Tichys Einblick
»Wir waren Raubtiere in Kindergestalt«

Das Wolfsmädchen Ursula und ihre Flucht aus der Hungerhölle

Im eiskalten Februar 1946 fasst die elfjährige Ursula Dorn einen fatalen Entschluss. Sie lässt ihre Familie in den Ruinen Königsbergs zurück, um sich selbst vor dem Hungertod zu retten. Ihre wahre Geschichte steht beispielhaft für das Schicksal der ostpreußischen Wolfskinder – dargestellt aufgrund neuer historischer Quellen und Dokumente

Christian Hardinghaus ein neues Buch veröffentlicht. Es gilt einer 1935 in Königsberg geborenen Frau, die er im Zuge seiner Recherchen zu seinem Buch über Frauen am Ende des II. Weltkrieges persönlich kennenlernte und die großes Vertrauen zu ihm gefasst hat. Ihr, die heute Ursula Dorn heißt, hat er nun ein eigenes Buch gewidmet, weil ihre Biografie jeden Rahmen sprengte: die Geschichte vom „Wolfsmädchen“ Ursula.

Der Historiker und Erfolgsautor Dr. Christian Hardinghaus ist TE-Lesern schon länger ein Begriff. Wir haben mit ihm bereits einige Interviews geführt, etwa zu den Zeitzeuginnen einer „verratenen Generation“ oder über die „verdammte Generation“ von Wehrmachtssoldaten. Vor allem haben wir die mutigen und eindrucksvollen Bücher des Autors über sehr persönliche Einzelschicksale von Wehrmachtssoldaten, Kindersoldaten und „Trümmerfrauen“ vorgestellt (zum Nachlesen sind die Beiträge in diese Besprechung eingefügt). Dass sich Hardinghaus diesen Menschen widmet, ist historisch wertvoll und angesichts einer längst eingesetzten Geschichtsvergessenheit und einer teilweise um sich greifenden Gesichtsklitterung auch aller Ehren wert.

Hardinghaus führte sehr viele und persönliche Gespräche mit Ursula Dorn, die seine Großmutter sein könnte, und er nutzte für seine Recherchen auch deren inzwischen nur noch antiquarisch erhältlichen biographischen Roman „Ich war ein Wolfskind aus Königsberg.“ Dabei sind Gespräche über Kriegstraumata ein psychologisch nicht immer leichtes Unterfangen. Denn als „Flashback“ kehren bei den Betroffenen die grausamsten Erfahrungen oft wie gestern erlebt wieder. Und – das sagt die Trauma-Psychologie – oft braucht es, wenn die Betroffenen es denn erleben, 50 Jahre, um über bestimmte Dinge sprechen zu können.

Warum „Wolfsmädchen“?

Der Titel „Wolfsmädchen“ wurde von Hardinghaus für sein erneut mutiges und zeitgeschichtlich bestens eingebettetes Buch nicht erfunden, der Name ist eine Präzisierung des gebräuchlichen Begriffs „Wolfskinder“. Gemeint sind – früher in Anlehnung an das Rom-Gründer-Brüderpaar Romulus und Remus – Kinder, die wie Wölfe durch Wälder streifen, um – zumeist elternlos – zu überleben. In der jüngeren Geschichte sind damit Heranwachsende gemeint, die – vertrieben oder geflüchtet aus Königsberg – ab Frühjahr 1945 wie hungrige Wölfe durch Polen und Litauen streunen, um zu überleben.

Die verlorene Generation
Hardinghaus über die Kindersoldaten des Zweiten Weltkriegs: „Sie hatten keine Chance“
Apropos Königsberg, die heutige russische Enklave Kaliningrad: Die Stadt Immanuel Kants, die vormals prächtige Residenzstadt und Hauptstadt der Provinz Ostpreußen mit ihren 360.000 Einwohnern (Stand: 1939; Mai 1945: geschätzt 110.000) war eine der größten Städte im damaligen Deutschland. Sie galt bis in das Jahr 1944 hinein – da zunächst kaum von westalliierten Bombern erreichbar – im wahrsten Sinn des Wortes als bombensicherer „Luftschutzkeller Deutschlands“

Die Forschung geht von bis zu 35.000 „Wolfskindern“ aus, die allein oder in kleinen Gruppen durchs Land zogen. Etwa 20.000 von ihnen gelang wohl, zumindest zeitweise, die Flucht nach Litauen. Mit Betteln, Schuften, Stehlen, Schlafen in Ställen und vor allem in Wäldern versuchten sie allein, in Gruppen oder in Begleitung der Mutter zu überleben. Im Winter stets einem Tod nicht nur der Mordlust alkoholisierter russischer Soldaten und dem Verhungern, sondern auch dem Erfrieren ausgesetzt. Dort waren sie zum Teil von Bauern unter Lebensgefahr versteckt, oft immerhin für ein paar Tage ernährt worden. Erwischen durften sich die Bauern dabei nicht lassen, denn es war von den Russen unter Androhung der Exekution oder der Deportation nach Sibirien verboten, die Vokietukai (litauisch: kleine Deutsche) bzw. „Faschistenkinder“ aufzunehmen. Am ehesten überlebten die kleinen Kinder, die sich in Litauen rasch anpassten, Litauisch lernten und ihren deutschen Hintergrund vergaßen. Einige Überlebende bauten sich dort ein Leben auf. Etwa 200 siedelten nach Deutschland um.

