Tichys Einblick
Identitätslinke Läuterungsagenda

„Ihr schuldet uns was“ – statt Klassenkampf spaltet jetzt Minderheitenpolitik

Sandra Kostner und ihre Mitautoren sezieren die Identitätslinken, die Menschen wieder an ihre Herkunft ketten. Die Gesellschaft soll so ausgebeutet und in Einzelteile zerlegt werden um sie zu zerstören.

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„Bist du dir sicher, dass Du das wirklich publizieren willst? Hast du keine Sorge, dass dir so ein Text schaden wird?“

Die Soziologin und Migrationsforscherin Sandra Kostner schreibt präventiv schon auf den ersten Seiten, was ihr Kollegen aus dem Wissenschaftsbetrieb sagten, als sie ihnen von ihrem Buchprojekt erzählte. „Identitätslinke Läuterungsagenda“ stellt für die neuen, repressiven Linken tatsächlich die größtmögliche Provokation dar. In den USA gibt es die Kritik an linker Identitätspolitik schon länger. In Deutschland trifft bisher kein Buch den Nerv dieser Ideologie so präzise wie der von Kostner herausgegebene Sammelband.

Wann ist ein Rassist ein Rassist?
Identitätslinke Läuterungsagenda manipuliert Politik und Gesellschaft
Die Wissenschaftlerin beschreibt eine Begegnung im australischen Cairns, die bei ihr zu einer Auseinandersetzung mit dieser neuen Linken und schließlich zu dem Buch führte. Bei einer Party erzählten ihr mehrere Lehrerinnen stolz, sie hätten erkannt, dass Aborigines-Schüler es deshalb so schwer im Mathematikunterricht hätten, weil Mathematik „westlich“ und nicht Teil „ihrer Kultur“ sei. Stattdessen würden sie die Ureinwohner-Kinder jetzt in Kunst und story telling unterrichten; seitdem ginge es in den Schulstunden viel entspannter zu. Als Kostner ihnen versuchte klarzumachen, dass sich die Lehrerinnen mit ihrer Herablassung vielleicht auf gut gemeinte Weise rassistisch, aber jedenfalls rassistisch verhielten, reagierten die Pädagoginnen giftig: Aborigines mit „westlichen“ Inhalten zu traktieren sei eine Fortsetzung des Kolonialismus, und sie, Kostner, verstünde das als Zugereiste eben nicht. Ihr Freund, so die Autorin weiter, habe ihr nach der Party gesagt, er halte die Argumentation der Lehrerinnen auch für absurd, spreche das aber nicht offen aus, um sich nicht sozial zu isolieren. Und zu dieser Zurückhaltung rate er ihr auch.

In ihrem Text entwickelt Kostner zwei Schlüsselbegriffe zur Beschreibung der Identitätslinken: Täter- und Opferentrepreneure. Täterentrepreneure entstammen der Mehrheitsgesellschaft, sie erklären sich zum Anwalt der Marginalisierten, die durch ihr Handeln die Schuld ihrer Gruppe – der weißen Mehrheit – abtragen helfen. Dafür fällt für sie eine „moralische Dividende“ (Kostner) ab, die sich in Definitionsmacht ummünzen lässt. Opferentrepreneure wiederum nutzen ihren Opferstatus, also Hautfarbe, Herkunft, sexuelle Identität – unabhängig von ihrer tatsächlichen Situation – , um Ressourcen zu beanspruchen und sich gleichzeitig gegen jede Kritik zu immunisieren.

Die alte und die neue Linke
Identitätsgerechtigkeit fragmentiert die Gesellschaft
Zwischen beiden, Täter- wie Opferentrepreneuren, so Kostner, bestehe eine „Symbiose“, die einen stärken die Position der anderen. Das ursprünglich linke Modell von Unterdrückern und Unterdrückten wird dabei beibehalten, aber von den sozialen Verhältnissen auf die „Diversität“ übertragen. Oder, mit Kostner: „Was serviert wird, ist neuer Identitätswein in alten marxistischen Schläuchen.“

Die linke Identitätspolitik lebt von zwei Voraussetzungen: Erstens von der untilgbaren Schuld der weißen, westlichen Mehrheitsgesellschaft. Deshalb auch „Läuterungsagenda“: Die Schuld soll angeblich gemildert werden, wächst aber eher noch an: denn je stärker die Ankläger Ungleichheiten skandalisieren, desto leichter können sie „die gesteigerte Sensibilität in neue Hypersensibilität (Stichwort ‚Mikroaggressionen’) überführen. Sie setzt im besten Eigeninteresse alles daran, Diskriminierungsnarrative aufrechtzuerhalten, unabhängig davon, was in der Realität passiert.“

Aufrechterhalten werden muss auch die Rolle von Schuldigen und Opfern, die, so die Autorin, zu diesem Zweck von der neuen Linken jeweils in ihr „Identitätsgefängnis“ gesperrt werden. Der Bauhelfer mit 1.900 Euro brutto bleibt als weißer Mann immer „privilegiert“ und Unterdrücker, da Mitglied der „Mehrheitsgesellschaft“, die gutverdienende Akademikerin mit Migrationshintergrund gilt dagegen immer als „marginalisiert“; sie wird nach identitätslinker Logik einem Opferkollektiv zugeschlagen, ob sie will oder nicht. Statt um soziale Befreiung wie bei der alten Linken geht es der neuen darum, die Ungleichheit dauerhaft zu behaupten, anzuklagen und zu bewirtschaften.

Für Kostner ist das „freiheitsvergiftend“, da jede Kritik an dieser Ideologie von den Diskurshegemonen sofort als „rassistisch“ und „sexistisch“ niedergehämmert wird, erst recht, wenn die Kritiker zur Mehrheitsgesellschaft zählen. Lieber schweigen deshalb viele – so wie ihr Begleiter seinerzeit in Cairns.

Susanne Kostner schreibt in einem dichten und erfreulich klaren Stil. Sie klagt nicht an, sondern analysiert mit Distanz und, heute gar nicht so häufig in der akademischen Welt, mit echtem Erkenntnisinteresse.

So halten es auch die zwölf anderen Autorinnen und Autoren, darunter auch der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer.

Sie habe auch Vertreter der Identitätslinken eingeladen, an dem Sammelband mitzuarbeiten, schreibt Kostner im Vorwort, aber keine Antworten erhalten.
Angegriffen wurde sie bisher nicht. Es scheint dafür eine Übereinkunft zu geben, das Buch zu ignorieren. Rezensionen findet der Autor im Netz keine.

Der Band „Identitätslinke Läuterungsagenda“ verdient Verbreitung trotz seines sperrigen Titels. Er übt dringend nötige Ideologiekritik auf riskantem Terrain.

Dieser Beitrag von Alexander Wendt ist zuerst bei PUBLICO erschienen.


Sandra Kostner (Hg): Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für die Migrationsgesellschaft. ibidem Verlag, 314 Seiten, 22,00 €


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