Tichys Einblick
Streitschrift wider den lähmenden Zeitgeist

Haben wir noch eine Zukunft, Herr Mai?

Eine hellsichtige Streitschrift formuliert Alternativen zu einer Politik, die das abendländische Ideal des Rechtsstaats aufgegeben hat. Der Kampf für unsere Zukunft ist ein Kampf für die Freiheit. Von Johannes Eisleben

Für viele Mitbürger ist schon lange klar, dass es in unserem Land nicht mehr mit rechten Dingen zugeht: Eurorettung und explodierende Staatsschulden, Deindustrialisierung und Überregulierung Atomausstieg und Abschied von der sicheren Energieversorgung, Grenzöffnung mit Massenmigration in unseren Sozialstaat, Genderwahn und Sprachvorschriften, Klimahysterie – und seit einem Jahr nun die COVID-Panik. Unsere Freiheit und Menschenrechte werden geschleift, die demokratische Wahl eines FDP-Politikers zum Ministerpräsidenten wird auf Weisung der Bundeskanzlerin “rückgängig” gemacht, der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant, ein Jahrtausendgenie und Pfeiler deutscher Kultur, wird in der FAZ zum “Rassisten” erklärt und die Gewaltenteilung wird aufgehoben – worüber die Qualitätsmedien jubeln. Was ist hier eigentlich los?

Der aus dem Magdeburgischen stammende Autor und Journalist Klaus-Rüdiger Mai denkt als Germanist, Historiker und Philosoph über diese und weitere fundamentale politische und gesellschaftliche Probleme unserer Zeit in seinem neuen essayistischen Plädoyer “Die Zukunft gestalten wir!” ausführlich nach. Mit seinem Buch legt er eine bürgerlich-liberal-patriotische Streitschrift für eine rechtsstaatlich-demokratische Erneuerung unserer Gesellschaft vor, die weitgehend auf Polemik verzichtet. Das Buch ist sehr nüchtern, klar und anschaulich geschrieben, die darin vorgelegten Gedanken decken von einer Analyse der Tagespolitik und den Äußerungen modischer Publizisten bis zu soziologischen, historischen und philosophischen Überlegungen ein breites Spektrum überzeugender, teilweise leidenschaftlich vorgetragener Ideen ab.

Vorwärts Genossen, wir müssen zurück:
Die Linken-Vorsitzende Janine Wissler will eine Räterepublik
Mai, der als Ostdeutscher über ein hervorragendes Sensorium für die Erosion unseres Rechtsstaats verfügt, hat das Buch in einen diagnostischen und therapeutischen Teil gegliedert, wobei die Trennung nicht immer streng durchgehalten wird. Im ersten Teil (“Was ist geschehen?”) setzt er sich mit den Erscheinungsformen des Umbruchs, in dem wir uns befinden, auseinander. Seine Grundthese lautet, dass wir den Versuch erleben, im ganzen Westen, aber auch in Deutschland, eine “Neue Herrschaft” zu etablieren, die die selbstgemachten Probleme der Politik nun durch eine “Große Transformation” (den Great Reset) zu überwinden versucht. Die Charakteristika der westlichen Nachkriegsdemokratien: Demokratische Öffentlichkeit, Gewaltenteilung, adäquate Repräsentation aller wichtigen gesellschaftlichen Schichten, Rechtsstaatlichkeit, Bejahung des Eigenen und Freiheitlichkeit sind, so schildert er, in den letzten Jahrzehnten einem postnational-globalistischen, zentralistischen, etatistischen, freiheitsfeindlichen und technokratischen Herrschaftsmodell gewichen. Das politische Narrativ, das diese Neue Herrschaft trägt, beschreibt er als eine dekadente und hochmoralische, säkulare Heilserzählung, die das religiöse Bedürfnis unserer agnostischen, ökonomisch privilegierten Eliten stillt.

Die Neue Herrschaft begleitet politisch eine wirtschaftliche Eigentumsdichotomisierung, die über das Niveau der materiellen Ungleichheit im prärevolutionären Frankreich weit hinausgeht und sich ständig weiter verschärft, jüngst beschleunigt durch die COVID-Politik der OECD-Staaten. Das Rätsel, warum die politische Linke, die sich traditionell für die Armen und die schwachen Mitbürger eines Nationalstaats einsetzt, nun kulturelle Minderheitenprivilegierungspolitik betreibt und diesen dichotomen Globalismus unterstützt, kann auch Mai nicht vollständig erklären, doch gibt er plausible Gründe dafür an: Die ideologische Entmaterialisierung der Linken seit den 1970er Jahren, das hohe Wohlstandsniveau bei gleichzeitig sinkender Qualität der vermassten Akademiker, ihr romantisches Bedürfnis nach Metaphysik, der sich an der deutschen Vergangenheit entzündende Hass auf das Eigene sowie das Bewusstsein, sich moralisch zu engagieren und der Genuss des damit verbundenen gesellschaftlichen Prestiges.