Ein deutsches Schicksal

Nun also das „Wolfsmädchen“ Ursula – Untertitel: „Flucht aus der Königsberger Hungerhölle 1946“. Es ist auf den ersten Blick „nur“ eine ehrliche, anschauliche Reportage über das ganz individuelle Schicksal eines einzelnen Mädchens, einer einzelnen Frau. Bei auch nur etwas näherer Betrachtung stellt sich aber sehr schnell heraus, dass dieses Schicksal ein wahrlich deutsches Schicksal ist, wie es Zigtausende am Ende des Zweiten Weltkrieges und in den Jahren danach erlebten und nur sehr wenige angesichts der apokalyptisch-mörderischen Umstände überlebten.

Ursula Buttgereit (nach ihrer Heirat Ursula Dorn) wird am 19. April 1935 im ostpreußischen Königsberg geboren. Heute ist sie 87 Jahre alt. Allein die Lebensdaten ihrer engsten Familienangehörigen lassen erahnen, ja sie dokumentieren schließlich, dass diese Ursula eigentlich gar nicht überleben hätte können. Mutter Martha (1911 – 1981) und Bruder Heinz (*1936) überleben zwar auch. Aber die Geschwister Fritz (1937 – 1946), Erika (1939 – 1946) und der halbeheliche Bruder Horst Günter (1944 – 1945) kommen sehr früh um. Nicht durch Waffengewalt oder im Bombenhagel – nein, sie verhungern. Vater Fritz Buttgereit (geboren 1906 in Königsberg) stirbt am 8. Mai 1946 in russischer Gefangenschaft.

Ein Schicksal, wie es Millionen Deutsche erfahren mussten? Ja und nein. Denn bei Ursula geht es um eine von geschätzt 25.000 Heranwachsenden, die das Ende des Krieges und die Jahre danach als „Wolfskinder“ überlebten. Oft nur vorläufig, denn die allermeisten fanden in den Monaten nach Kriegsende im ehemaligen Ostpreußen beziehungsweise im heutigen Litauen einen zumeist schrecklichen Tod.

Interview
Zeitzeuginnen einer verratenen Generation
Es sind auch gar nicht so sehr die biographischen Stationen, die Ursulas Lebensweg so überaus interessant und beängstigend spannend machen. Wir skizzieren als strukturierende Lesehilfe für den interessierten Leser Ursulas wichtigste Wegmarken: 1941 – 1944 Volksschule für Mädchen Königsberg; Mai/Juni 1945 Todesmarsch um Königsberg; dann ein „Leben“ als „Wolfskind“/“Wolfsmädchen“ von Februar 1946 bis Oktober 1948 in Litauen; im November 1948 Quarantänelager (Siebenborn) in Eisenach (SBZ, spätere DDR); November 1948 – Juli 1949 Besuch der Volksschule Weißbach (Thüringen); Ende 1949 bis März 1953 Ausbildung zur Knopfmacherin in Weißbach; ab 1953 Stelle als Haushaltshilfe und dann als Näherin in Schmölln bei Gera; 6. November 1953 Flucht mit Mutter Martha aus der DDR; am 4. Oktober 1958 Heirat mit Klaus Dorn; September 1959 Geburt von Sohn Klaus; 1972 Umzug nach Weißenborn bei Göttingen und Hausbau; bis 1992 tätig bei Carl Zeiss in Göttingen.

Das tägliche Grauen

Das ist die äußerliche Vita. Kaum fassen kann man Ursulas Erlebnisse als Kind(!), die Autor Hardinghaus sachlich und ohne jede reißerische Ausschmückung berichtet bekommt: zerfetzte Leichen, Hunderte, ja Tausende an Hungertoten auf Straßen, in Straßengräben, in Flüssen; das ständige lebensgefährliches Fliehen zu Fuß oder versteckt in einem Güterwagen auf der 250-Kilometer-Strecke zwischen Königsberg und dem litauischen Kaunas; systematische Vergewaltigungen, sogar von Mädchen und Greisinnen, oft im Beisein von nächsten Angehörigen, Suizide zum Schutz vor weiteren Vergewaltigungen; Essen von Pferde-Aas, und auch: Kannibalismus …

Es ist grauenhaft, davon selbst nach 77 Jahren zu lesen. Und doch bleibt als kleiner Trost: Hier hat ein Kind – seine Kraft heißt heute wohl „Resilienz“ – wie durch ein Wunder ins Leben zurückgefunden und später eine äußerlich recht „normale“ Vita erlebt. Dass Königsberg Ursula nie losließ – wie könnte es anders sein. Im Jahr 2000 ist die 65-jährige denn auch dort hingereist. Es war ein Horrortrip für sie. Im Juli 2022 reiste sie zusammen mit ihrem Sohn nach Litauen; Ursula wusste, dass ihre Reise zum dortigen „Wolfskindertreffen“ ein Abschied werden würde. Da wuchs sie dann vermutlich souverän über sich und über ihre Traumata hinaus.

Christian Hardinghaus, Das Wolfsmädchen. Flucht aus der Königsberger Hungerhölle 1946. Europa Verlag, 256 Seiten, 22,- €.


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