vitalität spielt sich zwischen Polaritäten ab. In diesem Fall bedarf die herkömmliche Progressivität des Linksseins, um lebendig zu bleiben, des Gegenpols einer konservativen Ausbalancierung.

Grenzen zwischen links und rechts verwischen

In der politischen Wirklichkeit ist diese Entwicklung in vollem Gange. Die Grenzen zwischen links und rechts verwischen zusehends – aller neurotischer Schlachtengesänge eines „Kampfes gegen Rechts“ zum Trotz. Hinter solchen Parolen verschanzt sich ein strukturkonservatives linksliberales Milieu, das derzeit den Mainstream der Gesellschaft markiert und zugleich spürt, wie geistig blutleer es ist. Die notwendigen intellektuellen Provokationen und Fragestellungen kommen nicht mehr, wie vor 50 Jahren, von links, sondern aus dem Konservatismus.

Es sind Konservative, die heute über menschliches Maß nachdenken, über die Entseelung unseres Alltags durch Technologie, über den Verlust von Geborgenheit durch Zerstörung familiärer Strukturen, über eine Renaissance des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch Heimatempfinden, geschichtliche Tradition und Patriotismus. Es sind Konservative, die heute die neuen, diesmal linksliberalen Tabus brechen und die Politische Korrektheit, den deutschen Hang zum Sonderweg und zur Tugendversessenheit als ein Echo auf unser Nazi-Trauma entlarven.

Wann ist ein Rassist ein Rassist?
Identitätslinke Läuterungsagenda manipuliert Politik und Gesellschaft
Schon 1987 wies ein konservativer Denker wie Gerd-Klaus Kaltenbrunner darauf hin: „Adolf Hitler bestimmt offenbar, egal wer in Bonn regiert, immer noch die Richtlinien der Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Denn das wahre Grundgesetz dieses Staates scheint in dem kategorischen Imperativ zu bestehen, alles zu unterlassen – und sei es auch noch so vernünftig und politisch notwendig –, was auch im entferntesten noch an Adolf Hitler erinnert.“ Der Österreicher Kaltenbrunner weiter: „Eine tiefgreifende ,Enthitlerisierung‘ der Bundesrepublik ist überfällig. Es spricht nicht für die Normalität der Verhältnisse, dass ein Deutscher, der solches öffentlich zu fordern wagte, höchstwahrscheinlich in den Geruch eines ,Neonazi‘ käme.“
„Adolf Hitler bestimmt offenbar, egal wer in Bonn regiert“

Heutzutage haftet jedem das Aroma eines Faschisten, Rassisten oder Sexisten an, der sich erdreistet, eine gesteuerte Zuwanderung zu fordern, die eheliche Gemeinschaft für heterosexuelle Paare zu monopolisieren, die Ideologie des zeitgenössischen Feminismus als Rekrutierung für den Erwerbsmarkt zu hinterfragen oder gar die nationale Selbstverachtung der Deutschen als schuldzerfressenes Nachbeben der Hitler-Barbarei zu deuten. Nein, die nationalsozialistischen Wahnvorstellungen waren nicht die Erfüllung eines historischen Weges, in den Jahren der Nazi-Diktatur ist die deutsche Geschichte keineswegs zu sich selbst gekommen. Hitler hat die Werte der deutschen Kultur verraten und er hat eine ihrer wesentlichen Säulen, das Judentum, vernichten wollen.

Kurzum, der konservative Pol kann die linke Progressivität um einiges bereichern. Der Marxist Ernst Bloch sprach davon, dass die rationale Kälte des Marxismus unbedingt eines zusätzlichen Wärmestroms bedürfe, um wirklich human zu sein. Das gilt noch heute: Linke Argumentation munitioniert sich häufig mit Vernünftlertum und lässt die Menschen emotional verhungern. Überhaupt kenne ich viele Linksengagierte, die sich im persönlichen Umgang als Gefühlslegastheniker entpuppen. Vom schon klischeehaft anmutenden Atheismus in diesen Kreisen ganz zu schweigen. Hingegen begegnen mir viele konservativ durchtönte Menschen, deren Haltung eher intuitiv motiviert ist.

Linke Spießer haben die rechten Spießer abgelöst

Links ist, wo das Herz schlägt. So lautet ein geflügeltes Wort. Das war einmal. Heute ist die Empathie für die Schwachen und Geknechteten bei vorgeblich Fortschrittlichen einem abgekühlten Aufkläricht gewichen. Linke Spießer haben in meinem Erfahrungshorizont die rechten Spießbürger abgelöst. Lebensfreude erlebe ich heute mehr bei den Konservativen. Linkskritische Antlitze wirken oft verdrossen, Nichtlinke lachen mehr. Bei mir habe ich entdeckt, dass die Belebung meiner bewahrenden, nachhaltigen, mithin konservativen Persönlichkeitsanteile mein Linkssein spürbar ertüchtigt hat.


Dieser Beitrag von Holger Fuß erschien zuerst in Die Tagespost – Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur.


 

Mehr vom Autor:
Holger Fuß, Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt. Über das Ende einer Volkspartei. FBV, 256 Seiten, 22,99 €.


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