Tichys Einblick
Frank Furedi

Auf dem Weg in die grenzenlose Gesellschaft

Der britische Soziologe Frank Furedi hat mit "Why Borders Matter" eine überzeugende Kritik an der Ideologie der absoluten Offenheit und Diversität vorgelegt.

Unter den Autoren, die es wagen, in einer Zeit, in der der Konformitätsdruck der „wokerati“ täglich zunimmt, gegen den Strom zu schwimmen gehört, nimmt Frank Furedi, der lange an der Universität von Kent lehrte und heute u. a. auf dem Blog Spiked publiziert, eine prominente Stellung sein. Sein jüngstes Buch Why Borders Matter, setzt sich mit dem Problem von Grenzen in der modernen Welt auseinander, oder vielmehr mit dem Angriff einer selbsternannten linksliberalen kulturellen Elite auf jede Form von Grenzziehungen.

Damit sind freilich keineswegs nur territoriale Grenzen gemeint, sondern auch symbolische Grenzen, die etwa unterschiedliche soziale Rollen und Identitäten von einander abgrenzen. Besonders wichtig sind oder waren hier traditionell die Grenzen zwischen Männern und Frauen oder zwischen Alt und Jung, aber auch zwischen Gesund und Krank, Privat und Öffentlich oder zwischen Fremden und Landsleuten. Soweit es Grenzen sind, die überhaupt überschritten werden können, gibt es in Gesellschaften, die noch über ein Minimum von Traditionen verfügen, oft spezifische Rituale, die die Überschreitung der Grenze markieren und legitimieren, etwa beim Erwachsenwerden, oder auch, wenn man eine Ehe eingeht und damit eine andere soziale Identität annimmt. 

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Furedi hat sicherlich recht, dass in den westlichen Gesellschaften der Gegenwart solche symbolischen Grenzen und die damit oft verbundenen Konventionen und Rituale stark an Bedeutung verloren haben. Auch ältere Erwachsene wollen z. B. für immer jung bleiben, auch um den Preis einer gewissen Infantilisierung. Auffällig ist auch, dass die Grenzen zwischen dem privaten Raum und dem öffentlichen porös geworden sind, einerseits durch einen weitverbreiteten Exhibitionismus, der das Intimste in der Öffentlichkeit ausbreitet, andererseits durch eine Politisierung von Fragen, die früher als reine Privatangelegenheit, als unpolitisch gegolten hätten. So ist es erklärlich, dass gelehrte wissenschaftliche Abhandlungen mit Titeln wie „The politics of menstruation“ oder „The politics of breast feeding“ erscheinen können. Und so erklärt sich auch, dass rein persönliche Befindlichkeiten und Gefühle plötzlich in Diskussionen den Platz einnehmen, der früher politischen Argumenten vorbehalten war, und in ihrem Namen „safe spaces“ verlangt werden, in denen das eigene Wohlgefühl durch keine feindselige Meinungsäußerung gestört wird.
Aus dem Konstruktivismus in den Kulturwissenschaften wird eine dominante politische Ideologie

Hinter solchen Entgrenzungen steht nach Furedi nicht zuletzt eine Haltung, die feste Grenzen generell in Frage stellt. Für viele Kultur- und Sozialwissenschaftler ist heute jede soziale Identität nur eine reine Konstruktion und bleibt daher auch immer irgendwie fluide und hybrid, also eine Mischung aus unterschiedlichen sehr heterogenen Elementen. Niemand z. B. ist in dieser Perspektive nur Mann und nicht auch ein Stück weit Frau. Viele Kulturwissenschaftler sehen, wie Furedi hervorhebt, alle binären Gegensätze schon grundsätzlich als konzeptionell falsch und potentiell diskriminierend an, weil dadurch Menschen genötigt werden, sich Identitätsmustern zu unterwerfen, die nicht wirklich zu ihnen passen, die sie einengen, aber auch, weil ein Teil des Gegensatzpaares unter Umständen besser bewertet wird als sein Gegenstück. Mittlerweile hat dieser im akademischen Bereich weit verbreitete Konstruktivismus freilich auch Einfluss auf die Politik gewonnen und in manchen Ländern macht man mit der Strafjustiz Bekanntschaft, wenn man Personen z. B. mit Pronomen anredet, die ihnen unterstellen, männlich oder weiblich zu sein, statt einem dritten oder ganz unbestimmten Geschlecht anzugehören. 

Eine grenzenlose politische Ordnung als postdemokratisches Imperium?

