Tichys Einblick
Politischer Durchblick

Sahra Wagenknecht: Die Selbst-Gerechten

Urban, divers, kosmopolitisch, individualistisch – links ist für viele heute vor allem eine Lifestylefrage. Politische Konzepte für sozialen Zusammenhalt bleiben auf der Strecke. Wagenknecht entlarvt einen Linksliberalismus, der sich progressiv wähnt, aber die Gesellschaft weiter spaltet, weil er sich nur für das eigene Milieu interessiert.

In Buchhandlungen liegt dieses im April erschiene Buch oft neben dem im Juni veröffentlichten Jetzt: Wie wir unser Land erneuern aus, und auf den Buchcovern sind – wie auf Wahlplakaten – die Autorinnen jeweils im Brustformat abgebildet: Sahra Wagenknecht, bei der Bundestagswahl im September Spitzenkandidatin der NRW-Linken und Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin der Grünen. Inhaltlich sind beide Titel „politische“ Bücher, aber ein Vergleich wäre unfair; denn Wagenknecht spielt in einer anderen Autorenliga als Baerbock.

Das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache definiert „selbstgerecht“ so:

»in unüberlegter, überheblicher und dogmatischer Weise von der Richtigkeit eigener Anschauungen und Verhaltensweisen überzeugt und sie vertretend«

Wagenknechts Buch ist einerseits eine politische Abrechnung mit links-grüner Selbstgerechtigkeit; andererseits, wie der Untertitel formuliert, „Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“. Entsprechend hat es zwei Teile: „I. Die gespaltene Gesellschaft und ihre Freunde“ (S. 21–201) und „II. Ein Programm für Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und Wohlstand“ (S. 203–334). Ein programmatisches „Vorwort“ (S. 9 –18) situiert das Werk, Hinweise auf „Weiterführende Literatur“ sowie die „Anmerkungen“ (meist Belegangaben) beschließen es.

„Lifestyle-Linke“

„Ich halte es für eine Tragödie“, bekennt die Autorin einleitend, „dass die Mehrzahl der sozialdemokratischen und linken Parteien sich auf den Irrweg des Linksliberalismus eingelassen hat“ (S. 17). Den Begriff Linksliberalismus benutzt sie hier, weil er eingeführt ist, stellt aber klar, dass er mit dem klassischen politischen Verständnis von „links“ und „liberal“ wenig zu tun hat: Der Liberalismus kämpfe für rechtliche Gleichheit und Meinungsfreiheit, „der Linksliberalismus dagegen für Quoten und Diversity, also für die ungleiche Behandlung unterschiedlicher Gruppen“, und für Denkverbote (cancel culture); linke Parteien würden  traditionell die Interessen der einfachen Leute vertreten,  linksliberale „wenden sich vor allem an die Bessergebildeten und Besserverdienenden und werden in erster Linie von ihnen gewählt“.

Wagenknecht nennt die neuen Linksliberalen auch Lifestyle-Linke, weil für sie „im Mittelpunkt linker Politik nicht soziale und politökonomische Probleme stehen, sondern Fragen des Lebensstils, der Konsumgewohnheiten und moralische Haltungsnoten“:

»Der Lifestyle-Linke lebt in einer anderen Welt als der traditionelle [Linke]. Er ist weltoffen und selbstverständlich für Europa, […] sorgt sich ums Klima und setzt sich für Emanzipation, Zuwanderung und sexuelle Minderheiten ein. [Er hält] den Nationalstaat für ein Auslaufmodell und sich selbst für einen Weltbürger, den mit dem eigenen Land eher wenig verbindet.« (S. 25)

Das lifestyle-linke Politikangebot sei „für all jene Menschen wenig attraktiv, die einst linke Parteien wählten, weil sie sich von ihnen eine Verbesserung ihrer oft schweren Lebensumstände, mehr Sicherheit und Schutz versprachen“.  Wagenknecht sieht darin – zu Recht – den „Hauptgrund für das Siechtum der Sozialdemokraten in fast ganz Europa“, anders ausgedrückt: „Die [traditionellen] Wähler ergreifen die Flucht“ (S. 40). Aber wohin? In Deutschland „haben SPD und Linke der AfD zu ihren Wahlsiegen verholfen und sie zur führenden »Arbeiterpartei« gemacht“. Die dänischen Sozialisten hingegen erzielten „nach Jahren des Siechtums ihren ersten Wahlsieg 2019 mit einer Botschaft, die knapp zusammengefasst »Mehr Sozialstaat, weniger Einwanderung« lautete.“

