Tichys Einblick
Wir erleben in der Tat eine Zeitenwende

Dieter Nuhr: »Ich sehe unsere Demokratie als massiv gefährdet an«

Eine kleine Gruppe radikaler Anhänger von Theorien wie strukturellem Rassismus, Postkolonialismus, Sexismus ist heute in der Lage, Meinungsöffentlichkeit massiv zu manipulieren. Schulers Diagnose einer «Generation Gleichschritt», die wir uns auf diese Weise herangezogen haben, ist darum ebenso treffend wie alarmierend.

Meinungsfreiheit ist ein seltsam unfassbares Gut. Sie kann niemals absolut sein: Die «Meinung», es hätte keinen Holocaust gegeben, ist zu Recht verboten. Auch wenn wissenschaftliche Wahrheiten im Sinne des Positivismus nie bewiesen werden können (Karl Popper), müssen wir annehmen, es gäbe sie. Anders geht es nicht. Den Holocaust gab es, seine Leugnung wird zu Recht bestraft.

Wo beginnt nun die abweichende Meinung, die wir aushalten müssen? Sind echte Klimawandelleugner oder Verschwörungstheoretiker, die behaupten, die USA hätten 9/11 selbst inszeniert, zu tolerieren? Es ist problematisch, hier festzulegen, wo die Grenzen zu ziehen sind.

Wer Mitte 2020 laut darüber nachdachte, ob das Coronavirus nicht vielleicht einem chinesischen Labor entwichen sein könnte, wurde als Verschwörungsfreak und seine Meinung als abwegig bis irre abgetan. Nur ein Jahr später galt diese vermeintlich nicht zu hinterfragende Wahrheit plötzlich unter Wissenschaftlern als denkbar.

Wie konnte es sein, dass etwas vehement als absurd abgekanzelt wurde, das eigentlich logisch klingt? Ein Hochsicherheitslabor, das a) offenbar zu den wenigen Orten auf der Welt gehörte, an denen man mit Coronaviren experimentierte, und das b) wenige Meter von einem Wildtiermarkt entfernt lag, als möglicher Ausgangspunkt von Corona.

Der Ursprung des Virus ist bis heute ungeklärt. Dennoch: Hier zeigt sich, dass bei uns unterdessen auch Gedanken als verrückt abgetan werden, die dem gesunden Menschenverstand keineswegs abwegig erscheinen.

Welche Macht haben wir, eine solche – entschuldigen Sie bitte – Massenidiotie zu unterbinden? Wir erleben heute in der Shitstorm-Kultur, dass es keine Konkurrenz der Meinungen mehr gibt, sondern nur noch gegenseitige Versuche des Ausschlusses: Meinung, Wahrheit und Wahnsinn verschwimmen. Die Diskussionskultur ist in bedenklichem Zustand, wenn überhaupt noch vorhanden.

Ich freue mich deshalb, dass Ralf Schuler in seinem neuen Buch den Mechanismen nachgeht, die heute bei dieser Einengung der freien Meinungsäußerung angewendet werden und den Gleichschritt im Denken und Reden begünstigen.

Das neue Buch eines Unbestechlichen
Schuler schert aus, wo die Wokeness im Gleichschritt marschiert
In den Meinungsblasen der Gegenwart gilt der konstruktive Austausch mit Andersdenkenden zunehmend als Haltungsschwäche. Innerhalb der eigenen Blase versichert man sich gegenseitig, dass die andere Seite entweder dumm oder böse ist. Radikale rufen zur Vernichtung auf. Massenhaft wird Häme verbreitet, Memes haben eine enorme Meinungsmacht. Zu einem Austausch von Argumenten kommt es in der Regel nur noch selten.

Gerade die Blase meiner Berufskollegen beweist, dass daraus teilweise eine Art Gleichschaltung folgt, die kaum noch zu durchbrechen ist: Es werden Meinungskorridore festgelegt, deren Verlassen sofortigen Ausschluss bedeutet. Ich gelte unter den klassisch linken Kabarettisten als schwarzes Schaf. Die politische Kabarettsendung «Die Anstalt» arbeitet sich regelmäßig an mir ab – wenig erfolgreich, Gott sei Dank. Doch: Wer in meiner Sendung zu Gast war, hat mit beruflichen Benachteiligungen woanders zu rechnen.

