Tichys Einblick
Auf Leben und Tod

»Die Wahrheit währt ewig, weil sie wie Gott selbst ewig und allmächtig ist«

Der Krieg hat seit der französischen Revolution sein wahres Gesicht als reine Machtausübung über das Denken, Sprechen und Handeln enthüllt. Im „Angesicht der Apokalypse“ gibt einzig die Versöhnung mit Gott Hoffnung. Von Gerhard Kardinal Müller

Wer meinte, das berühmte Buch „Vom Kriege“ des preußischen Generalmajors Carl von Clausewitz sei nur für Militärstrategen von Interesse, sieht sich nach der Lektüre der Gespräche des genialen französischamerikanischen Kulturanthropologen René Girard mit dem französischen Essayisten Benoît Chantre, „Im Angesicht der Apokalypse. Clausewitz zu Ende denken“, eines Besseren belehrt.

Girard setzt radikal an und versteht Clausewitz als Philosophen, der erstmals die völlig neue Dimension des Krieges seit dem Auftreten Napoleons erahnt hat, die den Krieg nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern als den Selbstzweck absoluter Macht versteht.

Die Standarddefinition des „Krieges als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ bleibt bei der naiven Annahme stehen, dass sich mit der „Demokratisierung des Krieges“ (Volksheer, allgemeine Wehrpflicht, totale Mobilmachung aller Mittel des Staates, Einsatz von Massenvernichtungswaffen) die zerstörerische Wirkung des Krieges nur quantitativ ausgeweitet, aber keineswegs seine ganze Natur geändert habe. In Wirklichkeit führt der Weg folgerichtig vom absoluten Krieg der Revolutionsheere und der Napoleonischen Grande Armée mit allen militärischen, lügenpropagandistischen und ökonomischen Mitteln (Kontinentalsperre gegen England) konsequent zum Begriff des „totalen Kriegs“ (Ludendorff, Goebbels), zu seiner Verwirklichung im Zweiten Weltkrieg und schließlich zum Kalten Krieg der Supermächte, der mit jedem Moment in die atomare Selbstvernichtung der ganzen Menschheit umschlagen kann (Kubakrise).

Das ist die scharfsichtige Erfassung des wirklichen Wesens des modernen Krieges in seinem apokalyptischen Ausmaß: „… der Krieg ist ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen; so gibt jeder dem anderen das Gesetz, es entsteht eine Wechselwirkung, die dem Begriff nach zum äußersten führen muss.“

Das Gehen bis zum Äußersten der wechselseitigen Totalvernichtung oder dem götterdämmernden Untergang des eigenen Volkes, um dem Gegner keinen Endsieg zu gönnen, das ist das Wesen des modernen Krieges von Napoleon über Ludendorff bis Hitler und den größenwahnsinnigen Potentaten von heute, die lieber die ganze Welt vernichtet sehen, als sich „eine Welt ohne Russland“ vorzustellen.

Ein Kompass durch verwirrte Zeiten
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Clausewitz war der Zeitgenosse Hegels, der in Napoleon den „Weltgeist zu Pferde“ sah, der auch durch die Zerstörung hindurch noch die Totalität des Weltprozesses seinem Endzweck zuführt, während Hölderlin sich angesichts der unheilbaren Zerrissenheit der Welt zwischen Wahrheit und Gewalt in die fast 40-jährigen Schweigeexerzitien in seinem Tübinger Turmzimmer zurückzog. Clausewitz sah quasi im Geist seiner Militärreligion in Napoleon den „Kriegsgott“, den er zugleich bewunderte und hasste. Der von ihm ausgelöste französisch-preußische Wettlauf der wechselseitigen Nachahmung und Überbietung in vernichtender Gewalt und Demütigung (Jena 1806, Waterloo 1815, Versailles 1871, Weltkrieg 1914–18, französischer Zusammenbruch 1940, Einmarsch an alliierter Seite in Süd- und Westdeutschland 1945) hat trotz der endgültigen Versöhnung im Jahr 1962 zwischen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer letztendlich die geistigen und materiellen Kräfte des karolingischen Kerneuropas erschöpft.

Das ist also die zukunftsweisende Folgerung aus den totalen Umwälzungen der französischen Revolution, dass der Krieg nicht mehr wie bei den alten aristokratischen Auseinandersetzungen nur der Erweiterung des eigenen Machtbereiches dient. Der Krieg ist zum Zweck an sich geworden. Zur gewissenlos eingesetzten Methode eines ideologischen Führers zur Erlangung absoluter und totalitärer Herrschaft über die ganze Welt. Der Krieg enthüllt damit sein wahres Gesicht als reine Machtausübung über das Denken, Sprechen und Handeln. Als ideologischer Bürgerkrieg unterhöhlt er auch die liberalen Demokratien, wenn alle Macht in den Medien, den drei staatlichen Gewalten und den Finanzen kollektiv gebündelt werden. Girard hatte als Kulturphilosoph nach dem Ursprung der Gewalt am Beginn der Hominisation gefragt. Gewalt ist offensichtlich nicht der Rest des Aggressionspotenzials unserer tierischen Ahnen, sondern ergibt sich aus der Erfahrung des Andersseins des anderen, trotz der Gleichheit im Menschsein. Zwar ist der Mensch ein soziales Wesen, aber weil er nur teilhaben kann an der Gemeinschaft, in die er hineinwächst, besteht der Zwang, den anderen (mimetisch) nachzuahmen, zu überbieten oder über ihn zu triumphieren: ihn zu demütigen, zu versklaven oder zu vernichten.

