Tichys Einblick
Erst Gleichheit, dann Freiheit?

Das Schwindelgefühl der Freiheit

»Die Deutschen wollen stets mehr, als sie kriegen können, und haben am Ende immer weniger, als sie bekommen könnten.«

Der Wert der Freiheit steht immer in Konkurrenz zu anderen Werten. In Deutschland aber ist selbst die Erkenntnis umstritten, dass ohne Freiheit alle anderen Werte nichts sind. Warum das so ist? Es hat mit der deutschen Neurose zu tun. Siegfried Lenz hat 1981 in einem Artikel des Osloer Dagbladet in Anlehnung an Kierkegaard die Angst als »Schwindelgefühl der Freiheit« bezeichnet. »Die Bitte, von der Angst (…) befreit zu werden, wird an die Politik adressiert (…), die soll ein Zeitalter der Angstlosigkeit herbeiführen«, ja es werde, ein »Anspruch auf Angstlosigkeit« postuliert, den eine freiheitliche Demokratie natürlich niemals erfüllen kann. Und das ist auch der Grund dafür, dass sich Deutschland so schwer damit tut, eine liberale Gesellschaft zu sein, in der der Einzelne das Maß aller Dinge ist. Nur Individuen können frei sein, nicht Kollektive.

Mit dem Wachsen der Angst einher geht die Entropie der Freiheit. Denn Freiheit gibt es nicht ohne Wagnis. Die Ängste vor der Zukunft führen immer zur Sehnsucht nach Bindung. Die Vergötzung des Staates ist nicht überwunden. Sie hat sich nur gewandelt. Es ist der Nanny-Staat, der heute kritiklos akzeptiert wird. Es ist der Wohlstand, der mit Freiheit verwechselt wird. Das kommt daher, dass in Deutschland die negative Freiheit mehr zählt als die positive. Nicht die Freiheit zu, sondern die Freiheit von. Freiheit als Erlösung von allen Übeln.

Die bürgerliche Revolution: es geht um Freiheit oder Sozialismus
»Die größte Kulturleistung der Europäer im zwanzigsten Jahrhundert ist der Sozialstaat!«, meinte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt. Auch wenn der Sozialstaat keine Erfindung des 20., sondern des 19. Jahrhunderts ist, hat er damit nicht unrecht. Aber keine noch so segensreiche Erfindung ist gefeit vor Fehlentwicklungen und Übertreibungen. Hinzu kommt: In Deutschland herrscht ein größerer Konformitätsdruck als in anderen europäischen Demokratien. Die »Schweigespirale« der Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann bringt diesen Mechanismus auf einen schlüssigen Begriff. Aus Furcht vor Isolation halten die Bürger lieber ihren Mund, als ihn sich zu verbrennen. So erzeugt Schweigen nur immer noch mehr Schweigen. Zwei traumatische Ursachen verstärken in Deutschland den Konformitätsdruck: »Zum einen ist Deutschland Teil jener westlichen Welt, in der bestimmte Gruppen – radikale Feministinnen etwa – auf spezifischen Themenfeldern rigorose Korrektheitsvorgaben für den öffentlichen Diskurs durchzusetzen versuchen. (…) Deutschland ist aber auch und vor allem ein Land, das eine Vergangenheitslast von monströsem Gewicht trägt. Das Zusammenwirken beider Faktoren schafft ein Diskussionsklima ganz eigener Art – ein Klima, das einschüchtert.«

Deshalb gilt heute: Erst Gleichheit, dann Freiheit. Die Deutschen kennen nicht soziale Freiheit (nicht einmal der Begriff ist ihnen vertraut), sie reden nur unentwegt von sozialer Gerechtigkeit. Soziale Unfreiheit wird in Deutschland als natürlicher Zustand empfunden, soziale Freiheit dagegen als Zumutung, als gesellschaftliche Kälte. Die Deutschen verlangen noch mehr, nämlich »gefühlte Gerechtigkeit«. Wettbewerb wollen sie schon akzeptieren, aber der Neid verfolgt die Gewinner. Dies ist der Kern der deutschen Sozialutopie. Unfrei ist nicht der, dessen Gleichheitsbedürfnis verletzt wird, sondern vor allem der, der spürt, dass er aus eigener Kraft an seiner Lage nichts ändern kann.

Zu den Lieblingsillusionen der Deutschen zählt der Glaube, sie seien das Volk der Dichter und Denker und ihre Bildung sei daher unzerstörbar. Jahrzehntelang sonnten sich die Westdeutschen in der Vorstellung, deutsche Schulen und Hochschulen seien weltweit konkurrenzfähig. Doch haben es die Kinder einfacher Leute schwerer, mittels Bildung aufzusteigen. Sozialpolitik aber taugt wenig, wenn sie nur dafür sorgt, die Hoffnungslosigkeit materiell erträglicher zu machen. Die Gerechtigkeitsdiskussion ist sinnlos, solange der Staat soziale Benachteiligung nicht mit Aufstiegschancen beantwortet. Ein moderner Staat steckt sein Geld in Fahrstühle. Die Deutschen bauen stattdessen die Keller aus.

