Tichys Einblick
Es gibt kein Ausweichen

Schande ist vielfältig

Schonungslos und hautnah läßt Ariana Brodmann ihre Protagonistin Helena Kahn erzählen, warum sie nach Jahren im Exil immer noch – und wieder nicht – in die ihr aus ihrer Kindheit vertraute und liebgewonnene Heimat Deutschland zurückkehren kann.
Von Antje Hermenau

Schande ist ein Buch, das sehr persönliche Blickwinkel auf die oft als unentschuldbare Schuld bezeichnete zivilisatorische Katastrophe der organisierten Judenvernichtung im 20. Jahrhundert durch „die Deutschen“ nicht nur zulässt, sondern erzwingt. Die deutsch-amerikanische Autorin Aliana Brodmann läßt den Leser in sich selbst blicken – hinein in die mit Komplexen, Schuldgefühlen, faulen Ausreden und Selbsttäuschungen belastete deutsche Seele, die mehr Menschen innewohnt als man selbst und alle anderen immer glauben.

Wer das Buch gelesen hat, der hat, so meine ich, auch etwas über sich selbst gelernt.

Brodmann, die mit ihrer Familie in den USA lebt und in Deutschland aufwuchs, dies nachdem ein großer Teil ihrer Familie von Deutschen umgebracht worden war, konstatiert gleich zu Beginn, dass sie, obwohl ihr Amerika nicht so gut gefällt, nicht nach Deutschland zurückkehren kann. Die Deutschen, so Brodmann, haben seit Langem und verstärkt in der Migrationskrise nun die strukturell stärksten Antisemiten auf der Erde, antisemitische Muslime, als Opfer und Flüchtlinge ins Land geholt, hofieren diese kulturell und erlauben ihnen, ihren Antisemitismus nahezu ungestraft in Deutschland auszuleben. Dieser Mangel an Integration mache es den Juden derzeit immer schwerer, in ihrem Deutschland zu leben.

Das geschieht auch in anderen europäischen Ländern, wie z.B. Frankreich. Dort allerdings werden wenigstens heftige intellektuelle und philosophische Debatten zu diesem Thema geführt, die in Deutschland nicht möglich sind. Dort sind auch die Probleme schärfer und schon älter. Frankreich hat auch keine KZs errichtet. Da wirkt nicht bei jeder harten Kontroverse in der Sache die Schuld der Geschichte. Der Algerier Boualem Sansal, der 2011 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten hat, nennt Deutschland für diese Hinnahme der antisemitisch wirkenden Migration komplett naiv, denn Deutschlands Toleranz werde so ausgenutzt.

Das Buch trägt autobiographische Züge und liest sich über weite Strecken wie ein betuliches Sittengemälde. Mitunter riecht man den Kaffeeduft oder hört das leise Klirren des Porzellans. Das ist nicht despektierlich gemeint, sondern bezeugt das Unverzichtbare eines erträglichen Alltags zur Aufrechterhaltung des Kultivierten und des täglichen Wiedererlangens der eigenen Würde.
Und dann wird diese scheinbare Idylle mit Schilderungen von Gräueltaten – sicherlich bewußt – unvermittelt und sehr harsch unterbrochen. Wie kurze, scharfe Kanten zerreißen sie immer wieder den sanften Schleier des Vergessens, der Unschärfe und Sanftheit, die sich so gern über die Erinnerungen zu legen pflegt. Das Leben muss ja weitergehen – auch in dieser tiefen Verlorenheit, wenn man alles verloren hat.

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Das führt dann zu so skurrilen Entwicklungen, dass heutzutage oft Antisemiten anderer Kulturen mit größter Nachsicht behandelt werden, um sich nur nicht wieder des Rassismusvorwurfs schuldig zu machen.  Genau das will die Autorin aufzeigen: der fehlerhafte Umgang der Deutschen mit dem starken Antisemitismus unter vielen Muslimen, der sich zu einem weiteren neuen Kapitel der Judenverfolgung in Deutschland entwickelt.

Im Altgriechischen gibt es das Wort deinos, das zugleich das unglaublich Schreckliche, als auch das unglaublich Großartige, Gewaltige, das auch erschrecken kann, beschreibt. Der Roman „Schande“ ist von deinos durchzogen: das Volk der Dichter und Denker, Beethovens und Bachs und die Soldaten, die die angeordneten Morde und Gräueltaten vollzogen. So ist sie wohl, die menschliche Seele. Und nur zu gern vermeidet man den Blick in den eigenen möglichen Abgrund oder inzwischen auch auf die eigene mögliche Höhe.

Wenn Laisser-faire aber einfach Toleranz ersetzt, gehen Maßstäbe nicht nur verloren, sondern wird deren Einhaltung auch von anderen nicht mehr verlangt. Deren Abgründe und die eigenen sind vermintes Gelände. Das kollektive „wir haben uns doch alle lieb“ führt inzwischen dazu, dass wir Deutschen unsere eigene Kultur, unsere Rechtsstaatlichkeit und unsere Tradition hintanstellen, um ja nicht wieder eine unentschuldbare Schuld auch nur ansatzweise zu begehen – und dabei wieder jene belasten, die wir eigentlich davor beschützen müssten. Sie mündet aber faktisch zum einen darin, dass sich diese Schuld insofern wiederholt, wenn nun andere, aus einer anderen Kultur (antisemitische Muslime) die in Deutschland und in Europa lebenden Juden oft ungestraft demütigen, beleidigen und verletzen. In Frankreich war der Mord an Mireille Knoll in den letzten Jahren ein auffälliges Beispiel dafür. Mit dieser Wiederkehr des Antisemitismus nach Europa müssen sich eine klar aufgestellte Migrationspolitik und das Rechtswesen in den europäischen Ländern gründlich beschäftigen.

