Tichys Einblick
Ausscheren unerwünscht

Die öffentliche Debatte marschiert immer häufiger im mentalen Gleichschritt

„Schuler wird’s zu bunt“, lautet eine Schlagzeile, als bekannt wird, dass der langjährige Leiter des Parlamentsbüros der BILD in Berlin kündigt. Im Kniefall vor der Regenbogenfahne erkennt Ralf Schuler zwar ein schwerwiegendes Symptom, aber keineswegs das Zentrum der Krise, die auch in den Debatten um den Ukraine-Krieg, die Migration, den Islam oder Corona deutlich wird.

TE: „Ich bin nicht bereit, für eine politische Bewegung welcher Art auch immer und unter ihrer Flagge zu arbeiten. Das habe ich früher nicht getan und tue ich heute erst recht nicht.“
Starke Worte. Sie schrieb Ralf Schuler, viele Jahre Leiter der Parlamentsredaktion der BILD in Berlin, an den Chef des Axel Springer Verlages, Mathias Döpfner, und kündigte. Jetzt hat er ein neues Buch geschrieben: „Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde“. Herr Schuler, wer marschiert denn da im Gleichschritt und wohin?

Ralf Schuler: Neben dem ironischen Seitenhieb auf Buchtitel, die immer gleich ganze Generationen ausrufen, ging es mir eigentlich darum, beides klarzumachen: einerseits, dass manche Leute im mentalen Gleichschritt laufen und andere es gern hätten, dass man im Gleichschritt mit ihnen und ihrem Denken marschiert.

Zur Genese des Titels gehört, dass für mich der „Gleichschritt“ eine Metapher ist, für die von mir immerhin 24 Lebensjahre erlebte Realität in der DDR. Und der „Gleichschritt“ steht sowohl für die Paraden, aber auch für das gleichgeschaltete Denken im Staatssozialismus, das durch Repression zustande gekommen ist. Was ich im Laufe gerade auch meiner Jahre als politischer Berichterstatter spannend finde ist, wie sich Konformität unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft organisiert. Wenn man nicht gerade finstere Mächte dahinter vermutet, was ich selten beobachtet habe, dann organisiert sich Konformität oft selbst. Ohne dass man genau festmachen könnte warum, senken Menschen die Stimme oder glauben, zu bestimmten Themen nichts mehr sagen zu dürfen oder, dass es besser sei, sich zurückhalten. Die Mechanismen, die dahinter stehen, führen aus meiner Sicht zu einer Art Gleichschritt, einem Phänomen, das dem der staatssozialistischen Zeit ähnelt – aber ohne die Repression, das Autoritäre und die Machtmaschine dieser Zeit. Und das finde ich schon extrem spannend.

Fühlen Sie sich wieder ein wenig zurückversetzt in die DDR?

Das neue Buch eines Unbestechlichen
Schuler schert aus, wo die Wokeness im Gleichschritt marschiert
Mit solchen Vergleichen soll man immer ein bisschen vorsichtig sein, weil sie auch missbraucht werden. Weil natürlich sofort jemand, der mir weniger wohlgesonnen ist, so tut, als würde ich die Freiheit in der Bundesrepublik mit dem gesamten System der DDR vergleichen.

Worum es mir geht, sind eigentlich nur Teilaspekte. Zum Beispiel, es kommen dann Leute, die sagen: „Nicht am Telefon.“ Warum? Was fürchtest du denn? Oder in der Flüchtlingskrise: In der Unionsfraktion klopften Abgeordnete bei kritischen Wortmeldungen unter dem Tisch als Beifallsbezeugung, weil dann vom Präsidium aus nicht zu erkennen war, wer einer kritischen Meinung zustimmt. Also sie wollten schon die Kritiker unterstützen, aber sie wollten nicht dabei erwischt werden. Warum? Das Mandat eines Abgeordneten ist ein Status, der in der Geschichte der Bundesrepublik und überhaupt in der Menschheitsgeschichte, verbunden mit Immunität und allen möglichen Privilegien, so sicher ist wie nichts anderes.

Man muss nicht in Deutschland befürchten, dass man von der Tribüne geführt wird wie beim chinesischen Volkskongress. Also warum diese Zurückhaltung? Warum glauben 70% der Deutschen, dass man nicht zu jedem Thema alles sagen kann, z.B. beim Thema Migration. Bei Corona war es ganz stark, da sagten 62%: Vorsicht, sonst bist du gleich ein Querdenker. Wie funktioniert das? Das fand ich spannend.

