Tichys Einblick
Aus dem Arsenal der Natur

Idyll Natur?

»Düfte sind die Gefühle der Blumen«, meinte noch Heinrich Heine in seinem Reisebericht aus Deutschland aus dem Jahre 1824, »die Harzreise«. Inzwischen wissen Forscher mehr über die Intelligenz von Pflanzen.

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Alles sieht so schön idyllisch in der freien Natur aus: Die Kirschen leuchten knallrot vom Baum; Äpfel prangen prächtig in roten, gelben und grünen Tönen; Erdbeeren hängen in gut sichtbarem Rot an den Sträuchern. Auf den üppigen Wiesen blühen Wegwarte, Wicken und Pfingstrosen und verströmen betörende Düfte.

Warum? Einfach weil es so schön ist? »Düfte sind die Gefühle der Blumen«, meinte noch Heinrich Heine in seinem Reisebericht aus Deutschland aus dem Jahre 1824, »die Harzreise«.

Und tatsächlich: Blüten bietet die Natur in nahezu allen erdenklichen Formen und Farben; dazu kommen überwältigende Duftspektakel, die viele Pflanzen verströmen. Man muss nicht jetzt schon die Titanwurz mit ihrem Geruch erwähnen, der ziemlich genau das Gegenteil eines feinen Rosen- und Veilchenbouquets ist. Wenn die beginnt, ihren »Duft« zu verbreiten, wird es dem Riechenden eher schlecht.

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Doch drücken Pflanzen mit Blüten und Düften tatsächlich ihre Gefühle aus? Biologen wie Stefano Mancuso legen nahe, dass Pflanzen sogar über eine Intelligenz und Sinne verfügen. Wobei sie den Begriff »Intelligenz« schon etwas eigenwillig interpretieren müssen. Andere wie der Förster Peter Wohlleben erforschen das »Geheime Leben der Bäume«, finden heraus, dass sie in Wirklichkeit sensible Wesen seien und sich sogar untereinander unterhalten können sollen. Alle betonen, wie die Pflanzenwelt bisher unterschätzt wurde.

Wenn man sich die neuen Forschungsergebnisse ansieht, mit denen Wissenschaftler gerade in den vergangenen Jahren aufwarten, kommt man tatsächlich aus dem Staunen nicht heraus. Schon ziemlich verblüffend sind deren Befunde.

Denn warum unterziehen sich Pflanzen der Mühe und produzieren Blüten in bunten Formen und Farben sowie chemisch komplizierte Duftstoffe, die in überraschend unterschiedlichen Variationen übers Land ziehen? Das kostet sie immerhin erheblich Energie und wertvolle Rohstoffe.

Doch all dies macht die Natur nicht umsonst, nicht damit sich Sonntagsspaziergänger an den Farben von Heckenrosen, Wiesensalbei und Klatschmohn erfreuen können.

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Farben haben einen tieferen Sinn. Die Kirsche will mit ihrem kräftigen Rot Vögel anlocken, die die Kirsche fressen und sich am süßen Fruchtfleisch erfreuen sollen. Dabei nimmt der Vogel den Kern der Kirsche mit und läßt ihn irgendwo fallen, wenn sie die Kirsche gefressen hat. Damit hat die Kirsche das erreicht, was sie wollte: Der Vogel hat eine Transportaufgabe für die Kirsche erledigt. Belohnung: eine süße Frucht. Der Kern liegt jetzt an einer anderen Stelle und kann dort, wenn alles gut geht, einen neuen Kirschbaum wachsen lassen. Selbst kann der Baum ja nicht auf Wanderschaft gehen.

So machen das auch Äpfel, die ihre Kerne mitnehmen lassen, Erdbeeren und viele andere Pflanzen und Bäume. Von diesem Prinzip profitieren auch die Bienen, denen die Blüten nahrhaften Nektar anbieten, wenn sie gleichzeitig eine Bestäubungsfunktion erfüllen.

Auch Düfte haben einen Sinn und eine wichtige Funktion. Sie locken Insekten an, die die Pflanze bestäuben und so für ihr Überleben sorgen sollen.

Doch es gibt auch den umgekehrten Fall, dass es Pflanzen überhaupt nicht recht ist, wenn sich Tiere, vor allem Raupen, ihr nähern und beispielsweise anfangen, die saftigen Blätter abzufressen. Das geht an die Substanz der Pflanze, denn die Blätter sollen schließlich mit ihrer Photosyntheseleistung die notwendigen Baustoffe wie den Kohlenstoff bereitstellen. Dann beginnen sich die scheinbar so friedliebenden Pflanzen heftig zu wehren.

Sie können zwar nicht »körperlich« aktiv werden, sondern haben ein umfangreiches Arsenal an chemischen Waffen entwickelt, das jeden Chemiker erblassen lässt. Es sind meist sehr giftige Stoffe, die Fraßfeinde abschrecken sollen. Nikotin beispielsweise ist ein sehr starkes, meist tödliches Gift der Tabakpflanze, mit der sie sich fresslustiger Raupen erwehrt. Bereits die geringe Menge von 0,5 Gramm sind tödlich für einen erwachsenen Menschen. Die Tabakpflanze reichert das Gift in ihren Blättern an und schlägt damit selbst Kaninchen in die Flucht. Sie ist ein Meister der biochemischen Kriegsführung also.