Migration

In Deutschland würde eine solche Botschaft öffentlich geächtet: „Die Forderung nach einer lockeren Einwanderungspolitik und eine generelle positive Sicht auf Migration gehören zum Denkkanon der Lifesstyle-Linken“ (S. 140). Tatsächlich gibt es aber Gewinner und Verlierer, doch politisch besteht „wenig Interesse, die wunderbare Erzählung von der Migration als Freiheitsgewinn und Vorteil für alle Seiten zu problematisieren“.

Bruch mit dem Linksliberalismus
Sahra Wagenknecht räumt die LINKE und die SPD ab. Lesenswert
Wagenknecht tut dies detailliert (S. 140–170) mit dem Fazit, dass unter dem Strich die Migration aus Entwicklungsländern nach Europa für die Heimat- und Zielländer ein Verlustgeschäft sei. Die Heimatländer verlieren junge, aktive Arbeitskräfte, darunter auch qualifizierte (2020 waren in Deutschland 4 970 syrische Ärzte beschäftigt); auf dem Arbeitsmarkt der Zielländer führt diese Migration zu Konkurrenz mit den Einheimischen, vor allem im Niedriglohnsektor (ein Fünftel der Arbeitnehmer), und zu Lohndumping – weshalb Unternehmerverbände für hohe Zuwanderung sind.

Die staatlichen Kosten für die Migration sind in Deutschland seit 2015 enorm: „Offizielle Zahlen […] gibt es leider nicht“ (S. 151), aber die meisten Schätzungen liegen bei 40 bis 50 Milliarden Euro pro Jahr. Die sozialen Folgekosten der Migration hat vor allem das ökonomisch untere Viertel der Bevölkerung zu tragen:

»Die Migranten wandern eben nicht in eine offene Gesellschaft ein,
wie uns die linksliberale Erzählung weismachen möchte.
Sie wandern in eine sozial tief gespaltene Gesellschaft ein,
deren wohlhabende Milieus […] getrennt von den weniger Begünstigten leben und arbeiten.« (S. 164)

Das Ergebnis dieser sozialen Spaltung zeigt zum Beispiel der Wohnungsmarkt: Die Migranten konzentrieren sich in den ärmeren Stadtvierteln, mit der Folge, dass dort die Einheimischen zur Minderheit werden und die Schulen „mit Klassen, in denen die Mehrheit nicht Deutsch spricht“ überfordert sind. Kein Problem für die Lifestyle-Linken: sie wohnen in besseren Stadtvierteln oder schicken ihre Kinder gleich auf Privatschulen.  So wird Integration zur politischen Lebenslüge: „Was wir in der Realität erleben, ist fortschreitende Des-Integration“ (S. 167).

Quoten und Diversity

„Eine unehrliche Debatte“, nennt Wagenknecht den herrschenden Migrationsdiskurs. Unehrlich ist auch die lifestyle-linke „Identitätspolitik“, welche die Mitglieder einer durch bestimmte Merkmale (Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Ethnie, Religion u. Ä.) definierten Gruppe zu „Opfern“ erklärt und durch Quoten „fördern“ will.

