Tichys Einblick
Packend erzählte Lebens- und Zeitgeschichte

Katholisches Epochenbrausen: Wie aus Joseph Ratzinger Benedikt der XVI. wurde

Joseph Ratzinger, der als Papst Benedikt XVI. auf dem Petri Stuhl Platz genommen hatte, ist der wohl wirkmächtigste deutsche Theologe seit Luther. Peter Seewald erzählt sein Leben.

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Wie kann man über eine Jahrhundert-Figur wie Joseph Ratzinger schreiben, ohne die seelische Schwingung aufzunehmen, die von Papst Benedikt XVI. ausging wie von keinem zweiten? Er bezwang ja nicht mit der großen Gebärde und dem Prankenhieb wie sein Vorgänger, der Löwe aus Krakau, Karol Wojtyla, der Theatermann und Sportler und Welterschütterer, der als Papst Johannes Paul II. die rote Diktatur beendete und mit seinem langen Sterben die Herzen der Welt eroberte.

Nein, dieser deutsche Papst war scheu, aber unbestechlich. Er redete mit leiser Stimme, aber er drang damit in die Seele. Es war ein Glücksfall, dass der Journalist Peter Seewald, der bereits für den Spiegel und den Stern gearbeitet hatte, 1992, mittlerweile bei der Süddeutschen Zeitung, herausfinden wollte, was am Bild des strengen und reaktionären Chefs der Glaubenskongregation stimmt, und was Legende war.

Ist dieser Joseph Ratzinger, der als junger Theologe der Superstar der deutschen Vorlesungssäle und Fakultäten war, tatsächlich der Fürst der Finsternis, als den ihn die „progressiven“ katholischen Theologen und die Presse schilderten?

Seewald, selbst katholisch aufgewachsen, aber mittlerweile aus der Kirche ausgetreten, hatte sich offenbar eine Glut in der Asche bewahrt und er traf nun auf einen Mann, der diese wieder zur Flamme entfachte und ihn zurückholte in die una sancta, mit leiser Stimme und schönster Durchdachtheit, mit der Poesie des Glaubens.

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Das Interview-Buch, das aus dieser Begegnung entstand und das mehr war, nämlich ein inniges Lehrgespräch über Gott und die Welt, wurde ein globaler Bestseller in über 30 Sprachen. Es traf einen Nerv. Mit anderen Worten: Der Heilige Geist sorgte offenbar dafür, dass es Seewald erspart blieb, mit den immer gleichen saudummen und typisch deutschprotestantischen Fragen nach Zölibat und Gleichberechtigung am Wesenskern abzurutschen, Inquisition und Papsttum und Frauenordination, eben dem ganzen falschaufgeklärten Illustriertendreck. Nein, er steuerte den Kern an. Jesus, und der Glaube an ihn.

Nur Peter Seewald also konnte es gelingen, diese Biografie Benedikts vorzulegen. Im Laufe der Jahre stellte er ihm, so schätzt er, rund 2.000 Fragen. So entstand ein 1.200-Seiten starkes Epochenbrausen in den unterschiedlichsten Registern, eine Geschichte des deutschen Jahrhunderts, eine Sittengeschichte, eine der Glaubenskonjunkturen, der Politik, ja, der Weltkirche.

Wir erleben die Familie des Gendarmen Ratzinger in bitterer Armut, die Geburt seines Jüngsten am Karsamstag 1927, diesem merkwürdigen Zwischentag, Gott ist tot, aber über diesen Stunden liegt der Vorglanz seiner Auferstehung. Der Kleine ist hübsch und schüchtern und absolut unsportlich, aber wenn er in der Schule den Mund aufmacht, erstaunt er Lehrer und Mitschüler mit seiner leisen Intelligenz und seiner Gewissenhaftigkeit. Auch mit trockenem Humor, und durchaus Widersässigkeit. Gemeinsam mit dem älteren Bruder wird er in die HJ gezwängt, und ist als Gezwängter nicht der Uniform wert.

Im Haus wird Rosenkranz gebetet und Messe gespielt, Volksfrömmigkeit, Altötting mit den Votivtafeln ist nah. Umzug ins ebenfalls nahe Dorf Hufschlag. Der Obersalzberg, das Epizentrum des Bösen, ist gerade 40 km Luftlinie entfernt.

Die Kinder besuchen das erzbischöfliche Gymnasium. Besonders diese Jugendjahre sind mit einer erzählerischen Kraft geschildert, die deutlich macht, wie schön und selbstverständlich und widersetzlich gegen die braune Flut der Katholizismus war.

