Tichys Einblick
"Ewige Schuld?"

Michael Wolffsohn – Über die Sehnsucht, nie wieder Täter sein zu wollen

Michael Wolffsohn hat seinen Klassiker „Ewige Schuld?“ überarbeitet und neu herausgegeben. Die Lektüre lohnt sich auch für Leser, die das Original schon kennen. Der Historiker arbeitet heraus, wie der Holocaust die Geschicke der Bundesrepublik beeinflusst hat – und immer noch beeinflusst.

Die deutsche Geschichtsschreibung ist oft unzulänglich. Zumindest, wenn es um das Dritte Reich geht. Das kommt von der bundesdeutschen Lebenslüge: Nach der war Adolf Hitler ein Verrückter, der aus dem Nichts auftauchte und das Land okkupierte mit nichts mehr an seiner Seite als ein paar radikalen Helfern. Die nahmen sich aber gegen Ende des Krieges das Leben oder wurden in Nürnberg erhängt – und alles war gut.

Die Unzulänglichkeit der deutschen Geschichtsschreibung zeigt sich etwa, wenn es um den „Totalen Krieg“ geht. Der wird meist überbetont, weil er in das Bild des okkupierten Landes passt. Was indes gerne weggelassen wird: Die englische Wirtschaft hat schon Jahre vor der deutschen all ihre Ressourcen auf den Krieg umgestellt und dafür herangezogen. Es ist mehr als handwerkliches Versagen, dies wegzulassen. Es ist ein Stützgerüst für die Legende von Adolf Hitler, dem verrückten Einzelnen, und seinen paar radikalen Helfern, die das Land okkupierten.

Würde die Geschichtsschreibung anerkennen, dass die Nazis viel länger Rücksicht auf die Befindlichkeiten des Volkes genommen haben als die demokratischen Briten, dann müsste sie anerkennen, dass es dafür einen Grund gab. Das hieße wiederum einzugestehen, dass die Nazidiktatur eben doch vom Volk getragen wurde. Ebenso wie ihre Verbrechen. Denn Holocaust bedeutet, dass Menschen die Deportation vorbereitet haben. Dass Menschen die Juden von ihren Häusern zum Bahnhof getrieben haben. Dass Menschen an der Rampe in Auschwitz selektiert haben. Dass Menschen im Lager die Gefangenen quälten, ausbeuteten und schließlich, dass Menschen im Lager die Gefangenen systematisch töteten. Hitler allein hätte das nicht anrichten können – auch nicht mit ein paar radikalen Helfern an seiner Seite.

Interview
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Diese Schuld stand der jungen Bundesrepublik 1949 im Weg, zurück in die Gemeinschaft der Völker zu finden. Diese Schuld beeinflusst heute immer noch die deutsche Politik. Es ist der Verdienst des Historikers Michael Wolffsohn, die vielfältigen Wege aufgezeigt zu haben, in denen diese Schuld sich auf die Politik der Bundesrepublik ausgewirkt hat und heute noch auswirkt. Sein Begriff der „Geschichtspolitik“ ist dabei in den allgemeinen Wortschatz übergegangen. Sein Werk „Ewige Schuld?“ aus dem Jahr 1988 ist so zu einem Klassiker geworden. Den hat Wolffsohn nun aktualisiert, überarbeitet und neu herausgebracht.

Das wirft eine Frage auf: Lohnt es sich, das neue Buch zu kaufen, wenn man „Ewige Schuld?“ in den Auflagen von 1988 oder von 1993 schon gelesen hat? Die Antwort lautet eindeutig: ja. Denn Wolffsohns Eingriffe sind nicht nur kosmetischer Natur. Er hat alte Kapitel ergänzt und komplett neue eingefügt. Dabei widerspricht er mitunter bewusst dem, was er in den ersten beiden Versionen formuliert hat. Das tut der Historiker im Sinne der Wissenschaft: „Mich reizt Selbstkritik, sie schreckt mich nicht ab. Sie zeigt einem nämlich, bar jeder auch sich täuschenden Taktik, ob, wie und warum man sein Denken und Fühlen verändert hat.“

Die Ausgabe ist lesefreundlich gehalten. So sind die neu eingefügten Stellen blau dargestellt. Das erleichtert dem Leser die Textgenese ungemein. Auch verzichtet der Wissenschaftler auf überbordende Quellenangaben oder Fußnoten und verweist dabei lediglich auf die Werke, in denen er diesen wissenschaftlichen Dienst geleistet hat. Das macht „Ewige Schuld“ zu einem Werk, das sich an eine breite Leserschaft wendet.

Das betrifft auch und vor allem die Sprache. Wobei die gefällige Sprache für Wolffsohn mehr als ein Kompromiss für seine Leserschaft ist. Verständlich zu schreiben ist Wolffsohns Haltung. Das Land des C-Worts, des N-Worts, des M-Worts oder des Z-Worts hat es sich abgewöhnt, Dinge beim Namen zu nennen. Dahinter steckt die Attitüde, sich am liebsten abzuducken, wenn es unbequem wird. Wolffsohn nennt beim Namen, spricht von Juden und vermeidet Wortungetüme wie „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, die sich in guter Absicht in die deutsche Sprache eingeschlichen haben.