Der Anteil der Abiturienten und Studenten steigt, das Bildungsniveau sinkt. Das ist nicht allein Schuld des Bildungssystems. Eine zu Tode unterhaltene, medial verblödende Mehrheit führt nicht nur in bildungsfernen Milieus zu einer neuen Form der geistigen Verwahrlosung. Kulturelle Klassenschranken sind in Deutschland schwerer zu überwinden als soziale. Diese Spaltung zählt in Zukunft nicht weniger als die ökonomische.

Eine andere Einwanderungspolitik vonnöten
Wettkampf um die Klugen – wo steht Deutschland?
In diesen Untergeschossen der deutschen Gesellschaft steckt auch das eigentliche Zuwanderungsproblem. Jahrzehntelang führte die Weigerung, Migration aktiv und zum Nutzen des Landes zu gestalten, zu einer ungeregelten Form der Einwanderung. Millionen ungebildeter Türken igeln sich in ihrer Parallelgesellschaft ein und belasten die Sozialsysteme. Ein Viertel aller Ausländer lebt von Arbeitslosengeld und anderen Sozialleistungen. Deutschland prämiert hohe Geburtenraten in der kulturell fremden Unterschicht. Diese Kinder lösen nicht das demografische Problem, sondern verstärken es. »Deutschland hat mithin nicht nur zu wenig Nachwuchs, sondern selektiert die hier Geborenen und die von draußen Zuwandernden immer stärker in Richtung Bildungsferne«, so der Demograf und Soziologe Gunnar Heinsohn.

In den frühen Jahrzehnten der Bonner Republik gelang Millionen von Menschen der soziale und gesellschaftliche Aufstieg. Das Elend von Flucht und Vertreibung wäre anders gar nicht zu bewältigen gewesen. Millionenfacher Aufstieg, nicht einfach nur Wohlstand, war der Motor der jungen Demokratie. Aufstieg war einmal der Normalfall, heute ist er die Ausnahme. Dies führt zu einem weit verbreiteten Gefühl von Ohnmacht in der Unterschicht, zu Abstiegsängsten in der Mittelschicht. Nicht Ungleichheit verletzt, sondern das Gefühl, an der eigenen Benachteiligung nichts ändern zu können. Hier werden individuelle Freiheitschancen abgeschnitten. Deutschland ist keine Aufstiegsgesellschaft mehr.

Die Demokratie lebendig zu halten, ist die Hauptaufgabe der Parteien. Dazu zählt, den bestmöglichen Nachwuchs zu rekrutieren. Doch viele der Besten gehen lieber in die Wirtschaft. Und die Besten in den Parteien setzen sich nicht unbedingt durch. Dies ist zweifellos eine wesentliche Schwachstelle nicht nur der deutschen Demokratie. Der Politikerberuf ist dadurch in eine Sackgasse geraten. Auch das berufliche Freiheitsverständnis der meisten Politiker ist beschädigt. Schuld daran ist auch die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der Abgeordneten über Listen ins Parlament kommen, die ausschließlich von Funktionären der Parteien zusammengestellt werden. Staat und Parteien werden in zunehmendem Maße von Funktionscliquen beherrscht, die Politik überwiegend mit einem einzigen Ziel betreiben, dem ihrer eigenen Karriere.

Krasses Unwissen in der Politik
Wachstum durch Schulden macht nicht krisenfest, sondern untergangsreif
Die erste Frage lautet in Deutschland immer noch: Wie viel Geld braucht der Staat? Die erste Frage müsste lauten: Gibt der Staat das Geld für das Richtige aus? Nur ein Zehntel des Bundeshaushalts dient Zukunftsinvestitionen. Alle Parteien fordern inzwischen einen starken Staat. Stark aber ist nicht der Staat, der seine Bürger zu Tode reglementiert und finanziell stranguliert, sondern der leistet, was nur er leisten kann. In Deutschland leistet der Staat vieles, was die meisten Bürger besser könnten, wenn der Staat ihnen das Geld dazu ließe. 53 Prozent der Bruttoeinkommen gehen in öffentliche Haushalte – der Durchschnitt liegt bei weniger als 42 Prozent in der OECD. Trotz steigender Gehälter bleibt den meisten Deutschen heute weniger als vor 20 Jahren.

Auch ein starker Staat kann ein selbstbestimmtes Leben nicht garantieren. Der deutsche Sozialstaat macht Bürger zu sozialen Untertanen. Er ist überwiegend damit beschäftigt, den Missbrauch von Freiheit aufzuspüren und zu ahnden. Auch ein guter Teil der Meinungsindustrie lebt von Empörung über Fälle von Freiheitsmissbrauch. Der gute alte Blockwart der Nazis und der Abschnittsbeauftragte der DDR genießen heute Kolumnistenstatus in der Boulevardpresse. Sie gestalten Magazine im Fernsehen oder zensieren im Staatsauftrag Meinungsbeiträge im Netz. Was Abgeordnete nebenher verdienen, interessiert allemal mehr als das, was sie leisten. Freiheit, die nicht missbraucht werden kann, ist aber keine Freiheit.


Leicht gekürzter Auszug aus Wolfgang Herles, Die neurotische Nation. Die Bundesrepublik vom Wirtschaftswunder bis zur Willkommenskultur. Edition Tichys Einblick im FBV, 320 Seiten, 22,99 €.


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