Nun könnte man meinen, dass diese Verflüssigung von Grenzen, die Menschen weniger stark als früher auf feste, oft von außen zugeschriebene Identitäten festlegt, eine Gesellschaft schafft, die in der Tat offener, toleranter und „diverser“ ist. Dass sind ja auch die Parolen, mit denen eine solche Politik vorangetrieben wird, die aus der Sicht ihrer Befürworter freilich nur dann vollendet werden kann, wenn auch die Unterscheidung zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern aufgehoben wird, wenn es also keine Nationalstaaten mit festen Grenzen mehr gibt. Für eine solche Politik haben sich in Deutschland vor allem der Philosoph Jürgen Habermas und der 2015 verstorbene Soziologe Ulrich Beck eingesetzt, die Furedi ausdrücklich nennt. Beiden ging es dabei nicht nur um jene „Weltoffenheit“, die unsere große Bundeskanzlerin zu ihrem unverkennbaren Markenzeichen gemacht hat, sondern auch darum, einer – vermeintlich – aufgeklärten Elite einen Vorteil gegenüber einem „unaufgeklärten“ nationalen Wahlvolk zu verschaffen, das ja auch einmal für eher konservative Politikoptionen stimmen könnte. Indem man den Nationalstaat aushebelt, hebelt man auch das Mehrheitsprinzip aus, denn die Weltgesellschaft lässt sich nicht als Demokratie organisieren oder überhaupt als handlungsfähige Gemeinschaft und in supranationalen Organisationen gelten bei Entscheidungen oft postdemokratische, meist recht intransparente Verfahrensregeln, wie etwa in der EU, was Autoren wie Habermas und Beck vermutlich heimlich stets als großen Vorteil gesehen haben. 

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Im Grunde genommen sollen Staaten, hinter denen ein klar definiertes Staatsvolk steht, durch ein Imperium ersetzt werden, wie es der belgische EU-Politiker Guy Verhofstadt, ein besonders fanatischer EU-Zentralisierer, und der französische Finanzminister Bruno Le Maire auch ganz offen gefordert haben. Was unterscheidet Imperien von Staaten? Sie haben z. B. in der Regel keine klaren Grenzen, sondern nur vage Grenzzonen, sind auch vielfach auf permanente Expansion angelegt, jedenfalls vor der Dekadenzphase, und hinter ihnen steht kein wie immer geartetes Staatsvolk. Getragen werden sie stattdessen eher von transnationalen Eliten wie z. B. einst das spanische Weltreich im 16. und 17. Jahrhundert oder die Habsburgermonarchie zwischen 1526 und ihrem Untergang 1918. So stellen sich mutatis mutandis Politiker wie der fatale Verhofstadt, aber auch Philosophen wie Habermas wohl auch die Zukunft Europas vor, nur dass es heute kein kosmopolitischer und polyglotter Hochadel wäre, der den Kurs vorgibt, sondern die Elite der „anywheres“, die überall und nirgends zu Hause sind, und sich den Menschen, die eine stärkere Bindung an eine wie immer definierte Heimat besitzen, unendlich überlegen fühlen.
Menschen brauchen Orientierung, die nur Grenzen bieten können

Das Problem ist freilich, so Furedi, dass Menschen Grenzen brauchen, um ihr Leben zu organisieren, und das gilt für Grenzen im Raum, territoriale Grenzen, aber unter Umständen auch für Grenzen z. B. zwischen sakralen und profanen Räumen genauso wie für Grenzen zwischen den Geschlechtern. Werden diese Grenzen brüchig oder verschwinden sie, fällt es dem Menschen, einem Lebewesen ohne stark ausgebildete Instinkte, schwer, sich überhaupt noch in seiner sozialen Umwelt zu orientieren, er entwickelt Symptome einer Identitätskrise. Oder wie Furedi es formuliert: „Western society’s estrangement from borders is not an enlightened step forward rather it expresses a self-destructive sensibility of estrangement from the conventional sign posts that guide everyday life.“ („Dass westliche Gesellschaften sich von der Idee von Grenzen entfernt haben, ist nicht ein Schritt zu einem aufgeklärten Fortschritt, es drückt vielmehr eine selbstzerstörerische Mentalität aus, der die konventionellen Wegmarkierungen, die unser Leben im Alltag bestimmen, fremd geworden sind.“) 

Weil es in einer grenzenlosen Gesellschaft keine festgefügten sozialen Identitäten mehr geben darf, die durch Eigenschaften stabilisiert werden, die vorgegeben sind, wie Alter oder Geschlecht, werden Menschen orientierungslos, und umso wichtiger werden für sie kulturelle Ressourcen, die sie nutzen können, um sich irgendwie eine je eigene Identität zu konstruieren und die sie deshalb eisern gegen andere verteidigen. Deshalb, so Furedi, der ganz neue Kampf gegen das, was man „cultural appropriation“ nennt, die Aneignung von kulturellen Praktiken und Symbolen, die zu einer fremden Kultur gehören, wenn sich z. B. ein Weißer „dreadlocks“ frisieren lässt, sich im Fasching als Mexikaner verkleidet, oder, noch schlimmer, wagt, mit dem Anspruch auf Autorität über Probleme zu sprechen, die vor allem Schwarze oder Latinos, also nicht seine eigene Identitätsgruppe betreffen. In den Vereinigten Staaten hat dieser Kampf gegen cultural appropriation mittlerweile wie vieles, was zur neuen „woke-culture“ gehört, absurde Dimensionen angenommen, ein Phänomen, das man nach Furedi nur versteht, wenn man den zerstörerischen Effekt des Wegfalls symbolischer Grenzen in der Gesellschaft berücksichtigt.