Dieser eingeschleppte Antisemitismus muss ein Ende haben. Wir sind keine Rassisten, wenn wir die Norm „kein Antisemitismus“ einfordern und durchsetzen. Es muss sich viel mehr die eine Gruppe, die sich da unrühmlich hervortut, klar machen, dass in Europa klare Normen gelten. Die vielen Anschläge auf Synagogen (und leider auch christliche Kirchen!) können nicht mehr als „Ausnahmen“ weggeredet werden. Antisemiten passen nach dem 20. Jahrhundert nicht mehr nach Europa.

Dazu kommt, dass sich nicht nur, aber insbesondere in Deutschland, ein Antisemitismus breit gemacht hat, der als Antizionismus und Israelkritik nur sehr dürftig verborgen wird. Viele deutsche Intellektuelle haben diesen Antisemitismus hoffähig gemacht, der wieder zu dem führt, was über Jahrhunderte alltäglich war und von Deutschen in einem völkermörderischen Zivilisationsbruch auf die Spitze getrieben wurde: die Ausgrenzung und Beschimpfung der Juden (hier in Form des Staates Israel oder als geldpolitische Weltverschwörung) als Ursache für Krieg und eigenes Elend oder eigene Armut.

Aliana Brodmann nennt das „Juden-Neid“. Die Juden haben aus einem Stück Wüste in einigen Jahrzehnten eine blühende Nation aufgebaut. Sie sind weltweit unerreicht bei der Quote von Start-ups, haben eine gemeinsame Religion, gemeinsame Ziele und gemeinsame Werte, obwohl sie in ihrer Gründergeneration aus vielen Ländern zusammengewürfelt wurden. Sie nehmen ständig Juden aus anderen Ländern auf und integrieren sie. Nun emigrieren wieder verstärkt Juden, die Deutsche oder Franzosen sind, nach Israel.

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Ich kenne einen von ihnen: Arye Sharuz Shalicar, der als Sohn persischer Juden im Berliner Wedding aufwuchs und nur überlebte, weil ihn ein muslimischer Freund mit seiner Gang in Schutz nahm. Deutsche werden weder das eine noch das andere wahrgenommen haben. Aber Toleranz ist kein passives Konzept. Man muss für sie kämpfen und sie rechtsstaatlich durchsetzen. Deutschland steht in abendländischer, christlich – jüdischer Tradition, die zu bewahren in diesem Land auch kulturelle Aufgabe ist, auch aus Respekt vor dem eigenen geschichtlichen deinos. Es ist unsere Aufgabe, das, was wir sind, zu schützen. Es wurde über Jahrhunderte und Generationen durch unsere Vorfahren entwickelt. Es ist unser Erbe – im Guten wie im Schlechten.

Als Arye und ich uns auf einem Podium trafen, sprach er davon, dass wir Deutschen uns entspannen könnten, denn „wir Juden haben euch längst vergeben. Ihr müsst euch nun selbst vergeben.“. Wenn wir diese Vergebung nicht annähmen, lüden wir weitere Schuld auf uns. Schande ist vielschichtig.

Die deutsche Linke hat hier eine historische Aufgabe, denn sie hat bereits genug Schuld auf sich geladen, indem sie die Bezeichnung „Nazi“ inflationär benutzte, um alles ihr Unliebsame zu beschmutzen und damit aus der öffentlichen Debatte zu verbannen. Damit hat sie die unentschuldbare Schuld selbst inflationiert.
Aliana Brodmann versucht mit ihrem Buch, wie Arye, Deutschen dabei zu helfen, die Welt wieder nüchtern zu sehen und in der Realität anzukommen. Auch weil Deutschland noch immer ihre Heimat ist. In ihrem Entree sagt sie das selbst: „Deshalb glaubten auch meine zu Hause gebliebenen Freunde, mich jetzt, nach 40 Jahren in Amerika, schließlich davon überzeugen zu können, zu ihnen zurückzukehren. Wie pluralistisch Deutschland geworden sei, wie inklusive und tolerant, teilten sie mir mit. Als Beweis sollte die humanitäre Aufnahme der vielen Migranten dienen. (…) Die demonstrative Willkommensgestik war den noch existierenden Holocaust-Überlebenden und uns Nachkommen schmerzlich, deren Familien, beraubt, ermordet oder vertrieben, im Exil verschollen, niemals zur Rückkehr eingeladen, noch jemals wieder willkommen geheißen worden waren, während die neuen Exilanten nach Deutschland, als optimales Gastland propagiert, öffentlich gefeiert wurden. An uns, Überbleibsel der Ausgerotteten, der Vertriebenen und deren Kinder, hatte in der Euphorie des Gutmenschentums offensichtlich keiner gedacht.“

Wer den Roman Schande liest, wird unweigerlich auf sich selbst zurückgeworfen. Es gibt kein Ausweichen.

Die Autorin dieses Beitrags Antje Hermenau ist Unternehmerin und Publizistin und ehemalige Politikerin (Mitglied im Sächsischen Landtag und im Deutschen Bundestag).

Aliana Brodmann, Schande. Roman. Edition Buchhaus Loschwitz, Hardcover mit Schutzumschlag, 368 Seiten, 24,00 €.


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