Tichys Einblick
Politpsychologische Mengenlehre

Der Abstand der Massen

Massen machen Geschichte, meinen manche. Als das Virus kam, verschwanden sie. Es begann eine Zeit der reinen Leere - für Fußballstadien und Konzerthäuser, Einkaufszentren und Hotels. Nun kehren sie peu à peu zurück in den öffentlichen Raum. Mit Ungeduld und bisweilen auch mit Unvernunft. Von Ingolf Bossenz

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Für Hegels Bemerkung, großes geschichtliches Geschehen würde sich sozusagen zweimal ereignen, fand Marx den feinsinnigen Zusatz: „Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Ob es sich bei dem hier zu betrachtenden Verhalt um das eine oder das andere Mal handelt, ist derzeit schwer zu entscheiden. Die Rede ist von einem soziologischen Mysterium, dessen furcht- wie ehrfurchtgebietender Faszination Dichter und Denker ebenso erlagen wie Prälaten und Politiker: die Massen.

Menschen sonder Zahl, die immer wieder Richtung und Tempo der Zeitläufte beeinflussen; verehrt und verachtet, umgarnt und umjubelt, bedroht und belogen: Ohne Massen (auch: Volksmassen) weder Religionen noch Revolutionen, weder Weltkriegswahn noch Wirtschaftswunder. Ob als massa damnata des Heiligen Augustinus die zu ewigen Höllenqualen verdammte Masse, ob als von der Idee ergriffene Masse, die Karl Marx zufolge die Theorie zur materiellen Gewalt werden lässt: ohne Masse kein Move. Die Bewegung der Massen wurde besungen und beschworen in Kampfhymnen der Arbeiterklasse wie „Internationale“ oder „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“: Apotheosen der „Verdammten dieser Erde“ und imaginierter „Millionen“, deren Zug „endlos aus Nächtigem quillt“.

Douglas Murrays „Wahnsinn der Massen“
Angriff auf die Kultur des Westens
Der Streit, ob große Massen oder „große“ Menschen (meist Männer) respektive sogenannte Eliten die Weltgeschichte bestimmen, prägte den abendländischen akademischen Diskurs der letzten zweihundert Jahre von Hegel und Hartmann über Heidegger bis Horkheimer und Habermas. Politiker, Philosophen, Psychologen loteten Gründe und Abgründe massengesellschaftlicher Phänomene aus. Bücher wie „Psychologie der Massen“ von Gustave Le Bon (1895), „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ von Sigmund Freud (1921), „Masse und Macht“ von Elias Canetti (1960) fanden ein begieriges und begeistertes Publikum. Besonders in dem 1930 veröffentlichten Klassiker „Der Aufstand der Massen“ des Kulturphilosophen José Ortega y Gasset gerann das obsessive Unbehagen angesichts eines im Gefolge der Bevölkerungsexplosion drohenden Massenzeitalters zu literarischer und intellektueller Brillanz. 90 Jahre später, im Frühjahr 2020 – und hier nun greift die Hegelsche Doppelung – hat eine weltweite Seuche den von dem spanischen Denker verheißenen „Aufstand der Massen“ transformiert in den „Abstand der Massen“.

Vom Albtraum zur Traumblüte

Corona hatte sie alle geleert: Fußballstadien und Kongresshallen, Konzerthäuser und Opernsäle, Bahnhöfe und Flughäfen, Einkaufszentren und Hotelanlagen. Was Ortega 1930 als Albtraum beschrieb, gleicht 2020 nach wenigen Wochen viraler Vollbremsung dem Odeur einer Traumblüte: „Die Städte sind überfüllt mit Menschen, die Häuser mit Mietern, die Hotels mit Gästen, die Züge mit Reisenden, die Cafés mit Besuchern; es gibt zu viele Passanten auf der Straße, zu viele Patienten in den Wartezimmern berühmter Ärzte; Theater und Kinos, wenn sie nicht ganz unzeitgemäß sind, wimmeln von Zuschauern, die Badeorte von Sommerfrischlern.“

Ob Massen die Geschichte machen, mag umstritten sein. Dass ohne Massen keine Geschäfte zu machen sind, ist es nicht. Doch mit den mittlerweile mühsam ausgehandelten Lockerungen lassen sich die Sehnsüchte nach dem einst kochenden Konsumgebrodel nicht ansatzweise stillen. 30 Jahre liegen sie jetzt zurück, die goldenen Zeiten östlichen Massenansturms auf die westliche Warenwelt. Stefan Heym sah damals „eine Horde von Wütigen, die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef“. Damit endeten für den ostdeutschen Schriftsteller „die großen, die erhebenden Momente“ der historischen Veränderungen. Indes: Von einem „Pathos der Distanz“ als Ausdruck vornehmer Überlegenheit, wie es der späte Nietzsche propagierte, kann man angesichts der mittels Markierungen segregierten Supermarktkunden auch heute schwerlich schreiben.