Der Kampf gegen die Feinde der Grenzenlosigkeit als letzte Grenzsetzung einer Gesellschaft der radikalen Offenheit

Hinzu kommt eine neuen Ideologie der freilich selektiven Liberalität und Permissivität. Auch noch die bizarrsten Lebensstile sollen dem kritischen Urteil vollständig entzogen sein mit der Ausnahme freilich von Lebensentwürfen, die sich gegen die Ideologie der Offenheit, Diversität und Grenzenlosigkeit selber richten. Wer solche Positionen vertritt, bekommt den geballten Zorn der neuen Sittenwächter zu spüren. Von daher werden durchaus neue Grenzen gezogen, nur die Menschen, die durch sie von einander getrennt werden, können anders als früher gar nicht mehr zusammenleben, weil sie per definitionem Feinde sind, zwischen denen nie wirklich Frieden herrschen kann. Wie eine Gesellschaft aussieht, die so konstruiert ist, kann man recht deutlich in den USA sehen.

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Furedi räumt freilich ein, dass der Zusammenhang zwischen der Forderung nach einer Aufhebung territorialer, nationaler Grenzen und der Kampf gegen symbolische Grenzen und Dichotomien in einer gegebenen Gesellschaft nicht logisch miteinander zusammenhängen. Man kann die beiden Positionen unabhängig voneinander vertreten. Richtig ist dennoch, dass besonders im akademischen Milieu, in den Medien und in der Politik es oft dieselben Protagonisten sind, die genau diese Positionen in all ihren verschiedenen Aspekten vertreten. Sie wollen letzten Endes einen neuen Menschen schaffen, der nicht mehr Bürger mit der Kompetenz zur Mitbestimmung, sondern allenfalls Weltbürger ohne klare Rechte ist, der je nach dem, wie er sich in einem Moment fühlt, sich als Frau oder Mann, als Jung oder Alt und vieles andere mehr identifizieren kann in einer Welt, in der es für solche Optionen keinerlei Grenzen gibt, solange man nicht gerade in eine Rolle schlüpft, die einer ethnischen Minderheit oder anderweitig „unterdrückten“ Gruppen vorbehalten ist. 

Dass dieses faktisch utopische Experiment scheitern wird, wie viele andere ähnlich ambitionierte Experimente in der Vergangenheit, ist nur allzu wahrscheinlich. Der Ultraliberalismus, der das Experiment vorantreibt, könnte aber auch als notwendige Ideologie einer Gesellschaft verstanden werden, der jedes Gespür für das Sakrale oder Transzendente verloren gegangen ist, und in der der Mensch dann in der Tat in jedem Moment sein eigener Schöpfer ist und sich voraussetzungslos jederzeit neu erfinden kann, auch wenn das ein Aspekt ist, der bei Furedi nicht wirklich näher beleuchtet wird. Aber es ist klar, dass die ordnenden symbolischen Grenzen innerhalb einer Gesellschaft, deren Verschwinden er beklagt, oft eine sakrale Dimension besaßen oder religiös legitimiert waren.

Zuzustimmen ist ihm jedoch, wenn er darauf hinweist, dass in einer Gesellschaft ohne Grenzen es unmöglich wird, sich auf Konventionen und Gewohnheiten im Umgang mit seinen Mitmenschen zu verlassen. Jede soziale Beziehung muss ständig neu ausgehandelt werden und zwar in einem geregelten Verfahren, dessen Normen im Zweifelsfall vom Staat festgelegt werden und deren Verletzung strafrechtliche Konsequenzen haben kann. Kann eine Gesellschaft funktionieren, in der es kaum noch stillschweigend von den meisten anerkannte moralische Konventionen, dafür aber umso mehr komplexe und detaillierte Verfahrensregeln gibt, die auch das Privatleben, etwa die Beziehung zwischen den Geschlechtern, regeln, während umgekehrt ein Horizont gemeinsamer Wertvorstellungen (außer der radikalen Offenheit) und symbolischer Bedeutungssysteme fehlt, der die Gesellschaft zusammenhält? Hier sind Zweifel angebracht, aber vermutlich muss auch dieses Experiment, einen neuen Menschen zu schaffen, ähnlich wie zuvor der Kommunismus erst in eine offensichtliche Katastrophe führen, bevor es aufgegeben wird. Das ist umso wahrscheinlicher, weil heute in Westeuropa politisch relevante intellektuelle Eliten, die sich dem Experiment der grenzenlosen Gesellschaft entgegenstellen könnten, weitgehend fehlen. Von daher wird die Stimme Furedis unter Umständen die des einsamen Rufers in der Wüste bleiben.


Frank Furedi, Why Borders Matter: Why Humanity Must Relearn the Art of Drawing Boundaries, London, Routledge 2020.

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