Doch wollen die Raupen ungern auf ein schmackhaftes Mahl verzichten, haben ihrerseits aufgerüstet und ziemlich raffinierte Tricks entwickelt, um diese Gifte zu neutralisieren.

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Da wäre zum Beispiel Manduca sexta, gemeinhin als Tabakschwärmer gefürchtet. Ein dicker, fetter Wurm, in einem eigentümlichen blau bis grün gefärbt. Seine Lieblingsspeise: Blätter der Tabakpflanze. In atemberaubender Geschwindigkeit beisst er sich durch die saftigen Blätter, vertilgt fünf Wochen lang tagaus, tagein sämtliche Blätter mit Stumpf und Stil. Rund ein Kilogramm Blattwerk dürfte er in seinem kurzen Leben in seinen fingerdicken Rumpf hineingedrückt haben. Wenn der sich über eine Tabakpflanzenplantage hermacht, ist die innerhalb weniger Tage geplündert.

Im Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena untersuchen Wissenschaftler um Professor Jonathan Gershenzon Tricks und Abwehrstrategien von Pflanzen und Tieren. »Stellen Sie sich vor«, sagt Gershenzon, »dass jede Pflanze über ein sehr giftiges Gemisch verfügt – etwa sehr giftige Alkaloide oder Cyanide. So gefährlich dieses Gemisch auch ist, Insekten haben bisher immer gelernt, sich daran anzupassen. Sie können diese Pflanzen dennoch leicht fressen. Für uns hoch interessant ist die enorme Vielfalt in der Chemie, die Sie dort draußen sehen.«

Gershenzon ist einer der weltweit führenden Wissenschaftler, die sich mit dem allzu häufig sehr feindseligen Verhältnis zwischen Pflanzen und ihren Fraßfeinden befassen.

Währenddessen futtert sich Manduca sexta weiter durch das Blatt, hat die Hälfte bereits vertilgt. Die einzige Aufgabe dieser Larve: Eine ungeheure Fressmaschine zu sein. Bald wird aus dieser fetten Raupe ein schwarz-brauner Schmetterling.

Manduca sexta lässt sich auch nicht von dem gefährlichen Gift Nikotin abschrecken. Dem Tabakspinner macht dieses Gift nichts aus. Genüsslich kaut er weiter an der Tabakpflanze. Er hat spezielle Darmzellen entwickelt, dessen Zellwände das Gift nicht passieren lassen.

Im Gegenteil: Manduca Sexta seinerseits nutzt das Gift, um sich selbst vor Feinden zu schützen. Die Raupe reichert es in ihrem Körper an, es macht ihr ja nichts aus. Eine Waffe, die kaum wirkungsvoller sein kann: So bekommt Manduca dem Tier äußerst schlecht, das es wagen sollte, diese Raupe als fette Beute anzusehen und verspeisen zu wollen.

Zusätzlich haben diese Raupen noch einen weiteren raffinierten Abwehrtrick entwickelt, dem Biologen in Jena gerade auf die Schliche gekommen sind. Sie zweigen einen winzigen Teil des Nikotins ab; ihnen gelingt das Kunststück, das Gift in eine Form umzuwandeln, in der sie es unbeschadet durch ihren Körper zu ihrem Atmungssystem transportieren können. Durch winzige Öffnungen in ihrem Tracheensystem scheiden sie das Nikotin aus. Das ist das Atmungssystem von Raupen und anderen wirbellosen Tieren, bei denen der Sauerstoffaustausch über Öffnungen auf der Haut und über ein System von Kanälchen im Gewebe funktioniert.

Einige Moleküle dieses Anti-Spinnen-Signals reichen bereits aus, dass auch Feinde wie zum Beispiel Wolfsspinnen von ihrer vermeintlich fetten Beute ablassen. Sie benutzen also das gefährliche Gift der Tabakpflanze zur eigenen wirkungsvollen Abschreckung.

Tabakschwärmer dagegen, die nicht nach Nikotin »riechen«, weil sie etwa auf nikotinfrei gemachten Tabakpflanzen leben, wurden dagegen sofort zum Opfer der Wolfsspinne.

Maßgeblichen Anteil an der Entzifferung dieser sehr finsteren Verhältnisse zwischen Pflanzen und Insekten haben die chemischen Ökologen. Sie analysieren mit neuesten technischen Methoden Duftstoffe, die Pflanzen absondern, nehmen den Darminhalt des Tabakspinners auseinander und analysieren chemische Reaktionen, die dort stattfinden. Sie fangen Duftmoleküle auf, die Pflanzen ausstoßen, testen, wie hoch deren Konzentrationen sein müssen, um wirken zu können. Sie lassen im Labor Schwammspinner um die Wette auf Duftmoleküle hinrennen.