Sie konnten das besonders gut bei BILD beobachten. Da waren Sie lange Jahre Parlamentskorrespondent und sind dann gegangen. Warum eigentlich?

Das ist eine längere Geschichte. Es gab eine Intervention im Mai oder Anfang Juni 2022 vom Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner, der sich gegen einen Gastbeitrag wandte. Ein Gastbeitrag, also ohnehin nicht Meinung der Redaktion. Da ging es um 120 Ärzte und Biologen, die geschrieben hatten, dass es zwei biologische Geschlechter gibt. Das sei wissenschaftlich unumstritten. Und sie forderten die öffentlichen Rundfunk- und TV-Anstalten auf, vorzugsweise in Kindersendungen nicht die Trans-Ideologie zu verbreiten, wonach man frei willkürlich sein Geschlecht wählen könne.

Der auslösende Moment war, ein Beitrag in der Sendung mit der Maus, die sich an Vier- bis Neunjährige wendet, in dem ein Mensch sein Geschlecht wechselte und die Reporterin mit empörter Geste darauf reagierte, dass nach dem jetzigen Transsexuellengesetz zwei Gutachten notwendig sind, um den Registereintrag ändern zu können, das fand sie also unziemlich, dass man sich da auch noch rechtfertigen müsse.

Und diese Wissenschaftler haben einfach nur darauf hingewiesen, dass solche Berichte im Kindesalter und im vorpubertären Alter den falschen Eindruck erwecken würden, man könne Lebenskrisen durch Geschlechtswechsel bewältigen, als sei das einfach ein Mittel der Wahl aus einer langen Liste von Möglichkeiten. Sie wiesen darauf hin, dass sie das für nicht förderlich hielten, weil eine Geschlechtsumwandlung in der Regel durch Hormonbehandlung oder irreversible Eingriffe und Operationen vollzogen wird.

Ich fand den Gastbeitrag in der WELT völlig akzeptabel und habe mich gewundert, mit welcher Härte der Vorstandsvorsitzende da reingegrätscht ist, auch öffentlich. Und der Hintergrund war, dass der Springer Verlag bei einer queeren Jobmesse „Sticks & Stones“ ausgeladen worden war, mit Verweis auf diesen Beitrag.

DER PODCAST AM MORGEN
"Generation Gleichschritt“ - Gespräch mit Ralf Schuler - TE-Wecker am 5. Februar 2023
Nun widerstrebt es meinem Temperament schon, wenn mich jemand zu irgendetwas zwingen will oder durch Boykott nötigen will, dann werde ich schon ganz stur. Aber gerade vor dem Hintergrund des hohen Guts der Pressefreiheit habe ich das überhaupt nicht eingesehen. Doch selbst wenn man denn meint, dass so ein Beitrag einen falschen Zungenschlag habe, dann kann man sagen: selbstverständlich muss es möglich sein, so etwas gerade im liberalen Haus von Axel Springer zu veröffentlichen – und dann gerne noch irgendwelche kritischen Anmerkungen dazu machen. Abgesehen davon, dass dieser Gastbeitrag aus meiner Sicht ein völlig unproblematisch war und die Autoren recht hatten.

In der Folgezeit zeigte sich dann, dass das ganze eigentlich einer Konzernpolitik folgt, die der stellvertretende Chefredakteur in einem Rundschreiben so zusammengefasst hat: „Die Marke BILD steht fest an der Seite der LGBTIQ-Bewegung“. Man möge mir das verzeihen – vielleicht ist es mein biografischer Rucksack aus der DDR, den ich vielleicht auch ablegen müsste – aber ich stehe als Journalist nicht fest an der Seite irgendeiner Bewegung, nicht der Klimabewegung, nicht der LGBTIQ-Bewegung, nicht der Gewerkschaftsbewegung.

Mir wurde relativ schnell klar, dass es zu einem essentiellen Bestandteil der Plattformökonomie des Springer Verlags gehört, die immerhin 70% des Geschäfts ausmacht, sich eben auch zur Regenbogenfahne zu bekennen und diese Bewegung in Gänze zu unterstützen.

Wobei ich grundsätzlich immer verfechten würde, dass jeder seinen Lebensentwurf so leben kann, wie er will und solange die Fahne als ein Zeichen von Toleranz und Empathie verstanden wird, habe ich auch gar nichts dagegen. Es

versammeln sich aber eben auch Radikalinskis dahinter, die dafür verantwortlich sind, dass ein Biologen-Vortrag an der Humboldt Uni nicht gehalten werden kann. Oder dass die weltweit bekannte Autorin Joanne K. Rowling bedroht wird und ihr vorgeworfen wird, sie sei transphob, weil sie gesagt hat, menstruierende Personen kann man auch Frau nennen.