Trotzdem nimmt die Anzahl der Kollegen, die gerne zu Nuhr im Ersten kommen würden, gerade zu. So ist zumindest mein Eindruck, ich führe da keine Statistik. Offenbar wird die Einengung der Gedankenvielfalt zunehmend als unangenehm erachtet, und es trifft immer öfter auch die Gutwilligen …

Sendungen von Kollegen spiegeln häufig nur noch die vorhersehbaren Standpunkte einer Linken, die sich in ihrer Illiberalität kaum noch von der extremen Rechten unterscheidet. Es ist wenig überraschend, dass Wähler von der extremen Linken nahtlos zur extremen Rechten wechseln und (momentan eher selten) umgekehrt – eint doch beide die Ablehnung des Kompromisses als Ergebnis demokratischer Entscheidungsfindung, die Ablehnung parlamentarischer Riten als Quasselei, der Hass auf Andersdenkende, die Missachtung von Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft und das Einkalkulieren der Dummheit der Masse, die man, abwertend gemeint, «Mainstream» nennt.

Ralf Schuler gelingt es auf beeindruckende Art und Weise, auch die unguten Mechanismen in den Medien, die hierbei eine Rolle spielen, an Fallbeispielen zu belegen. Das ist umso erstaunlicher, weil Medien ihren eigenen Herrschaftsbereich ungern zum Thema machen. Ralf Schuler kennt sich aus, denn er war lange genug mittendrin im Zentrum der journalistischen Machtzentralen.

Er erinnert an das Neutralitätsgebot für Journalisten und zeigt auf, wie sich die mediale Meinung schleichend, aber kontinuierlich immer weiter auf die linke Seite des Spielfeldes verschoben hat. Interessant ist, dass bereits die Feststellung, die Meinungsfreiheit sei gefährdet, heute schon als rechter Standpunkt gilt. Man wird von selbst ernannten Linksliberalen sogleich ins rechtspopulistische Lager gesteckt … Hier hat sich der Begriff der Liberalität ins Absurde verkehrt.

Abdel-Samad fordert ein Ende der Tribunale
»Rassismus ist (k)ein Privileg der Weißen«
Man darf sich fragen, wo diese Absurdität ihren Anfang genommen hat. Für mich steht das Umdefinieren von Begriffen durch Minderheiten im Zentrum der gesellschaftlichen Ausgrenzung. Nur ein Beispiel: Als «Rassismus» galt mein Leben lang die Diskriminierung von Menschen aufgrund von Hautfarbe oder Ethnie. Heute gilt es als Rassismus – so zu lesen im FAZ-Feuilleton –, wenn Weiße sich so verhalten, dass sich Nichtweiße unwohl fühlen. Mit anderen Worten: Jede Kritik an Schwarzen ist Rassismus. Daraus folgt: Nur Weiße können Rassisten sein. Wenn ich also im Senegal aufgrund meiner Hautfarbe angegriffen werde, ist dies eine vielleicht kritisch zu betrachtende, aber im Wesentlichen verständliche Reaktion auf meine Zugehörigkeit zur Gruppe der Kolonialisten, die sich an meiner Hautfarbe festmacht. Wahnsinn.

In Buchtiteln wie «Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen» wird Menschen eine Haltung nach Hautfarbe zugeordnet, gefeiert von Menschen, die sich für Antirassisten halten. Man könnte dies als umgekehrten Rassismus werten, darf man aber nicht, weil nach neuer Definition nur Weiße Rassisten sein können. Wer sich der neuen Definition nicht anschließt, ist ebenfalls bereits Rassist. Im Prinzip gilt heute jeder Weiße, der sich dem Vorwurf des Rassismus widersetzt, als Rassist. So wird durch die Umdeutung der Begriffe jeder Widerspruch ausgegrenzt.

Mit der Etikettierung von Menschen nach Hautfarbe soll die Diskurshoheit den Nichtweißen zugeordnet werden. Ich halte dies für ein gutes Beispiel dafür, wie Minderheiten durch moralisches Framing und Umdefinieren von Begriffen versuchen, Macht über die Sprache zu erlangen und Kritik an ihren Forderungen abzuwerten – in diesem Fall als Rassismus. Der entsprechende Shitstorm, den ich bekam, weil ich darauf hinwies, dass ich Hautfarbe nicht für ein geeignetes Mittel der Kategorisierung von Menschen und Meinungen halte, war beträchtlich. Ich bin daran gewöhnt. Andere ziehen sich zurück und schließen ihre Social-Media-Accounts. So gewinnen Radikale die Diskurshoheit.