Zweikampf des Menschen gegen seinesgleichen

Mit der Ursünde, nämlich sein zu wollen wie sein Schöpfer, hat der Mensch die Unschuld verloren, die sich als mörderische Zwangshandlung urtypisch im Mord Kains an seinem Bruder Abel darstellt. Der Krieg ist im Prinzip also der Zweikampf des Menschen gegen seinesgleichen um Leben und Tod.

Das lässt sich aktuell leicht zeigen am Krieg von Putins Russland gegen sein ukrainisches „Brudervolk“, das vor der Alternative steht, sich auf Gedeih und Verderb dessen absoluter Kontrolle zu unterwerfen oder vernichtet zu werden. Wobei ihm mit allen Mitteln gedroht wird, auch mit einem Atomkrieg, der die mögliche Vernichtung der Menschheit einschließt. Dass wir es hier nicht mit den Kabinettskriegen des 18.  Jahrhunderts zu tun haben, sondern mit dem nachnapoleonischen totalen Krieg, zeigt sich auch darin, dass man bereit ist, eine Hungerkatastrophe in Afrika herbeizuführen, um durch eine beschleunigte Immigration Europa als Unterstützungsmacht der Ukraine zu ruinieren und dadurch die ganz Menschheit in ein tödliches Ungleichgewicht zu bringen.

Kompetente, faire und kritische Darstellung
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Wo aber kommt in der „Gefahr das Rettende auch“  – wie Hölderlin in seinem Gedicht „Patmos“ sagt? Girards Buch enthält keine hellseherische Zukunftsprognose, sondern eine Apokalypse, die in biblischer Prophetie nicht den katastrophalen Untergang, sondern den Sieg Gottes über die Gewalt verkündet. Politik und Diplomatie, rationalistischer Optimismus oder pessimistische Fantasien vom Weltuntergang, ethische Programme mit der forcierten Erziehung zum Frieden und feierliche Appelle religiöser und humanistischer Sonntagsredner können „die Gewalt nicht im Geringsten mehr zügeln“, allenfalls die Apokalypse noch etwas hinausschieben. Selbst die totale Herrschaft einer einzigen Weltregierung kann die Gewalt nicht zähmen, die mit der Unerlöstheit des Menschen vom Anfang her immer wieder aufbricht und sich steigert.

Die einzige Überwindung der Gewalt durch Gewaltlosigkeit, die Durchbrechung der Spirale wechselseitig sich aufschaukelnder Gewalt, die Millionen unschuldiger Opfer zum Sündenbock einer zeitweisen Befriedung machte, geschah in der Übernahme der Schuld durch Gott selbst, in seinem Sohn, dessen Kreuzestod von Seiten der Menschen Lynch- und Justizmord war und von Seiten Christi das freiwillige Leiden des Gottesknechtes ist (Jes  53). Darin ereignete sich die Versöhnung der Menschen mit Gott. Und es tat sich die Möglichkeit des friedlichen Zusammenseins der Menschen miteinander auf. Theologisch spricht man von der Communio Gottes mit den Menschen, die in der „Kirche Christi als Sakrament des Heils der Welt“ beginnen soll.

Der große französische Mathematiker, Physiker und Religionsphilosoph Blaise Pascal hat im zwölften seiner „Briefe in die Provinz“ vom weltgeschichtlichen Kampf gesprochen, in dem die Gewalt die Wahrheit zu unterdrücken sucht. Bei seinem Prozess steht in Jesus die Wahrheit, „die uns frei macht“ (Joh  8,32), gegen die niederdrückende imperiale Gewalt in der Figur des Pilatus. Jesu Königtum, seine göttliche Macht, ist nicht von dieser Welt. Aber er verfügt, anders als Pilatus, über die göttliche und versöhnende Macht, die aus der Wahrheit kommt (Joh 18,33–38).

In der katastrophalen Situation der Welt von heute stellen Girard und Chantre ihrem Dialog „Im Angesicht der Apokalypse“ dieses Wort Blaise Pascals hinsichtlich des Entscheidungskampfs zwischen der Gewalt und der Wahrheit voran: „Es besteht zwischen ihnen vielmehr die große Verschiedenheit, dass die Gewalt nur begrenzte Dauer hat, da Gottes Ordnung ihre Wirkungen zum Ruhme der angegriffenen Wahrheit lenkt, während die Wahrheit ewig währt und schließlich den Sieg über ihre Feinde davonträgt, weil sie wie Gott selber ewig und allmächtig ist.“

René Girard, Im Angesicht der Apokalypse. Clausewitz zu Ende denken. Gespräche mit Benoît Chantre. Matthes & Seitz, 388 Seiten, 39,90 €.
(Zu unserem Bedauern ist das Werk nicht im TE Shop verfügbar.)


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