Grün-rot-dunkelrot
Der Grünen Plan von der Abschaffung Deutschlands
Dabei spielt die Marxistische Krisentheorie, die Mai historisch und ideengeschichtlich einordnet und erläutert, eine wichtige Rolle. Er betont jedoch, dass die Krise, auf die die elitäre Great-Reset-Bewegung reagiert, in den letzten Jahrzehnten selbst gemacht wurde. Weder haben wir eine echte Klimakrise, noch droht uns der Untergang durch COVID, noch ist “der Kapitalismus am Ende”, sondern wir haben laut Mai eine chronisch ungelöste Finanz- und Globalisierungskrise, die sich aus der falschen Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte ergeben hat. Was uns als Armageddon-Narrativ verkauft wird, ist nur eine Fassade, hinter der ein Versagen der Politik im Umgang mit den spontanen Kräften der Globalisierung verborgen wird. Das hysterische Krisen-Narrativ soll uns dazu bringen, der Durchsetzung einer post-demokratischen, post-rechtsstaatlichen Neuen Herrschaft zuzustimmen.

Mai erläutert, welche sozialen Schichten den „Great Reset“ herbeisehnen und betreiben, wer die Gewinner und Verlierer dieser Entwicklung sind, wie sich dabei das politische Spektrum neu organisiert und was die Ziele der Neokommunisten sind, die ein ökologistisches Rätesystem und eine weltweite Planwirtschaft anstreben. Er bezeichnet – einen wissenschaftstheoretischen Begriff des Philosophen Thomas S. Kuhn borgend – die Vorgänge, deren Zeugen wir sind, als Paradigmenwechsel, und fasst am Ende des ersten Teils zusammen, was er als dessen Indikatoren ansieht: Eine Verschiebung von der Real- zur Finanzwirtschaft, den Postnationalismus, den Austausch der sozial Schwachen durch die “abstrakt bedürftigen dieser Welt” in der politischen Wahrnehmung der Linken, die Oligopolisierung der Social Media, die Zentralisierung und Entdemokratisierung politischer Entscheidungen, die Entstehung einer neuen privaten Schuldknechtschaft und das rasche Wachstum repressiv agierender internationaler Großkonzerne. Für Mai ist klar, dass der Neokommunismus, den die Great-Reset-Bewegung propagiert, zu Stagnation, Repression und Massenverarmung führen würde, wenn sie sich durchsetzte.

Die bürgerliche Revolution: es geht um Freiheit oder Sozialismus
Im zweiten Teil seines Plädoyers („Was ist notwendig?“), das den Leser immer wieder emphatisch direkt anspricht, setzt Mai der Neuen Herrschaft eine patriotische, gesunde Renaissance des bürgerlich-liberalen Nationalstaats entgegen, der wieder der eigenen Bevölkerung und vor allem auch ihren Schwachen verpflichtet sein soll. Die Reformvorschläge Mais lassen sich in zwei Komplexe gliedern: Kultur und Bildung einerseits und Revitalisierung der Polis anderseits. Auf der kulturellen Seite spricht sich Mai für eine Rückbesinnung auf die reiche und vielseitige Kultur Europas und seiner Nationen aus. Nur im Spannungsfeld nationalen kulturellen Selbstbewusstseins und kultureller Vielfalt können die Staaten Europas gedeihen. Die Kulturvereinheitlichung und -zerstörung durch Internationalisierung und Verflachung der Bildung sind genauso abzulehnen wie die politische Sprachhygiene sowie die Vorschriften und Strafen, um diese durchzusetzen. Mai plädiert auch für eine Revitalisierung der Bildung.

Er beschreibt einen Katalog von Verbesserungen der politischen Ordnung, wie beispielsweise die Einführung von Elementen der direkten Demokratie, die Abschaffung des Verhältniswahlrechts zur Brechung der Parteienherrschaft, die Begrenzung des passiven Wahlrechts für wichtige Ämter auf wenige Wahlperioden oder eine Abschaffung der NGO-Pseudozivilgesellschaft zugunsten einer echten vorpolitischen Bürgergesellschaft. Vorschläge zur Verbesserung Wirtschaftsordnung kommen etwas zu kurz, genauso wie die Behandlung des Verhältnisses von schriftlichen, institutionalisierten sozialen Normen zu den gelebten verinnerlichten, Normen (Ethos) – dieses Thema deutet er allerdings in einem Abschnitt an, in dem er Gibbons großartige Beschreibung des Niedergangs Roms zitiert.

Insgesamt enthält diese lesenswerte Streitschrift nicht nur zahlreiche wichtige Gedanken, sondern auch Anregungen zur vertiefenden Lektüre in einem Literaturverzeichnis, das für einen Essay in Buchform genau die richtige Länge hat. Darin finden sich Hinweise auf so unterschiedliche Denker wie den großen konservativen Historiker Reinhard Koselleck oder den liberalen Volkswirt Paul Collier, aber auch auf Denker der politischen Linken, die langsam begreifen, dass etwas nicht stimmt, wie etwa Nancy Fraser. Das Buch ist gehaltvoll, aufklärerisch, voller Bildung und unterhaltsam zugleich, nach der Lektüre hat jeder Leser etwas gelernt, ohne sich dabei durch schwere Gedankenkost quälen zu müssen wie bei manchen der Autoren, die Mai zitiert. Das Buch ist Teil eines Aufbruchs des Bürgertums in Deutschland, der längst überfällig ist.

Klaus-Rüdiger Mai, Die Zukunft gestalten wir! Wie wir den lähmenden Zeitgeist endlich überwinden. LMV, 232 Seiten, 20,00 €.


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