Wenn man die aktuellen Umfragen sieht, dann fühlt sich offenbar eine Mehrheit der Bevölkerung in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt. Hier sollten die Alarmglocken klingeln. Oder wie es Kurt Tucholsky ausdrückte: «Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig.» Die Einschränkung der Freiheit wird bei uns nicht von Staatsseite aus betrieben, sondern durch im Framing geschulte Minderheiten, die in der Lage sind, Shitstorms zu erzeugen und Meinungstendenzen durch Einführung von manipulativen Begriffen zu lenken.

Der Begriff «Gendergerechtigkeit» beispielsweise, heute weitgehend kritiklos auch von Konservativen in die Sprache integriert, suggeriert, dass nicht gegenderte Sprache Ungerechtigkeit manifestiert, ja sogar erst entstehen lässt. Im Wesentlichen aber dient Gendersprache nicht der Herstellung von Gerechtigkeit, sondern der Manipulation.

Wenn heute über das Verhältnis der Geschlechter diskutiert wird, soll das Gendern die Unterwerfung unter vermeintlich gerechte Normen sicht- und hörbar machen. Es wird von Sprechenden verlangt, eine Sprache zu verwenden, die Unterwerfung unter die vermeintlich gerechte Norm signalisiert. Wer darauf beharrt, weiterhin die Sprache zu verwenden, die seit den ersten Lebenstagen tief im Unterbewussten als Teil seiner Persönlichkeit verankert ist, muss sich den Vorwurf, ungerecht zu sprechen, gefallen lassen.

Kritik am linken Neusprech als Denkaufgabe
Roger Scruton kritisiert die Meisterdenker des Marxismus
Sprache dient Gender-Befürwortern dabei zur Kennzeichnung von Gesinnung. Dies ist ein klassisches Merkmal totalitärer Systeme. Verweigerung wird sozial abgestraft. Dies hat dazu geführt, dass sich Gendersprache inzwischen zumindest im offiziellen Schriftverkehr weitgehend durchgesetzt hat, gegen den Willen der breiten Bevölkerungsmehrheit. Firmen passen sich oft gegen den Willen ihrer Mitarbeiter und Kunden an, aus Angst vor Shitstorms, Boykottdrohungen oder anderen unangenehmen Konsequenzen. Da sieht man, wie wirkmächtig die Manipulatoren in unserer Gesellschaft sind.

Die analogen Medien wirken da oft wie Opfer ohne eigene Beteiligung, sie übernehmen unkritisch das Framing. Die Shitstormkultur kann – verstärkt durch die Inkompetenz unseres schlecht bezahlten und dementsprechend zunehmend niveauarmen regionalen Clickbait-Journalismus – die Internetblase verlassen. Einzelpersonen werden nach Belieben und oft auch beliebig stigmatisiert. Täter ist nicht der Staat, sondern in der Regel gut organisierte und nicht selten vom Staat alimentierte Minderheiten. Die Demokratie, deren zentrales Ziel das Finden von Mehrheitskompromissen ist, wird so auf Dauer ausgehebelt.

Eine kleine Gruppe radikaler Anhänger von Theorien wie strukturellem Rassismus, Postkolonialismus, Sexismus ist heute in der Lage, Meinungsöffentlichkeit massiv zu manipulieren. Auch radikale Rechte haben ein großes Mobilisierungspotenzial über die sozialen Medien, ihnen fehlt aber die Machtperspektive. Die ist bei den Linksidentitären gegeben, nicht nur durch direkte persönliche Nähe zur Macht, sondern auch durch ihre Präsenz in Medien, Kultur und im Hochschulbereich. Schulers Diagnose einer «Generation Gleichschritt», die wir uns auf diese Weise herangezogen haben, ist darum ebenso treffend wie alarmierend.

Ich sehe unsere Demokratie, deren Grundlage die nüchterne Diskussion unterschiedlicher Interessen und das Herbeiführen von Kompromissen ist, insofern als massiv gefährdet an. Wir erleben in der Tat eine Zeitenwende. Und ich bin aus den oben aufgeführten Gründen wenig optimistisch, dass unsere Medien diesen Wandel mit der gebotenen Objektivität begleiten…


Dieser Beitrag von Dieter Nuhr erschien als Einleitung in:
Ralf Schuler, Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde. Fontis-Verlag, Hardcover, Lesebändchen, 208 Seiten, 22,90 €.


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