Die Umstände erfordern Abstände

Aber die Umstände erfordern weiterhin Abstände, was wiederum die entsprechenden Zustände zeichnet. Wenn es bei diesen Zuständen zu „mengenhaften Vernunfttrübungen“ kommt, wie sie der deutsch-niederländische Sozialpsychologe Kurt Baschwitz in seinem Buch „Du und die Masse“ (1938/1951) diagnostizierte, ist das angesichts der auch vor Corona diesbezüglich nicht gerade ungetrübten Lage kaum verwunderlich. Dass mit anrührender Banalität beseelte Sätze der Bundeskanzlerin nicht unbedingt von Massen, aber von Massen-Medien exegetisch durchforscht und in nachgerade byzantinischer Verzückung immer wieder zitiert werden, ist ja kein neues Phänomen.

Kanzlerin der Journalistenherzen
Merkel und die Pfauenfederwedler der Macht
Auch die zaghaft bis trotzig und dreist aus der sedierten Sockeldemokratie aufsteigenden Demonstrationsgelüste werden wie gekannt einer dichotomen Diagnose unterzogen. Es mag ja durchaus „eine krude Mischung von Menschen“ (rbb) sein, die sich samstags vor der Berliner Volksbühne versammeln. Aber das gemeinsame Anliegen der „Anhänger des Irrsinns“ („Tagesspiegel“), ihr Demonstrationsrecht (gewaltlos) durchzusetzen, ist legitim   auch, wenn sie in ihrer mutmaßlichen Mehrheit nicht von rein-linker Denkungsart durchströmt scheinen (Was offenbar zum Kalkül der dezidiert linken Organisatoren gehört).

Dazu passt der Vorwurf an Ex-Volksbühnen-Intendant Frank Castorf, er habe „sich ideell zu den Aluhüten und Rechtsradikalen gesellt, die vor seiner früheren Spielstätte, der Volksbühne in Berlin, gegen irgendwie alles demonstrieren“. So die Berliner „taz“ anlässlich eines „Spiegel“-Interviews mit dem Regisseur, in dem dieser den Wunsch formulierte, er möchte sich „von Frau Merkel nicht mit einem weinerlichen Gesicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss. Das beleidigt meine bürgerliche Erziehung.“ Nun, immerhin gehört das öffentliche Händewaschen seit Pontius Pilatus zum Instrumentarium subtil-symbolischer Machtgebärden. Vor dem Griff ins Weihwasserbecken wird indes weiter ausdrücklich gewarnt: Zur Abwendung von Infektionen empfiehlt die Deutsche Bischofskonferenz neben Handkommunion und Verzicht auf Körperkontakt „eine Zurückhaltung bei der Nutzung des Weihwasserbeckens in den Kirchen“.

Unvernunft der großen Zahl

Zurück zum Thema: Als am „Revolutionären 1. Mai“ in Berlin-Kreuzberg der linksradikale Aktivismus, dem Seuchenbann trotzend, in Massen „aus Nächtigem quillt“, ist das für einschlägige Medien kein Anlass für Kritik an „kruder Mischung“ oder „Irrsinn“. Denn laut „taz“ wird die radikale Linke „dringend gebraucht – erst recht, wenn es zu Verteilungskämpfen kommen sollte“. Sind 18 verletzte Polizisten ein Vorgeschmack auf diese Kämpfe? Oder eher ein zu vernachlässigender Kollateralschaden? Schließlich, so das Blatt, gab es „Zeiten, da waren es 500 verletzte BeamtInnen; aber auch die liegen schon über ein Jahrzehnt zurück“. Für das linksextreme Netzwerk „Indymedia Linksunten“ folgt derweil aus der Corona-Krise die drängende Mission, „unseren revolutionären Beitrag zu den Ausbrüchen von Wut, Ärger, Protesten, Plünderungen und Unruhen zu leisten“.

Gleichförmiger Euphemismus in den Medien:
Über eine „Rangelei“ am 1. Mai in Berlin
Berlins Innensenator Andreas Geisel sprach mit Blick auf die Kreuzberger Corona-Kampfgenossen von „geballter Unvernunft“. Laut Polizeipräsidentin Barbara Slowik gibt es immer „eine große Zahl an unvernünftigen Menschen, an Erlebnissuchern, an Menschen, die dann aus der Masse heraus gerne auch mal gegen die Polizei etwas versuchen“. Was ziemlich exakt das Fazit trifft, das Kurt Baschwitz vor über 80 Jahren in „Du und die Masse“ aus Studien und Beobachtungen gezogen hatte: „Bei mengenhaften Vernunfttrübungen offenbart sich keineswegs, dass die Mehrzahl der Beteiligten keinen Verstand besitzen, sondern dass sie das Maß von Verstand, das sie besitzen, ganz oder teilweise verlieren.“

Es ist gleichermaßen Segen und Fluch der Masse, dass sie die Überzeugung des von ihr umschlossenen Einzelnen stärkt, die Überzeugung, auf der Seite der Wahrheit zu wirken. Was durchaus auch für die virtuelle Masse gilt, die immer wieder der Herden- und Hordenmentalität in den sogenannten sozialen wie auch in den redaktionellen Netzwerken erliegt. Verdikte, dass Überzeugungen „gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen“ sind (Nietzsche) oder dass die Mehrheit „der Unsinn“ ist (Schiller), sollte man immer als Variablen mit auf der Rechnung haben. Bei Massen (versammelt oder virtuell) ebenso wie bei Massen-Medien.


Dieser Beitrag von Ingolf Bossenz erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.


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