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Ohne Massenbewegung ist totale Herrschaft nicht möglich

Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ hat einen Umfang von mehr als 1000 Seiten. Mit seiner Gedankenfülle ist es bis zum heutigen Tage eine der umfassendsten theoretischen Abhandlungen über die Natur des Totalitarismus geblieben

Trotz seiner Einzigartigkeit wird Hannah Arendts großes Werk heute kaum noch beachtet. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen passt Arendts Interpretation des Totalitarismus so gar nicht zum staatlich geförderten und von Linken aggressiv vertretenen „Antifaschismus“ der deutschen Erinnerungskultur, der zufolge der Nationalsozialismus eine dem deutschen Volke aufgezwungene Diktatur einer kleinen, mörderischen kapitalistischen Unterdrückerschicht gewesen sein soll. Der zweite Grund, warum Arendt von den heute dominierenden Ideologen gemieden wird, liegt darin, dass sie Nationalsozialismus und Kommunismus mit Selbstverständlichkeit als zwei Formen totalitärer Herrschaft betrachtet.

Schon im Vorwort zur deutschen Ausgabe weist Arendt auf ein besonderes Wesensmerkmal des Totalitarismus im Gegensatz zu Tyranneien und Diktaturen aller Art hin. Sie schreibt: „Zweifellos ist es sehr beunruhigend, dass totale Herrschaft, obwohl offen verbrecherisch, von der Unterstützung der Massen getragen wird. Es kann daher kaum überraschen, dass Wissenschaftler wie Politiker diese Tatsache häufig nicht sehen wollen, wobei sie stattdessen an die magische Wirkung von Propaganda und Gehirnwäsche glauben […]“. Und an anderer Stelle noch eindeutiger: „Totale Herrschaft ist ohne Massenbewegung und ohne Unterstützung durch die von ihr terrorisierten Massen nicht möglich.

Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
Der Topos des gesunden Menschenverstands bei Hannah Arendt
Gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann Arendt, an einer umfassenden Analyse des Nationalsozialismus zu arbeiten. Seit 1933 lebte sie – als Jüdin aus Deutschland vertrieben – in den USA und schrieb dort in englischer Sprache. Schritt für Schritt bezog sie die Analyse des Stalinismus in ihre Untersuchungen ein, und 1951 war die amerikanische Ausgabe unter dem Titel „The Origins of Totalitarism“ erschienen, deren drei – auch einzeln lesbare – Bände dem Antisemitismus, dem Imperialismus und dem Totalitarismus gewidmet sind.

Wir werden uns hier mit dem dritten Band beschäftigen. Die erste deutsche Fassung, von Arendt selbst übersetzt, erschien 1955. Bis zur dritten Auflage 1966 überarbeitete sie jede neue Ausgabe, denn in diesen Jahren wurden viele Dokumente aus der Geschichte des Kommunismus und des Nationalsozialismus der Öffentlichkeit erst zugänglich.

Die atomisierte Gesellschaft

Totalitarismus und die ihn vorbereitenden Massenbewegungen entstehen nicht zwangsläufig, aber es können Verhältnisse benannt werden, die ihre Entstehung möglich oder wahrscheinlich machen. Besonders beunruhigend muss auf heutige Leser die Ansicht Arendts wirken, dass die gesellschaftlichen Grundlagen, die die Entstehung des Totalitarismus befördern, in unserer Gegenwart ebenso gegeben sind wie seinerzeit nach dem Ersten Weltkrieg: die Auflösung der Klassengesellschaft und der Verlust von überlieferten Hierarchien, Strukturen und Traditionen.

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Die Erosion der alten gesellschaftlichen Klassen in Westeuropa war schon im 19. Jahrhundert infolge von technischer Entwicklung und Industrialisierung in vollem Gang. Sie wurde durch den Ersten Weltkrieg jedoch nochmals beschleunigt, der vor allem Deutschland, die österreichische Monarchie, Osteuropa, aber auch Frankreich in einem Zustand gesellschaftlicher Verwüstung hinterließ. „Der Zusammenbruch der Klassengesellschaft, welche die einzige zugleich soziale und politische Strukturiertheit der Nationalstaaten bildete, war zweifellos eines der dramatischsten Ereignisse der neueren deutschen Geschichte“, so Arendt. Er beförderte die Verunsicherung der durch Krieg desillusionierten, haltlosen Massen, die umso verzweifelter nach Erklärungen der Dramen suchten, die ihr Schicksal bestimmten.

Mitglieder unstrukturierter, atomisierter Gesellschaften organisieren sich nicht in Parteien, Gewerkschaften oder Berufsvereinen, sie sind öffentlichen Angelegenheiten gegenüber überwiegend gleichgültig. Sie artikulieren auch keine gemeinsamen Interessen, die auf einer gemeinsam erfahrenen Welt beruhen. Diese politisch indifferenten Massen bilden in der Moderne zu jeder Zeit, auch in Demokratien, die Mehrheit der Gesellschaft, unterstützen jedoch durch ihr Schweigen in der Regel die bestehenden Verhältnisse.