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Denn es gilt, nicht nur Mechanismen aufzuklären, sondern auch zu quantifizieren. Dabei stellt sich die ungeheure Leistungsfähigkeit zum Beispiel des Duftwahrnehmungsapparates von Schwammspinner oder auch Bienen heraus. Schon einige Moleküle eines Stoffes irgendwo auf der Wiese reichen aus, im winzigen Gehirn eine Reaktion hervorzurufen und die Tiere in eine bestimmte Richtung zu locken. Für die Tiere sind solche Fähigkeiten überlebenswichtig, denn nur so können sie sich in der freien Natur orientieren.

Und nein, die Natur erweist keineswegs als die immer so friedliche Idylle, als die sie häufig dargestellt wird.

Die Tricks in der Natur reichen sogar noch weiter und werden noch verblüffender bis hin zu gehirngewaschenen Ameisen, die mehr oder weniger freiwillig auf Grashalme klettern und sich fressen lassen.

Schaut man sich an, was der Kleine Leberegel macht, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der kleine, fünf bis 15 Millimeter kurze Wurm nistet in den Gängen der Galle von Schaf, Kuh oder anderen Weidetieren. Er will dort aber nicht bleiben, sondern sich vermehren und hat dazu einen raffinierten Trick entwickelt.

Der Leberegel legt seine Eier ab, die mit dem Kot nach draußen kommen. Eine Schnecke futtert den Kot und nimmt damit die Larven des Leberegels auf. Die wiederum schlüpfen in der Schnecke und vermehren sich. Den kleinen Leberegeln gelingt das Kunststück, in die Mundhöhle der Schnecke zu kommen. Dort werden sie regelrecht ausgehustet.

Dann liegen sie auf der Wiese und warten, bis zum Beispiel eine Ameise daherkommt und das ausgehustete Schneckensekret frißt. Für die Ameise wirkt sich das nicht besonders vorteilhaft aus, denn die Zerkarien, so heißt der Nachwuchs des Leberegels in diesem Stadium, beginnen sich im Hinterleib der Ameise zu Metazerkarien zu entwickeln und die Produktion von Eiern aufzunehmen.

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Soweit – so normal. Doch eine dieser Larven macht etwas anderes Merkwürdiges: Sie wandert in das Gehirn der Ameise zu genau jenem Nervenknoten, der die Mundwerkzeuge steuert. Dann schraubt sie so lange an Nerven herum, bis die arme Ameise vollkommen fremdgesteuert auf einen Grashalm emporklettert. Das tut sie, um das Gruselige auf die Spitze zu treiben, nachts. Auf der Spitze des Grashalmes beisst sich die Ameise fest. Freiwillig würde sie das nie tun, zu gefährlich.

Jetzt aber wartet sie darauf, von einem am frühen Morgen grasenden Schaf verspeist zu werden. Geschieht das nicht, klettert die Ameise am Vormittag wieder den Halm abwärts ins Nest zurück in sichere Gefilde. In der nächsten Nacht geschieht wieder der gleiche Vorgang. Für die Ameise letzten Endes ein tödliches Spiel, gut dagegen für den Wurm, der auf diese Weise in seinen Endwirt kommt. Dort entwickeln sich diese Saugwürmer wieder von vorn.

Die Natur hat noch weitere Tricks hervorgebracht, wie Parasiten ihre Wirtstiere dazu bringen, für sie abstruse Handlungen zu vollziehen, die letztlich aber den Parasiten helfen, sich zu vermehren.

Sie begehen dabei auch Fehler und befallen die falschen Wirte. Das kann für Menschen unangenehm werden, die sich zum Beispiel beim Baden in kleinen Seen den »Entenfloh« einfangen, ebenfalls eine Zerkarie, die Hautreizungen auslösen kann. Die wollen eigentlich nicht den Menschen befallen; das passiert aber mitunter in der Hitze des Gefechts. Nach dem Baden in freien Gewässern sollte man sich daher vorbeugend mit klarem Wasser kräftig abduschen.

Der weltweit verbreitete Hirnparasit Toxoplasma gondii verändert das Gehirn von Mäusen und Ratten. Forscher um Robert Sapolsky von der Stanford University injizierten Ratten und Mäuse diesen Parasiten, der eigentlich eher Einzeller als Lebewesen und beim Menschen für die Toxoplasmose verantwortlich ist. Sie beobachteten, wie die Nager plötzlich den Geruch von Katzenurin als anziehend empfanden, dies obwohl sowohl Ratten als auch Mäuse normalerweise Katzen aus gutem Grund fürchten und fliehen. Der Parasit aber hatte deren Gehirn so manipuliert, dass sie sich Katzen freiwillig auslieferten. Für Ratten und Mäuse eher nicht so schön, für den Parasiten jedoch vorteilhaft, denn er will im Darm der Katzen seine Eier ablegen und sich vermehren.

Idylle also sieht anders aus.

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