Und mit solchen Leuten, die auch ganz offen damit umgehen, dass sie das „heteronormative Weltbild“ überwinden wollen, marschiere ich nicht gemeinsam. Das widerstrebt mir einfach, wie es mir überhaupt widerstrebt, mich hinter Flaggen zu versammeln. Aber das ist eben auch wieder eine persönliche Macke.

Sie beschreiben ja, wie dieser woke Gleichschritt auch im Hause Springer Einzug hält. Wie weit ist er denn gekommen?

Nehmen wir mal die Corona-Politik, wo wir als BILD-Zeitung, weil wir es wagten, die Sinnhaftigkeit bestimmter Maßnahmen in Frage zu stellen, einem Shitstorm unterzogen wurden; das war so ziemlich das Heftigste, was jemals über uns hereingebrochen ist, als wir Herrn Drosten kritisiert haben. Inzwischen weiß man, dass viele Maßnahmen tatsächlich weder zielgenau noch angemessen gewesen sind, dass man sich bei den Schulen geirrt hat. Das war übrigens der Anlass, das Thema Schul- und Kita-Schließung in einem kritischen Beitrag, für den wir furchtbar ins Feuer genommen wurden. Und das macht mir eigentlich eher Sorgen, als die Regenbogen-Geschichte.

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Normalität kann nicht schaden
Hierarchisch geordnete Häuser haben oftmals den Effekt, wenn man so eine brachiale Äußerung von der Konzernspitze hört, dass sich dann in der Belegschaft eine gewisse Anpassung an die Marschroute breitmacht und sich andererseits diejenigen, die das als ihre Agenda betrachten, bestärkt sehen. Das ist ein ganz menschlicher Prozess.

Das führt dann zu solchen Situationen, wie es beispielsweise unlängst im Zusammenhang mit der Vergewaltigung in einem amerikanischen Gefängnis geschehen ist, wo ein sich als Transfrau wähnender Mann Mitinsassen vergewaltigt und geschwängert hat. Darüber wurde ganz nüchtern berichtet, nichts von Alt-Bild mit Wumms und großen Zeilen, sondern ganz nüchtern, klein und auch ganz korrekt. Bis zum Schluss wurde diese Transfrau, die eigentlich ein Mann war, ausweislich der Schwängerung, mit „sie“ angesprochen, also ganz gendersensibel. Doch selbst dafür ist der Chefredakteur öffentlich von der Queer-Community des Springer Verlags auf Twitter angezählt worden: Er solle sich rechtfertigen, das sei transphob und im Grunde genommen, solle er den Beitrag zurückziehen.

Das ist einfach ein ungutes Klima und das passt aus meiner Sicht eben auch nicht zu dem großen Axel Springer Verlag, der immer ein Bollwerk gewesen ist gegen Konformität, gegen Zeitgeist und gegen linke Kampfbewegungen.

Mir ist im Laufe der Zeit klar geworden, dass ich mich immer wieder still in mich hinein ärgern würde. Wie beispielsweise über ein Rundschreiben der  Personalabteilung, die jetzt „People and Culture“ heißt, wo eingangs gefragt wurde: „Welches Geschlecht wurde ihnen bei der Geburt zugewiesen?“

Das ist ein Witz, oder?

Das stand wörtlich da so drin. Und ich habe dann an den großen Verteiler geantwortet, dass ich solchen Unsinn nicht beantworte. Mir wurde nichts zugewiesen. Entweder Sie stellen eine vernünftige Frage oder es gibt keine Antwort. Nur: Was will man machen? Soll ich jetzt in der Folgezeit permanent den internen Rebell spielen und mich ständig mit irgendwelchen Leuten anlegen? Das muss ich ja nicht haben. Und dann habe ich gesagt: Mach ich‘s wie im Osten, da habe ich mich nicht verbogen. Warum soll ich es jetzt tun? Und bin gegangen. Eigentlich eine relativ unspektakuläre Sache.

Gar nicht ganz so unspektakulär, weil Sie ja ein relativ bekannter Parlamentskorrespondent gewesen sind, der eine wichtige Funktion bei BILD erfüllt hatte. Was glauben Sie? Was treibt einen Vorstandsvorsitzenden zu solchen Aktionen? Was steckt dahinter? Der muss ja Gefahr laufen, dass er damit die wirtschaftliche Basis eines so großen Hauses aufs Spiel setzt.