»Die Herkunft aus sozial schwierigen Verhältnissen, Armut oder ein Job, in dem man seine Gesundheit ruiniert, sind eher ungeeignet, um im Rahmen der Identitätspolitik als Opfer zu gelten.
Da an identitätspolitischen Diskursen allerdings kaum
Arme oder Geringverdiener beteiligt sind,
hat das noch niemanden gestört.« (S. 102)

Die vielgelobte „Diversität“ und „Buntheit“ hat eine soziale Kehrseite; es gibt sie „vor allem jenseits der Komfortzonen unserer Gesellschaft“:

»Da, wo eine Reinigungskolonne ihre Putzkräfte rekrutiert oder ein Lieferdienst seine Pizza-Austräger, fragt niemand nach Diversity, die dürfte in diesem Bereich ohnehin übererfüllt sein. Es geht um die lukrativen Posten. Und diejenigen, die hier im Namen von Gerechtigkeit und Vielfalt eine  Vorzugsbehandlung einfordern, kommen fast ausnahmslos aus der Mittel- und oberen Mittelschicht. […]
An den nicht mehr vorhandenen Aufstiegschancen des ärmeren Teils der Bevölkerung ändert das Quoten- und Diversity-Theater jedenfalls nichts.« (S. 109)

Kurzum: Die „soziale Vielfalt“ wird in der Diversity-Diskussion nicht berücksichtigt. Das hat Folgen für das politische System: „Die untere Hälfte der Bevölkerung ist aus dem Parlament nahezu verschwunden“ (S. 110).

Alte und neue Bundesrepublik

In der alten Bundesrepublik (1949–1990) gehörten viel weniger Frauen als heute Parlament und Regierung an, es gab dort zwar Homosexuelle, aber nicht öffentlich; andererseits war die soziale Vielfalt größer oder – modern ausgedrückt – „bunter“: Wer aus einfachen Verhältnissen stammte oder nur Volkschulbildung hatte, konnte durchaus Minister oder Abgeordneter werden. Beruflicher Aufstieg wurde in den 1950er bis 1970er Jahren „eine millionenfache Lebenserfahrung“; die alte Bundesrepublik hatte die „soziale Frage“ faktisch gelöst.

Dass es diese Frage eine Generation später, in der nach der Wiedervereinigung neuen Bundesrepublik, zunehmend wieder gibt, hat mehrere Ursachen: Durch den politischen Zusammenbruch der Sowjetunion entfiel in den 1990er Jahren die Systemkonkurrenz zwischen Sozialismus und Kapitalismus, und – so die Analyse der promovierten Wirtschaftswissenschaftlerin – es konnte sich ein Dreiklang aus „Wirtschaftsliberalismus, Sozialabbau und Globalisierung“ entwickeln, der neue Rahmenbedingungen schuf. Um diese Entwicklung zu stoppen, schlägt Wagenknecht ein Gegenprogramm vor, das für „De-Globalisierung“ eintritt, einen starken Nationalstaat in einem „Europa souveräner Demokratien“, für eine „echte Leistungsgesellschaft“,  „andere Digitalisierung“ und  „ehrliche Umweltpolitik“:

»Die aktuelle Klimadiskussionin der Fragen des Verzichts und der gezielten Verteuerung im Mittelpunkt stehen, [ist] vor allem ein Elitendiskurs. […] Die etwa von den Grünen angestrebte Lösung der Klimafrage über CO2-Steuern und bewusste Verteuerung läuft letztlich darauf hinaus, dass viele heute übliche Konsumartikel und Dienstleistungen wieder zu Luxusgütern werden, zu denen große Teile der Bevölkerung keinen Zugang mehr haben. Das mag im Sinne gut betuchter Grünen-Wähler ein Ausweg sein, für weniger Wohlhabende ist es keiner.« (S. 284 u. 290)

Für ihr Gegenprogramm sieht Wagenknecht eine gesellschaftliche Mehrheit – „Der Zeitgeist ist sozioökonomisch links und kulturell solide liberal“ (S. 196) –, die aber politisch (noch) nicht genutzt werde.

P.S.: Leider hat das Buch keinen Namensindex. Der Name Merkel kommt zweimal vor, und zwar auf den Seiten 241 (zur Grenzöffnung 2015) und 221, wo es heißt:

»Die CDU Angela Merkels steht für Flexibilisierung, Wirtschaftsliberalismus, Globalisierung und hohe Zuwanderung, also für eine Politik, die den Zusammenhalt der Gesellschaft geschwächt und wertvolle Bindungen, die Menschen Halt und Stabilität im Leben gegeben haben, aufgelöst hat.«

Sahra Wagenknecht, Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Campus Verlag, 345 Seiten, 24,95 €.


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