„Mit dem Wegfall der Klassenstruktur verwandelten sich die potenziellen, apathischen Mehrheiten, die bisher hinter jeder Partei gestanden hatten, in eine unorganisierte, unstrukturierte Masse verzweifelter und hasserfüllter Individuen“, schreibt Arendt, deren Hauptmerkmal „nicht Brutalität, Unbildung oder Dummheit [ist], sondern Kontaktlosigkeit und Entwurzelung.“

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Während Hitler in Deutschland eine gärende, tendenziell bindungslose Gesellschaft vorfand, musste Stalin die unstrukturierte Masse aus der ererbten russischen Gesellschaft erst herstellen. Den alten Adel und das Bürgertum hatte Lenin schon eliminiert, Stalins Werk war die Liquidierung der Nationalitäten, die Einebnung der Sowjets, die Auslöschung der noch bestehenden besitzenden Klassen, zuerst des Mittelstands, dann der Bauern. Und als die Familien durch Sippenhaft für ihre Mitglieder mitverantwortlich gemacht wurden, führte das letztlich auch zu deren Zerstörung. Die klassenlose Gesellschaft war nichts anderes als eine atomisierte Massengesellschaft.

Diese atomisierte Masse sucht nach Erklärungen für die Welt. Der Einzelne sehnt sich in seiner Verlassenheit danach, in einem größeren Ganzen aufzugehen, die eigene „unechte Identität“ mit Rollen in der Gesellschaft auszulöschen. Keiner formulierte das so zutreffend, wie der russische Revolutionär Michail Bakunin: „Ich will nicht ich, ich will wir sein.“ Arendt leugnet keineswegs die Bedeutung totalitärer Propaganda bei der Entstehung totalitärer Massenbewegungen, sie weist nur immer wieder darauf hin, dass sie nicht wirken kann, wenn sie nicht eine Antwort auf das brennende Bedürfnis heimatlos gewordener Individuen findet.

Totalitäre Propaganda baut deshalb auf diese Sehnsucht und erhält eine besondere Durchschlagskraft dadurch, dass sie der Kontrolle durch die Gegenwart entzogen wird und behauptet, ihre Richtigkeit könne nur eine nebulös gehaltene Zukunft beweisen: die Verwirklichung der absoluten Gleichheit der Kommunisten oder der Herrschaft der einzigen überlegenen Rasse der Nationalsozialisten.

Verlust des Menschenverstands

Das ist der Weg, auf dem der gesunde Menschenverstand verloren geht. Die Massen ertragen die Welt nicht, in der der anarchische Zufall herrscht, sie vertrauen ihren eigenen Erfahrungen und ihren Sinnen nicht mehr und flüchten deshalb in konstruierte Gesetzmäßigkeiten. „Nur wo der gesunde Menschenverstand seinen Sinn verloren hat, kann ihm totalitäre Propaganda ungestraft ins Gesicht schlagen“, schreibt Arendt.

Die Kunst der totalitären Führung besteht darin, in der Realität geeignete Elemente für ihre Fiktionen zu finden. Daraus wird ein stimmiges Konzept hergestellt, das so logisch erscheint, dass jede Erfahrung problemlos eingefügt werden kann. Empfänger ist ein Publikum, dem Wahrheit nichts mehr bedeutet und das sich daran gewöhnt hat, dass alles wahr sein kann oder auch gar nichts.

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Eine Frage des gesunden Menschenverstands
Totalitäre Ideologien liefern totale Welterklärungen, doch sie erklären nicht, was ist, sondern nur, was werden, entstehen und vergehen soll. Sie sind von der Wirklichkeit emanzipiert, bestehen darauf, dass es eine „echte“ Realität gäbe, die sich hinter dem äußeren Schein verbärge: hinter der Marktwirtschaft die „Jagd nach Mehrwert“, hinter jedem negativen Ereignis oder Zufall die „jüdische Weltverschwörung“.

Ist eine totalitäre Bewegung in Gang gekommen, ist sie kaum noch aufzuhalten. Dafür sorgt die totalitäre Organisation, die einen „vollständigen Ersatz für jedes unpolitische Leben bietet“. Für Beobachter sieht diese „wie ein Stück aus dem Tollhaus“ aus, weil sie keine Zweckmäßigkeit des Handelns erkennen können, ja es scheint zuweilen, dass hier Selbstmörder zugange sind. Totalitäre Diktaturen interessieren sich weder für die Bürger noch für die nationalen Interessen ihrer Länder, denn sie betrachten sich als Vorkämpfer einer Weltbewegung, die nur ein Ziel kennt: die Weltherrschaft. Deshalb berührte es einen totalitären Machthaber wie Hitler auch nicht, dass sein Land mit ihm untergehen würde.

Die totalitäre Bewegung mündet schließlich in die totalitäre Diktatur. An die Stelle des positiv gesetzten Rechts tritt das „Gesetz der Geschichte“ oder das „Recht der Natur“, eine viel höhere Instanz, als es das gesetzte Recht je sein könnte. „In der Verachtung der totalitären Gewalthaber für positives Recht spricht sich eine unmenschliche Gesetzestreue aus, für welche Menschen nur das Material sind, an dem die übermenschlichen Gesetze von Natur und Geschichte vollzogen, und das heißt hier im furchtbarsten Sinne des Wortes, exekutiert werden.“ Und: „Man opfert Menschen um der Menschheit willen.“

Die wichtigste Erkenntnis dieses Buches ist, dass atomisierte, von den klassischen Institutionen wie Familie, Nation, von Traditionen abgeschnittene und auf Gleichheit versessene Gesellschaften eine inhärente Neigung zu totalitären Ideologien entwickeln. Ob es deshalb weise ist, diese ohnehin schon vorhandenen sehr starken Tendenzen zur Zerstörung traditionell gewachsener Strukturen weiter durch eine bewusste Politik zu fördern, kann der Leser dieses großartigen Werkes dann selbst entscheiden.

Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. Piper, 1024 Seiten, 26,00 €.


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