Nein, im Gegenteil. Im Gegenteil. Ich habe auch ein persönliches Gespräch mit Mathias Döpfner gehabt, der sagte, er will Schaden vom Unternehmen abwenden und das Unternehmen von dieser Seite her unangreifbar machen. Es gibt ein ganz gutes Buch von dem Spiegel-Korrespondenten René Pfister, „Ein falsches Wort“ heißt das. Da beschreibt er ganz gut, dass von amerikanischen Universitäten tatsächlich dieser Geist ausgeht, dass die Transbewegung zu unterstützen und deren Agenda umzusetzen ist.

Stellenabbau bei Bild und Welt
Springer-Verlag zieht Geld aus Geschäft in Deutschland ab
Und dieser Geist, der ist gerade in Start-Up-Unternehmen ganz stark verankert, gerade bei Internetplattformen, in einer Szene, in der Springer 70% seines Geschäfts macht. Die Publizistik ist nicht mehr das ganz große Aushängeschild bei Springer, das muss man wissen. Springer hatte „Politico“ übernommen in den Vereinigten Staaten und „Business Insider“ und ist einer der inzwischen relevanten Player in der amerikanischen Medienwelt.

Mathias Döpfner hat gerade gesagt, er wolle einer der größten Verleger in Amerika werden. Und in Interviews ist Döpfner immer wieder danach gefragt worden, ob Springer ein Trans-Problem hätte oder ein „Me Too“-Problem, und so weiter. Also das ist schon für diese Branche ein ganz wichtiges Thema.

Und ich finde, dass da eine krasse Minderheit anfängt, die politische Agenda bestimmen zu wollen. Wie gesagt, die individuelle Lebensweise ist jedem unbenommen. Da kämpfe ich auch gegen jede Diskriminierung. Selbstverständlich. Nur: wenn es dann in den politischen Raum tritt. Wenn man mir Sprachregelungen aufdrängen will. Wenn ich genötigt werde, mit Sternchen oder anderen Zeichen zu schreiben, was ja immer ein Symbol ist für die gesamte Gender-Denkweise und Ideologie dahinter, dann will ich halt nicht mehr mitmachen.

Das Selbstbestimmungs-Gesetz, das die Ampelkoalition jetzt plant, ist ja ein gutes Beispiel, dass es eben den Raum, der individuellen Nichtanfeindung längst verlassen hat und sich in der politischen Arena bewegt. Und da finde ich alles, was die Gemeinschaft betrifft, verhandeln wir in einer Demokratie auf dem Marktplatz des Parlamentarischen, da muss es Rede und Gegenrede geben. Ich sehe nicht ein, dass es irgendeine Berechtigung für dieses Gesetz gibt, wonach man einmal im Jahr sein Geschlecht ändern kann.

Das wollen im Übrigen auch die Transpersonen nicht, sondern sie wollen lediglich in dem von ihnen angestrebten Wunschgeschlecht leben, ohne angefeindet zu werden. Sie wollen sich nicht karnevalesk jedes Jahr gewissermaßen ein neues Geschlecht überziehen. Ich bin gespannt, wie das ausgeht. Das ist doch eigentlich ein ganz normaler demokratischer Prozess. Wenn man da anderer Meinung ist, das müssen auch Bewegungen ertragen, die glauben, weil sie Minderheit und betroffen sind, hätten sie grundsätzlich Recht und ein Anrecht darauf, dass ihre Agenda umgesetzt wird. Ganz so einfach ist es dann doch nicht.

Ich vermute, dass das Gesetz eh nicht aufzuhalten sein wird, aber äußern darf man sich da schon. Und ich sehe dahinter einfach auch eine weiterreichende Agenda. Der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, hat unlängst gesagt: „In der Gesellschaft der Vielen gibt es kein Normal mehr“. Das hält er offensichtlich für eine erstrebenswerte gesellschaftliche Entwicklung. Das sehe ich anders, und das darf ich auch.


Bearbeiteter Auszug des Interviews, das Holger Douglas mit Ralf Schuler geführt hat. Gesendet im TE Wecker vom 5.2.2023 und als Podcast hier in voller Länge zu hören.

Ralf Schuler, Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde. Fontis Verlag, Hardcover, 208 Seiten, 22,90 €.


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