Pastorale Animateure
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Dass ausgerechnet die Jahrmarktsbuden-Theologin Käßmann den Katholiken „Antijudaismus, der zum Antisemitismus führte“ vorwarf, wie Seewald zitiert, ist dabei von kaum zu überbietender Frivolität. Hat nicht der protestantische Sektengründer Luther mit seinen Kampf-Empfehlungen gegen die Juden – Verbrennen von Synagogen, Büchern, Menschen – die Gebrauchsanleitung für Hitlers Mörderwahn geliefert? Waren es nicht Protestanten wie Käßmann, die mit den „Deutschchristen“ den Messias zum Führer herunterpervertierten?

Schon bald sind die Ratzingersöhne entschlossen, Priester zu werden, Priester waren Helden für sie, weit über 1.000 von ihnen wurden in Buchenwald umgebracht. Nach Kriegsende das Theologiestudium in München. In Trümmern. Und hier weitet sich die Biografie erneut. Fundamentaltheologie und Dogmatik, und Seewald hat hunderte von Stimmen zusammengetragen, die den jungen Ratzinger beschreiben, seine Suche, seine beglückenden Theatererlebnisse, seine Lektüren, darunter Herrmann Hesse mit dem “Demian”, dem “Steppenwolf”.

Offensichtlich hat Seewald auch die Lektürepläne der Uni nachgelesen, um in Ratzingers Kopf zu gelangen. Einer ist dort längst zu finden, der überstrahlt: Augustinus mit seinen „Confessiones“, die anheben mit Worten, die aus der tiefsten Tiefe des Glaubens emporsteigen „Spät erst habe ich dich erkannt” und “Du hast uns zu dir hin geschaffen; unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir…”. In dieser persönlichen, intimen Gottesschau fühlt sich Joseph Ratzinger aufgehoben und geborgen; hinzu kommt selbstverständlich die Vernunftlehre der griechischen Philosophie, doch auch Zeitgenossen wie Josef Pieper, Henri de Lubac und sein “Catholicisme”, sowie Hans Urs von Balthasar und andere.

Es waren theologische Auseinandersetzungen, die meilenweit über dem geistlosen Reformgeschnatter der religiösen Analphabeten unserer Tage liegen und mit Albereien den Altarraum zum Kasperletheater zu machen versuchen.

Die fünfziger Jahre – es ist das katholische Jahrzehnt: In Adenauers Kabinett überwiegend Katholiken, die katholische Soziallehre begleitet die Wiederaufbaujahre und gibt ihnen eine geistige Fassung. Wie sich Joseph Ratzinger in der akademischen Welt in diesem Jahrzehnt virtuos durchsetzt, erinnert an einen Mantel- und-Degen-Roman, ein Musketier der Theologie. Mit unglaublicher Auffassungsgabe saugt Ratzinger in sich auf. Und er geht an die Quellen, er liest die Kirchenväter im Original. Daneben die kirchliche Welt. 1951 die Primiz, und Seewald schildert diese Sonnentage voller Gebete und familiärer Innigkeit und Blumengirlanden wie ein Fest. In Rekordzeit legt Ratzinger seine Dissertation vor und macht seinen Doktor beim Rheinländer Söhngen mit summa cum laude über das Volk und Haus Gottes bei Augustinus. Seine Habilitation über die Geschichtstheologie Bonaventuras wird von Söhngen mit Beifall angenommen, vom Co-Gutachter Schmaus jedoch boykottiert. Seine Haare werden schlohweiß über Nacht, da er bereits die Eltern zu sich geholt hat. Durch einen Gedankenblitz im Verfahren erhält er die Professur doch noch. Später wird er sagen, die Brüskierung habe ihm gut getan. “Es ist nicht gut, wenn alles glatt läuft”.

Wo immer er in der Folge doziert, ob in Münster, in Bonn, in München, stets sind die Hörsäle überfüllt, so dass nach außen übertragen werden muss. Ratzinger ist ein Ereignis. Er spricht druckreif. Er ist der Star der Stunde.