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Diese Verweichlichung, sich den Dingen zu stellen und sei es auch nur, indem man sie beim Namen nennt – diese Verweichlichung sei ein Teil des deutschen Umgangs mit der „Ewigen Schuld“. Die Deutschen hätten sich nach dem Krieg und dem Holocaust vorgenommen, nie wieder die Täter sein zu wollen. Das mache sie aber an anderer Stelle wehrlos: „Es (Deutschland) war verwundbar, erpressbar, eher getriebenes Objekt als frei handelndes Subjekt der Politik.“

Das Zitat stammt aus dem neu eingefügten Kapitel zur Rolle Willy Brandts in der deutschen Israelpolitik und in der deutschen Judenpolitik. Das Kapitel demontiert das Bild des Säulenheiligen der Friedenspolitik, das vom Nobelpreisträger in Deutschland weithin herrscht. Wolffsohn zeigt schonungslos auf, wie Brandt den palästinensischen Terror durch eine Kompromissbereitschaft gefördert hat, die längst das Stadium der Selbstaufgabe erreicht hatte – und wie Helmut Schmidt diese Politik dann später korrigierte.

Wolffsohn geht schonungslos mit Brandts Rolle um. Aber er verurteilt den Kanzler nicht. Er zeigt ihn als jemanden auf, der im deutschen Spannungsverhältnis stand zwischen Geschichtspolitik einerseits und Real- beziehungsweise Tagespolitik andererseits. Gerade in Zeiten des Kalten Krieges war diese bitter notwendig.

Die Bundesrepublik hatte unter den Nato-Nationen die Aufgabe, die arabische Welt an ihr Lager zu binden und von dem des Kommunismus wegzuhalten. Diese Rolle kam West-Deutschland deshalb zu, weil es in der arabischen Welt einen guten Ruf hatte.

Und um die Dinge im Sinne Wolffsohns beim Namen zu nennen: Es war Hitler, der in der arabischen Welt einen guten Ruf hatte. Realpolitik sei notwendigerweise zynisch, schreibt Wolffsohn – und in der arabischen Welt war der Malus der „Ewigen Schuld“ Deutschlands ein Bonus. Wenn Brandt also erst spät Israel besuchte, erst spät den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden empfing und palästinensischen Mördern so weit entgegenkam, dass sich schon über Tatbegünstigung reden lässt, dann ist das den Zwängen der Zeit geschuldet.

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Diese Zwänge wurden nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der sowjetrussischen-kommunistischen Welt weniger drückend. Doch das tat dem Land nicht gut. Lesenswert ist Wolffsohns neues Kapital über die Jahre unter Angela Merkel. Sie habe wie kaum eine andere das deutsche Verhältnis zu Israel und zu den deutschen Juden gepflegt – in Worten. Die Realität hinter ihren wulstigen Reden waren aber ihre Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Heiko Maas, die in den Vereinten Nationen fast jede Resolution gegen Israel unterstützten – egal, wie abwegig diese war. Und die Realität war gerade unter Merkel eine Politik der Selbstaufgabe, die dann in der Politik der unkontrollierten Einwanderung mündete.

Der neuen Auflage von „Ewige Schuld?“ ist ein Vorwort von Ahmad Mansour beigefügt. Der Psychologe sucht nach den Gründen für den – nicht nur in Deutschland – immer wiederkehrenden Antisemitismus. Und er warnt davor, ihn im Verhalten der Juden zu suchen: „Antisemitismus ist die Pathologie der Antisemiten. Und zwar ausschließlich.“ Genau wie Wolffsohn im Haupttext findet Mansour eine Erklärung dafür, warum der Staat der Juden für viele ein Feindbild ist. Warum Israel selbst und vor allem für die deutsche Linke ein Feindbild ist: Während Deutschland nach dem Holocaust den Weg gegangen ist, so Wolffsohn, nie wieder Täter sein zu wollen, und dies bis über die Grenze zur Selbstaufgabe trieb.

Währenddessen ist Israel den Weg gegangen, nie wieder Opfer sein zu wollen. Diese Perspektive zu übernehmen, fällt vielen schwer. Vor allem deutschen Linken, die gerne ihr Denken in weltweiten Kontexten verorten, aber oft nur die Perspektive einer knieenden Ameise haben. Oder wie es Mansour formuliert: „Die Meinung der Menschen zum Thema Israel scheint so fixiert zu sein, dass die Toleranz für Ambiguität auf der Strecke bleibt.“

Genau das ist die Stärke Wolffsohns: die Bereitschaft zur Ambiguität. Die Bereitschaft, Dinge nicht zu schildern, wie sie sein sollten, sondern wie sie sind, in all ihrer Widersprüchlichkeit. In Zeiten des Haltungsjournalismus ein selten gewordenes Gut. Vor allem deswegen lohnt es sich, „Ewige Schuld?“ zu kaufen und zu lesen – selbst wenn man die erste oder zweite Auflage schon im Bücherschrank stehen hat.

Michael Wolffsohn, Ewige Schuld? 75 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen. LMV, Klappenbroschur, 304 Seiten, 24,00 €.


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