Ende der 50er ändert sich in der Kirche die Temperatur. Die Verkündigung der Kirche, das spüren nicht nur junge Theologen, sondern auch der alte Giovanni Roncalli, Papst Johannes XXIII., bleibt stecken in ihren Routinen, sie dringt nicht mehr durch. Und so beruft er ein zweites vatikanisches Konzil ein. Benedikt XVI. erinnert sich “an den großen Aufbruch”, der ihn elektrisiert. Er sagt “man hatte das Gefühl, man könne das Christentum ganz neu leben.” Diesem konziliaren Impuls, dem es um die Gottesbegegnung geht, um Jesus Christus als direkt erfahrener Glaubensoffenbarung, einem im besten Sinne protestantischen (heute würde man sagen: evangelikalen) Impuls ist er bis an sein Ende treu geblieben – seine Jesustrilogie, die er als Papst verfasste und die durchaus als Vermächtnis gelten kann, legt davon Zeugnis ab.

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Wie der Rezensent der FAZ nach einer offenbar nur oberflächlichen Lektüre auf die Idee kommen kann, Seewald vorzuwerfen, er habe die Wandlung des Konzilsprogressiven zum Inquisitionsreaktionär Ratzinger nicht beschrieben, zeugt von den gedankenarmen eingeschliffenen Rezeptionsmustern, die Seewald über mehrere Kapitel aufbricht; er erklärt darin, dass es diesen Bruch nicht gibt, in einer auch für absichtsvoll blinde und taube Papsthasser. Eines seiner Kapitel heißt ausdrücklich “Die Legende von der Wende“.

Es ist allerdings eine Legende, die gerne von Ratzinger-Kontrahenten wie Küng oder dem Häkelpullover-Psycho-Theologen Drewermann in die Welt gesetzt wird. Küngs Gehässigkeiten, die sich bis zur Papstwahl fortsetzen, sind die allervergnüglichsten Bellereien. So zum Beispiel, dass dem Theologen und Papst Benedikt als Gendarmensohn aus der Provinz einfach die Weltläufigkeit fehle, die er, Küng, naturgemäß mitbringe als Sohn eines Kaufmanns (seine Eltern hatten ein Schuhgeschäft in einer 4.000-Seelengemeinde). Küng fuhr einen schnittigen Zweisitzer, ein Cabrio, während Ratzinger auf einem klapprigen Fahrrad zu seinen Vorlesungen fuhr. Womöglich meinte Küng das, wenn er seinen Tübinger Professorenkollegen als mittelalterlich bezeichnete.

Seewalds Buch ist mehr als eine Biografie. Es ist ein Apostolat. Es wird auch jene ergreifen, deren Glaube in dieser deutschen katholischen Kirche mit ihrem “kreativen” liturgischen Firlefanz und ihren “politischen Gebeten” (Benedikt XVI.) ermüdet. Und dass übrigens sowohl der alte und kranke Johannes XXIII., als auch der ebenfalls erkrankte Paul VI. Wege eruieren ließen, wie ein Papst abdanken könne, muss wohl auch jene besänftigen, die Benedikt XVI. Fahnenflucht vorgeworfen haben und immer noch vorwerfen.

Er hat die Kirche auf seine Weise erneuert. Seine Enzyklika über die Liebe (“Deus caritas est”) ist mehrere Millionen Mal verkauft worden. Die katholische Kirche hat Millionen an Gläubigen hinzugewonnen (in Deutschland hat sie die lange als Staatskirche führende protestantische überrundet). Er hat sich dem “Schmutz, der die Kirche besudelt”, nämlich den Missbrauchsskandalen gestellt und aufgeräumt.

Und er hat die Jugend für sich und den Glauben gewonnen – wie sehr, davon konnte ich mich im Millionenheer der Jugendlichen im Madrider Weltjugendtag überzeugen. Ich schenkte ihm auf dem Flug dorthin mein Buch „Das katholische Abenteuer“ mit einer Widmung, die ein Augustinus-Wort war Incipit exire, qui incipit amare – „Wer beginnt loszulassen, der beginnt zu lieben“ – nicht ahnend, dass er ein Jahr später sein Papsttum aufgeben würde. Er lächelte und fragte, wie es mir beim Spiegel ginge. Ich meinte ein Augenzwinkern zu erkennen. „Mal so, mal so, Heiliger Vater“, sagte ich, „zurzeit eher so.“

Seewalds mächtige und vielschichtige Biografie ist eine unglaubliche Lektüre. Sie beweist: Der scheue Gendarmensohn aus Marktl am Inn hat die Welt nicht mit Löwenpranken, sondern auf seine Weise erobert, mit leiser Stimme, einem Lächeln und dem gelebten Glauben an den Gründer der Kirche: Jesus Christus.


Peter Seewald, Benedikt XVI. Ein Leben. Droemer Verlag, 1184 Seiten, 38,- €.


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